Dominik Drutschmann

5 Minuten Stadt

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5 Minuten Stadt

Kurze Szenen in Form von Mini-Reportagen. Die Texte kitzeln die Seele des Großstädters, halten ihn zum Innehalten an. Jeden Samstag im Tagesspiegel. Gesammelte Werke von 2013 bis heute.


Erschienen am: 07.08.2021 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Halb voll

Freitagnachmittag in Neukölln, Braunschweiger Straße. Das Glas ist halb voll, die Trinkertraube vor dem Späti auch. Sie alle scheinen genau die richtige Menge Bier getankt zu haben. Lachen und Johlen. Keine Zankereien, keine Aggressionen. Besser wird der Tag für sie nicht mehr. Von hier an bergab heißt ja auch, dass man gerade ganz oben ist. Von links kommt ein Rollstuhlfahrer in die Säuferglückseligkeit. Am Bordstein wird es kurz kompliziert. Vorwärts oder rückwärts, wie kommt er da besser hoch? Die Lösung kommt mit ruppiger Freundlichkeit aus der Trinkertraube. Das haben wir gleich. Beherztes Zugreifen. Für Widerworte keine Zeit. Geht nicht ganz reibungslos, aber umgefallen ist auch niemand. Das muss man hier schon als Erfolg werten. Der Helfer steht vor dem Rollstuhlfahrer auf dem Gehsteig und weiß nicht so recht wohin mit sich. Seine gute Tat ist vollbracht. Aber er hätte noch Kapazitäten, das sieht man. Der Rollstuhlfahrer bedankt sich, der Trinker weist alles von sich. Ist doch selbstverständlich. Man muss sich doch helfen hier im Kiez. Haben’s doch alle nicht leicht. Der Rollstuhlfahrer legt den Kopf schräg. Schaut kurz hoch, dann an sich selbst herab. Beide Beine auf Höhe der Knie amputiert. Der Trinker ist viel zu gut drauf, den Schrägstand in seiner Draufsicht zu bemerken. Zum Abschied knufft er den Rollstuhlfahrer in die Seite: „Gute Besserung!“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 27.02.2021 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
DER SHERIFF VON NEUKÖLLN

In der U7 kommt die Erkenntnis: Diese Zeit geht auch an mir nicht spurlos vorbei. Gegenüber steht gut einen Meter entfernt ein Mann – Maske unterm Kinn – und mampft Chips. Ein paar Krümel haben sich in den Fransen der OP-Maske verhangen, die er etwa im März letzten Jahres aufgesetzt haben muss. In mir regt sich nichts als Resignation. Draußen wird es nicht besser. Auf der Karl-Marx-Straße herrscht Maskenpflicht. Außer mir und der Rollatoren-Frau hält sich niemand daran. Wir schauen uns an, seufzen mit den Augen. Wann hat das eigentlich angefangen, dass ich mich nicht mehr über diese verdammten Maskenverweigerer aufrege? Ich weiß es nicht. Das vergangene Jahr – ein einziger Corona-Klumpen. Doch der wird jetzt gelöst. Ausgerechnet in den Neukölln Arcaden steht sie. Nicht viel größer als 1,60 Meter. Die Haare zum Zopf, damit sie alles im Blick hat. „Du“, ruft sie „Maske auf, verdammt!“ Der Mann – Trägertyp Karl-Heinz Rummenigge – erschreckt sich so sehr, dass seine Nase wie automatisch unter der Maske verschwindet. Zwei Jungs halten sich ihre Schals vors Gesicht. Aber nicht mir ihr. „Raus!“ Sie schreit ohne die Contenance zu verlieren. Die Jungs wollen etwas erwidern, aber ihr Finger gibt so unmissverständlich die Richtung vor, dass sie sich fügen. Neukölln hat einen neuen Sheriff. Und ich mein Krafttier.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 18.07.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
MAL SO GEFRAGT

Seit Jahren setzt er der latent genervten Grundstimmung im Discounter an der Flughafenstraße seine Hemdsärmeligkeit entgegen. Er gehört zu der Sorte Mensch, die man kennt, ohne sie zu kennen. Es würde sich etwas im Hirn verhaken, sähe man ihn außerhalb seines Habitats, der Lidl-Kasse. Er ist der gelb-blau gekleidete Gute-Laune-Bär. Gerade noch hat er mit seinen Bratpfannenhänden meine Einkäufe in den Wagen geschaufelt, da lächelt er schon die nächste Kundin an, Mitte 20 vielleicht, braune Haut. Der Kassierer kübelt schon wieder Freundlichkeiten und Belangloses über sie aus, da hält er inne, die Tomaten vor dem Barcodescanner, der Blick konzentriert. „Ich muss jetzt mal was fragen“, sagt er, „Erlebst du Rassismus?“ Die Frau schaut ihn an, versucht einzuordnen, was hier gerade passiert. Provokation oder Interesse? „Äh, natürlich!“, sagt sie. Der Kassierer jetzt in Rage: „Echt? Hier in Neukölln?“ Sie schaut ihn wieder an. Ihr Blick fragt: Will der mich verarschen? Liest der keine Nachrichten? Die Nazis fackeln hier Autos von Politikern ab. Sie holt Luft, schaut ihm direkt in die Augen und sagt: „Ja. Überall.“ Für einen Moment ist nur noch das Piepen des Barcode-Scanners zu hören. „Scheiße. Das tut mir leid“, sagt er. Sie lächelt ihn an. „Danke.“ 
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Erschienen am: 28.06.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
GRASSWEGE EINER STADT

25 Stufen verbinden die Reuter- mit der Mainzer Str. Neben dem geplanten Weg hat sich der Mensch einen Alternative gebahnt, die sich parallel zum Asphaltierten tief in die Erde gegraben ist. Am Ende dieses Weges sitze ich mit einem Freund auf einer Bank, Geburtstagsdrink in Zeiten von Corona. Von nebenan die Kontaktaufnahme: „Sorry Jungs,“ sagt er, „aber ist das immer so, dass hier alle einfach so kiffen?“ Kurzes Umblicken und Tatsache: Es wird gekifft. Grasgeruch dringt hier in der Ecke ebenso häufig in die Nase wie der von Kaffee. Da vergisst man schnell, welche der beiden Drogen illegal ist. Nicht so der neue Bekannte. Der staunt. Er komme aus Duisburg, seine Frau sei hier in Berlin aufgewachsen. Er musste mal raus, war ihm zu voll bei der Familie, die jetzt auch seine ist. Er zieht an seinem Joint und erzählt: Wegen des Kiffens habe er den Führerschein verloren. MPU, Drogentests, die ganze Scheiße. Jetzt aber hat er einen Weg für sich gefunden. Er ist Cannabis-Patient. „Ich bin die Tinnitus-Schiene gefahren“ sagt er. Fiepen auf dem Ohr vortäuschen, von Arzt zu Arzt gereicht werden, sich möglichst dumm stellen – so sein Erfolgsrezept. Ein Jahr hätte das gedauert, teuer sei es auch gewesen. Er blickt sich um und in seinem Gesicht manifestiert sich die Erkenntnis: Verdammt, es hätte einen anderen Weg gegeben, den Weg nach Berlin.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.05.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
WIMMELBILD DER WAHRHEIT

Der Reuterplatz in Neukölln in Coronazeiten: eine Melange aus Berufstrinkern, Großfamilien und kinderlosen Akademikern vereint auf wenigen Quadratmetern Grünstreifen. Der Sahara-Imbiss an der Ecke versorgt die Leute mit Falafel in Erdnusssauce, der Späti nebenan mit allem anderen. Von der Parkbank unweit des Brunnens hat man einen guten Blick auf das Geschehen. Erst durch die Andersartigkeit des Einzelnen entsteht das bunte Gesamtbild. In die vermeintliche Idylle klatscht der Körper eines Mannes auf die Motorhaube eines parkenden Autos. Rudelbildung, Fäuste treffen Gesichter, jemand hält einen Ast wie ein Schwert vor der Brust. Ein Wimmelbild der Gewalt, Ursache ungeklärt. Von der Prügelei völlig unbeeindruckt spielen zwei Kinder auf der Wiese, einzig eine Hecke als Gewaltentrennung zwischen ihnen und dem Exzess. Links Kinderlachen, rechts Männerbrüllen. Zwei Teile, die nicht zusammenpassen wollen, obwohl sie zum gleichen Puzzle gehören. Ein Mannschaftswagen der Polizei beendet den Tumult. In die Stille drängt sich der Gedanke an meinen Opa. Der hatte eine Kneipe im Ruhrgebiet. Dort saß die Welt an seinem Tresen und trank. Wenn Alkohol das Schmiermittel der Gesellschaft ist, gehört zur Wahrheit auch, dass zu viel davon die Hand ausrutschen lässt. Im Gegensatz zur Romantik ist die Realität selten eindeutig. Sie ist schön und schlimm, manchmal sogar gleichzeitig. Wie hier am Reuterplatz.
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Erschienen am: 18.04.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
VERDAMMTE GENÜGSAMKEIT

Im Saunabereich der Turngemeinde Berlin gelten zwei Regeln: Schnauze halten und nicht aufs Holz schwitzen. Auch schon vor Corona sollte jeder seine Ausdünstungen ins eigene Handtuch absondern. Die bestätigende Ausnahme kommt im Körper eines Ü80-Jährigen daher. Er steht auf der Saunabank, Schweiß tropft aus jeder Pore, das Holz unter ihm färbt sich dunkel. Niemand sagt etwas. Nach der Dusche sitzt der Alte in der Umkleide, die Lebenserfahrung tief ins Gesicht gezeichnet. Er schaut mich an, während er Körperlotion großflächig über seinen Kopf entleert. „Ich hab eine Wohnung verkauft. 90.000 Euro.“ Er hält inne, ein Blick wie eine Blutgrätsche, die Körperlotion läuft das welke Fleisch hinunter. „90.000 Euro und weißt du, was die Scheiße ist?“ Ich weiß es natürlich nicht. „Dass die Scheiß-Kohle jetzt so rumliegt.“ Er schüttelt den Kopf, greift in seine Sporttasche und holt eine Malerrolle heraus, Typ: filigrane Eckenarbeit. Er schaut mich weiter an, milder jetzt, vielleicht auch resigniert und beginnt, die Körperlotion mit der Malerrolle vom Kopf gen Süden zu verteilen. Renovierungsarbeiten am eigenen Körper. Dazu eine Lebensweisheit. „Das schlimmste am Alter ist die verdammte Genügsamkeit“, sagt er. Früher, da hätte er die Kohle nur so rausgehauen. Und jetzt? Jetzt wolle er nichts mehr. Auch, weil er nicht mehr könne. Er verreibt die letzten Überbleibsel der Lotion auf seinem Rücken. „Junge“, sagt er zum Abschied, „mach‘s gut.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.12.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
KEIN DÖNER LAND IN DIESER ZEIT

Neukölln an einem Donnerstagvormittag. Der Lidl an der Ecke Flughafenstraße hat sich hübsch gemacht. Wiedereröffnung. Sogar der Security-Typ strahlt. Einkaufen war dort auch früher ein Erlebnis. Vielleicht wird es jetzt ein erfreuliches. Also rein und staunen. Gut ausgeleuchtete Discounter-Südfrüchte, dazu vegetarische Burger-Pattys aus Eigenproduktion, hinten links die Deluxe-Produkte-Ecke. Von dort droht jetzt Ärger im neuen Einzelhandelsparadies. Eine Mutter, Hidschab und Hackenporsche, zerrt ihre Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, in Richtung Ausgang. Die aber stockt in ihrer Empörung. Sie packt den angefangenen Döner in die Alufolie, als ob sie versuchen würde, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Mutter zerrt, die Tochter klagt: „Seit wann darf man in Lidl kein Döner essen?“ Und dann: „Ist Lidl jetzt High Society oder was?“ Die Umstehenden: vereint im Lachen über die rechtschaffene Empörung, über die Absurdität des schönen Schein. Komik war immer schon das schärfste Schwert der Unterdrückten. Und auch im neuen Glanz des Lidl funktioniert es. „Ach komm“, sagt die Verkäuferin zum Mädchen, „iss deinen Döner“.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.09.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Erde so frisch

Dienstagnacht im Sandmann in Neukölln. Hinten ist schon das Licht aus. Das ist jetzt wirklich das letzte Glas. Zum Abschied holt die Bardame einen Flyer hervor, darauf der Hund, der immer im Eingangsbereich lag. Eine Traueranzeige. Der Hund ist tot. Vor der Kneipe, am Stamm der Weide, zwei in Plastikhüllen verpackte Fotos. Wieder der Hund, die Augen rot von Herrchens Fotoblitz.Irgendwer hat Blumen gepflanzt, die Erde ist noch frisch. Plötzlich steht eine Frau neben mir, Ende 50, lange Zigarette, Hund an der kurzen Leine. Bestürzung im faltigen Gesicht. „Das war doch der Spock“, sagt sie. „Wie bitte?“ „Das war der Hund von dem Mann, der da immer am Tresen saß. Und jetzt tot.“ Sie beginnt zu schluchzen, „schlimm ist das“. „Aber der Mann lebt noch“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ja“, sagt sie, die Tränen laufen, „aber das ist immer so: Erst Hund, dann Herrchen. Das dauert nicht mehr lange. Und dann ist der auch tot – schlimm ist das.“ Wie verweilen einen Augenblick, schauen stumm auf die Weide, auf die Fotos in den Plastikhüllen, die frischen Blumen. „Aber Ihrem Hund geht's gut?“, frage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und sagt nur ein Wort: „Krebs.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ordnungshüter

Ein Montagmittag an der Kreuzung Hermannplatz. Die Linksabbieger sind durch, die Autos auf der Hermannstraße stehen noch wenige Sekunden. Ein Mann um die vierzig, offener Mantel, fettiges Haar, überquert die Straße bei Rot. Was er nicht gesehen hat: dass hinter ihm ein Polizist in Hundertschaft-Kampfmontur steht. Dieser ruft ihm hinterher: Hallo! Keine Reaktion. Da überquert der Beamte nun ebenfalls die Straße, was er nicht gesehen hat: dass die Autos von der Hermannstraße jetzt Grün haben. Vollbremsung, Hupkonzert. Der Polizist hebt die Arme, als wolle er sagen: "Verdammt, ich mach hier nur meinen Job." Auf der anderen Straßenseite empfängt ihn eine junge Mutter mit Kinderwagen und Vorwürfen. "Sie sind ja ein tolles Vorbild." Ignorieren, weiter dem Rotgänger nach. Auf Höhe McDonald’s kann der Hüter der Ordnung ihn stellen. Er redet auf ihn ein, der ungewaschene Schopf nickt verständig. Was der Polizist dabei nicht sieht: dass er auf dem Radweg steht. Zwei Radfahrer halten auf ihn zu, klingeln und pöbeln. Der Polizist will hinterher, hat zu Fuß aber keine Chance, bricht nach wenigen Metern ab. Der Rotsünder hat sich indessen entfernt. Die Grünphase ist wieder vorbei, die Straße noch frei. Für einen Moment überlege ich, hinüberzugehen. Aber das will ich dem armen Mann nun wirklich nicht antun.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Imbisspolizei

Ein Mittwochnachmittag um halb fünf an der Hasenheide. Der verdammte Job hat länger gedauert, der Kollege und ich müssen jetzt dringend zu Mittag essen. Sonst ist die Laune im Keller. Bei Hamy, dem Vietnamesen, ist es übervoll, also zum Mitnehmen. "Können Sie bitte draußen warten?", fragt der Kellner. Eigentlich ungern, aber gut, jetzt nicht auch noch Streit anfangen. Stattdessen vor der Tür eine rauchen. Zwei Polizisten gehen an uns vorbei, direkt in den Imbiss. Die Zigarette ist noch nicht aufgeraucht, da kommen die beiden wieder heraus, in der Hand eine Plastiktüte mit Essen. "Entschuldigung", rufe ich ihnen hinterher, "aber haben Sie vorbestellt?" Nein, sagen sie, hätten sie nicht, das sei ganz schnell gegangen. Kippe aus und rein in den Laden. "Werden Bullen hier bevorzugt oder was?" Der Mitarbeiter schaut erst mich an, dann auf seinen Zettel - und wieder hoch. Ich will gerade erneut ansetzen, da rennt der Kellner an mir vorbei auf die Straße. Ich hinterher. Der Polizeiwagen ist gerade am Ausparken, der Kellner klopft an die Scheibe, die Tür öffnet sich, und er entwendet den Beamten das Essen. Lachend kommt er zurück und drückt mir die Tüte in die Hand. "So geht’s ja nicht", sagt er und geht wieder in seinen Laden. Das Polizeiauto passiert uns, die Gesichter im Innern sehen hungrig aus.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.03.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kann bassieren

Ein früher Dienstagnachmittag. Das Visum für Russland liegt zwar bereit, erfahre ich am Telefon, aber für heute hat die Pass- und Visastelle in Mitte schon geschlossen. Morgen wieder, werde ich vertröstet. Das Problem: Ich bin viel zu spät dran, wie immer. Und schon morgen geht mein Flug. Nach minutenlangem Bitten und Betteln kommt der kulante Vorschlag: "Na, dann kommen Sie ausnahmsweise heute um 15 Uhr vorbei." Da stehe ich also vor der Glasscheibe und versuche der Dame am Empfang den Sachverhalt zu erklären. "Ich möchte meinen Pass abholen und soll in Zimmer 0.3.05 gehen." "Ich darf Sie nicht alleine durchs Gebäude gehen lassen", lautet die Antwort hinter der Scheibe. "Na, dann stellen Sie mir jemanden zu Seite", schlage ich vor. "Der war gut", sagt die Empfangsmitarbeiterin. Sie lächelt nicht, greift aber zum Telefonhörer. Warten. Nach etwa zwei Minuten eilt eine Frau auf uns zu, den Pass in der Hand. "Was soll das denn? Ich habe für soetwas keine Zeit", ärgert sich die Frau mit meinem Pass an die Scheibe gewandt. "Warum haben Sie den Mann nicht hochgeschickt?" Schulterzucken. Die Frau übergibt mir den Pass und geht ab. Die Dame hinter der Scheibe setzt zur Entschuldigung an. "Das tut mir leid", sagt sie. "Ich habe Bass verstanden. Und mich schon gewundert, wer hier Bass spielt."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 10.02.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kopf in Wand

Samstagnachmittag, vierter Stock in einem Neuköllner Hinterhaus. Die zweite Halbzeit der Bundesligakonferenz läuft im Radio, da klingelt es an der Tür. Mutti hatte sich angekündigt. Aber jetzt schon? Wollte doch noch aufräumen, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen. Schon klingelt es erneut. Tür auf und herein kommt das Chaos im Blaumann. Wasserschaden, bei der Nachbarin im Zweiten. Die Stimme laut, der Ton duldet keinen Widerspruch. Dass die verdammte Heizung dem Klempner den Samstag verhagelt, steht zwei Furchen tief in sein Gesicht geschrieben. Zehn Sekunden später balanciert er auf meinem Badewannenrand, eine Säge in der Hand. "Was machen Sie da?", frage ich. Die dritte Furche meißelt sich in sein Gesicht. "Ein Loch." Sagt er und sägt ein Rechteck in den Rigips. Aber es ist zu klein: Beim Versuch, seinen Kopf in die Wand zu stecken, bleibt er hängen. Sein Gesicht jetzt eine einzige Furche. Fluchen, nachjustieren, Kopf in die Wand. Er redet weiter, doch der Rigips verschluckt seine Worte. Kopf raus, runter in den zweiten Stock, wieder zurück, Kopf in die Wand. So geht das eine ganze Weile. Keine Ahnung, sagt er schließlich und geht. Das Bad ein Schlachtfeld, durch das Loch blickt man auf Mauerwerk. Es klingelt. In der Tür steht Mutti. "Wie sieht’s hier denn aus? Da ist ja ein Loch in der Wand! Junge, muss ich mir Sorgen machen?"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.11.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Haarige Angelegenheit

In der U8 von Osloer Straße bis Hermannplatz. Je südlicher, desto bärtiger, ab Kotti sind die Glattrasierten in der Minderheit. Zwei Jungs, nicht älter als zwölf, unterhalten sich auf Türkisch. Keine Ahnung, worum es geht. Aber dringlich ist es, zumindest für den einen. Dessen Stimme wird lauter, der Freund versucht ihn zu beruhigen und bewirkt doch eher das Gegenteil: Wut spült erste Tränen in die Augen. Der Freund fasst ihm an die Schulter, aber auch diese Berührung hilft nicht. Was hat er bloß? Die beiden diskutieren weiter. Wenn das eskaliert, sage ich zu mir selbst, werde ich dazwischengehen. Und wenn ich dafür bis zur Endhaltestelle Hermannstraße fahren muss. Nächster Halt Schönleinstraße. Vom Türkischen geht es über in eine Melange aus Landes- und Muttersprache. Jetzt hat auch der Besonnene die Schnauze voll: "Was ist denn dein Problem?" Der Freund wischt sich die Tränen aus den Augen, funkelt seinen Kumpel an, kommt ihm näher und näher, deutet dabei immer wieder auf sein Gesicht, als wolle er dem Gegenüber zeigen, wohin er gleich schlagen werde. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der beiden Streitenden. "Oglum", ruft er da, "ich habe den miesesten Bartwuchs meiner Familie." Kurzes Schweigen. "Selbst meine Mutter hat mehr." Der Freund klopft ihm auf die Schulter: "Wird schon."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.10.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Brauchst du, Bruder?

Neukölln, Reuterstraße Ecke Karl-Marx-Straße, ein Sonntagabend. Die Tankstelle, sonntags zuverlässigste Adresse für Getränke-, Tabak- und sonstige Notversorgung, ist frisch renoviert, innen bestens ausgeleuchtet. Vor der Tür, abseits des Lichtkegels, der herausfällt, steht ein Mann, gepflegter Vollbart zu ausrasiertem Nacken, und betankt sein Auto. Aus dem Nichts erscheint ein weiterer, die Jacke flattert ein paar Nummern zu groß um seinen Körper. Er hat einen Karton unterm Arm. "Bruder, brauchst du Messer?" Vielleicht gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem das völlig normal ist, Fremde beim Tanken in einen Messerdeal verwickeln zu wollen. Dieser ist es nicht. "Ich will deine scheiß Messer nicht." Vielleicht ist der Mann aus der Dunkelheit Messerverkäufer, der diese Woche seine Quote nicht erreicht hat. Und jetzt noch diesen einen verdammten Karton verkaufen muss -
Messerset, zwölf Stück. Er zieht eines heraus. "Verpiss dich", sagt der andere und geht bezahlen. Der Verkäufer, das Messer noch in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet, schaut mich an. "Bruder, brauchst du Messer?" Ich muss lachen, fast hysterisch. Das erschreckt ihn so sehr, dass er zurückweicht. Instinktiv gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Lache noch immer. Da dreht sich der Mann um, elf Messer unterm Arm, eins in der Hand, und rennt davon.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.04.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Hund

Samstagabend in einer Neuköllner Eckkneipe. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber einige Gäste sind schon ordentlich angezündet. Im hinteren Teil feiert jemand Geburtstag, unangemeldet, die Kellner sind genervt. Im vorderen Teil tummeln sich ein paar Party-Touristen, die einmal zu oft aufs Klo gehen. Von all dem unbeeindruckt liegt in der Mitte des Raums ein Hund. Es heißt, dass sich Hunde in fremden Umgebungen immer den Platz aussuchen, von dem aus sie den besten Überblick haben. Ein Instinkt, der nicht totzuzüchten ist, offenbar steckt er selbst noch in diesem Exemplar Hund, einem Dackel mit Gewichtsproblemen, der wie eine Wurst aussieht, wenn auch eine sehr unförmige Wurst. Der Hund ruht unbewegt im Epizentrum des samstäglichen Kneipenerdbebens. Teilnahmslos auch dann noch, als ein Gast ihm beim Bierholen auf den Schwanz tritt. Hund zuckt nicht, Herrchen schon. Das ist mein Hund, sagt Herrchen. Der Treter ist perplex, nimmt den Dackel jetzt zum ersten Mal wahr, Ausfallschritt passend zur Ungläubigkeit. Sein Blick löst sich erst nach einigen Sekunden vom Hund, wandert hoch zum Herrchen, ein letztes Konzentrationsaufbegehren gegen das alkoholbedingte Wegdämmern, sein Mund formt Worte: "Was der Mensch aus dem Wolf gemacht hat", lallt er, "ist eine verdammte Tragödie!"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.01.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zigarettenlänge

An einem Freitagvormittag, Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Das Kind auf der anderen Straßenseite, nicht älter als vier, im Schneeanzug, ist gerade in sich zusammengefallen. Es kniet und schreit. Blick gen Himmel, die Nase läuft, Rotze droht an der Lippe festzufrieren. Der ganze Schmerz dieser Welt, vereint auf einem Meter Wohlstandsgör.
Was es hat? Man weiß es nicht. Was es sicher nicht bekommt: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Der sitzt 50 Meter weiter im Tramwartehäuschen und raucht. Typ Waldschrat in Funktionskleidung. Doch es ist das falsche Pflaster für derlei Sorglosigkeiten in der Kindererziehung. Auftritt der Mütter. Erst auf den Jungen eingeredet, dann den Vater ins Verhör genommen. Ist das Ihr Kind? Nicken. Wollen Sie sich nicht um den kümmern? Zug an der Zigarette, Kopfschütteln. Empörung am Retro-Kinderwagen. Jetzt gerät der rauchende Vater ins Rotorblatt der Helikoptererziehung, manikürte Finger fuchteln vor seiner Nase.
Irgendwann ist auch mal gut, und das ist jetzt. Kippe weggeschnippt, aufgestanden, Ansage: "Geht mir nicht auf den Sack. Kümmert euch um euren eigenen Scheiß." Stille, auch das Kind hält inne. Die Mütter sehen so aus, als wollten sie sich irgendwo beschweren. Bloß wo? Bevor das ganze Eskalationspotenzial dieser Szene zum Tragen kommt, schlichtet das Kind: Es ist aufgestanden. Papa, komm, sagt es. Und Papa kommt. Manchmal braucht es nur eine Zigarettenlänge.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 17.09.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Ratte

Ein Dienstag in Kreuzberg. Am Hermannplatz, hinter dem Karstadt, verbindet ein Parkplatz die Urbanstraße mit der Hasenheide. Radfahrer und Fußgänger benutzen ihn als Abkürzung, zum Ärger der Autofahrer. Hinter der Schranke hupt jetzt einer, wie zum Beweis. Vor ihm steht ein Fußgänger, Anfang 20, in der Hand ein Handy, zwischen Opel und Skoda auf der Jagd nach Pikachu. Er spielt Pokémon Go.
Ich verachte sie ja, diese nach dem Mauerfall Geborenen, die als Reminiszenz an ihre Jugend mit dem Handy ihre alten Gameboy-Helden in der realen Welt suchen; dieses Abkulten der eigenen Vergangenheit, obwohl die erst ein paar Jahre zurückliegt. Wie gönne ich es dem Typen, vom Fahrer des Autos angebrüllt zu werden, ehe der wütend weiterrast in Richtung Stellplätze.
Vor der Schranke auf dem Boden ein Gulli. Zwischen den Gitterstäben, durchnässt, die Augen aufgerissen, halb im Schacht, halb an der Oberfläche, eine tote Ratte. Und plötzlich liegt genau da auch eine Kindheitserinnerung für mich. Ich denke an Splinter, die Ratte aus den "Ninja Turtles". Sofort habe ich den Titelsong im Ohr, Frank Zander, die 80er: "Immer auf der Lauer - und immer etwas schlauer."
Ein Hupen reißt mich aus der Sentimentalität. Das Auto kommt auf der Ratte zum Halten. Entgeistert sehe ich den Fahrer an - und merke gar nicht, dass ich im Weg stehe. Vollidiot, sagt er und fährt davon, geradewegs zu auf den Typen, der sein Pokémon sucht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.07.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Oma-Trick

An einem Samstagmorgen in Neukölln. Es ist kurz vor neun. Eine Frau mit Blumenkohlfrisur zieht ihren Hackenporsche in entgegengesetzter Richtung zu einem Pärchen, das sich wohl in der Nacht gefunden hat. Zumindest in der jungen Frau kommen aber jetzt offenkundig Zweifel auf, ob die Entscheidung im Licht noch standhält. Er sucht Nähe, sie Abstand. Davon unbeeindruckt steht zwischen Lidl und Bankfiliale ein Obdachloser und klirrt mit dem Becher.
Eigentlich ein guter Platz, doch der Mann ist schlecht drauf. Er schaut auf den Wahlkampfstand vor sich. Zwei Omis mit randlosen Brillen, die eine lila Haare, beide AfD. "Scheiße", sagt er, als ich ihm Kleingeld gebe, "was wollen die hier?" Es ist schlecht fürs Geschäft. Dazu noch diese miese Masche, mit freundlichen alten Damen aufzufahren. Da ist man als politischer Gegner gleich gehemmt. Alte Frauen anschreien, wie sieht das denn aus. Der Oma-Trick.
Der Schnorrer jedenfalls ist jetzt auf Betriebstemperatur. Sein Hund steigt mit ein. Ein zweistimmiges Bellen gegen rechts. "Ich werd mit den Linken nach Marzahn gehen und mich schön bei den Faschos vor die Tür setzen." - "Wuff!" Der Mann lacht auf, zwei Reihen reines Zahnfleisch. "Ich mach mit", sage ich, eine Spur zu übermütig. Das findet er so gut, dass er mir was vom Tetra-Wein anbietet. "Ein andermal", sage ich, "lass dir den Tag nicht versauen." Wieder das zahnloses Lächeln, schiefer Blick zum Stand. "Jedenfalls wird mir nicht langweilig."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.05.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Happy Meal

Im Erdgeschoss der Neukölln Arcaden an einem Samstag. Die Schlangen vor Sparkassenautomaten und Postschalter haben sich ineinander verheddert. Eine 50-Personen-Polonaise mit einem Ursprung und zwei Enden.
Dahinter ein McDonald’s, am Schalter ein Familienverbund, drei Generationen Hunger. Der Junge, vielleicht zehn, im Jogger und grauem Sweatshirt. Darauf steht Bronx, geschrieben: BRNX. Mutti trägt eine dieser Frisuren aus ihrer Jugend, also den Achtzigern, die so aussehen, als hätte jemand den Cesar-Hund aus der Fernsehwerbung blond eingefärbt und ihr auf den Kopf gesetzt. Dazu stilsicher: Leopardenprint- Oberteil, passender Gürtel, weiße Lederhose. Stiefel über der Hose. Oma sitzt auf dem Rollator, regungslos, Honecker-Brille, kein Retromodell.
Mutti kommt vom Fast-Food-Schalter. Auf den Tüten in der Hand steht Happy Meal, in ihrem Gesicht das Gegenteil. Oma wollte nur Pommes, keine Bulette. Ihr Blick sagt: Was habe ich bloß falsch gemacht? Mutti lädt den Weltfrust generationsübergreifend auf den Jungen ab: Finger weg, gegessen wird zu Hause. Und da geht’s jetzt hin.
Mutti bodychecked eine Schneise in die Polonaise. Oma hinterher: Sehen Sie nicht, dass ich behindert bin? Der Bronx-Junge fingert am Happy Meal. Und Mutti hat die Schnauze voll. "Schluss jetzt. Sonst war’s das mit Happy Meal." Die Drohung wirkt. Der Junge schmollt. Und die Polonaise sortiert sich neu.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.04.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Rausschmeißer

Samstagabend im Sandmann, Reuterkiez. Vom Tisch rechts neben der Tür hat man den besten Blick auf diese Weltklassekneipe. Ein schöner Dreischritt: Vorne am Tresen das menschliche Thekeninventar über 60 neben ein paar normalen Stammgästen unter 60. Im Zwischenraum die Hipster. Und im Billard raum das in sich geschlossene Biotop aus Kiffern und Kneipensportlern.
Nur einer schwebt an diesem Abend durch die Zonen. Sein Auftreten: eine Mischung aus Jimmy Page und Jerry García mit einer Prise Rainer Langhans. Graue Mähne, Bart, viel zu weit aufgeknöpftes Hemd, Hippie- Amulett um den Hals. Er geistert durch die Räume, sucht Blickkontakt. Wer den zu lange erwidert, bekommt Lebensweisheiten.
Er wirkt selbst hier, wo die Zeit, so gut es geht, angehalten wird, wie aus ihr herausgefallen. Ein Guru ohne Gläubige. Ein Mann ohne Mission. Bis irgendeiner ausfällig wird. Die Bardame zetert, der Guru kommt ungefragt zur Hilfe. Besänftigt, streicht mit seinen Gitarristenhänden dem Aufgebrachten über die Schulter. Er nimmt den Mann, der ihn um ein paar Köpfe überragt, an die Hand und führt in aus der Kneipe. Ein paar Minuten später kommt er wieder rein, blickt sich um, sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat seine Bestimmung gefunden. Mit dem Belohnungs- Weizen mäandert er wieder im Raum zwischen Theke und Tischen. Der Guru hat seinen Platz gefunden. Er ist jetzt Rausschmeißer.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.03.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Finger in die Wunde

Freitagabend in den Sophiensälen. Im ersten Stock laufen auf Flatscreens Erfahrungsberichte von Menschen, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Es geht um Sex, Vitrinen, Blut. Eine ganz normale Kunstausstellung an einem beliebigen Freitag. So ganz habe ich den Sinn noch nicht erfasst, da finde ich mich schon auf einer Liege wieder. Die brüchige Decke anstarren, während mir eine Wunde an den Hals geschminkt wird und sich Performer mit grünen Haaren und John-Lennon-Gedächtnisbrillen über mich beugen. Eine Art Vorspiel zum Aliensex?
Was in den Wänden der Sophiensäle normal erscheint, ist ein paar Stunden später in der U 8 ab Weinmeisterstraße eine Attraktion. Nur habe ich durch den ganzen Kunstkram und anschließenden Biergenuss völlig verdrängt, dass ich den Hals offen habe. Der Platz neben mir bleibt frei. Besorgte Blicke, Getuschel. Hä, warum eigentlich? Unangenehm! Ausstieg am Hermannplatz. Vor mir teilt sich die hineindrängende Menschenmenge. Dann die Spiegelung in der Scheibe des U-Bahn- Bäckers. Verdammt, was ist das denn? Ich fasse in die Wunde, Kunstblut am Finger. Die Leute umkurven mich großräumig. "Guck dir den besoffenen Spasti an", sagt einer. "Das ist Kunst!", rufe ich, Blut an Hals und Finger, und sehe damit ziemlich genau so aus, wie der Typ gesagt hat, völlig am Ende. Kunst, denke ich, du bockiges Pferd der Uneindeutigkeit. Für dich ist kein Raum hier am Hermannplatz.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.09.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Angelo

Freitagabend, kurz nach elf, Neukölln. Vor der Haustür steht ein Pärchen. Ich nicke zum Gruß, schließe die Tür auf, da tritt der Mann an mich heran. "Angelo?" Nö, sage ich, will weiter. Seine Hand an meinem Arm. Wo wohnst du? Hinterhaus. Welcher Stock? Vierter. Kennst du den Mann aus dem dritten Stock? Nein. Das Pärchen schaut mich ungläubig an. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Von einem Rennrad, im Internet gekauft, das sich als Schrott entpuppte. Jetzt wollen sie ihr Geld zurück, die Spur führt in mein Haus, zu Angelo. Das tut mir zwar leid, nur helfen kann ich nicht. Abgang. Im Hinterhof schließe ich mein Rad ab, da steht das Pärchen plötzlich auch dort, hinter mir durch die Haustür geschlüpft. Sie lächeln mich an. Was macht ihr hier? Wir checken nur die Lichter. Welche Lichter? Deine. Ich bin nicht Angelo, verdammt, ich heiße Dominik. Vorbei an den beiden gehe ich ins Haus, hinter mir höre ich Schritte, ich schaue hinunter. Das Paar kommt mir nach. Ich bin nicht Angelo, rufe ich. Gehe schneller, nehme jetzt zwei Stufen auf einmal. Keine Antwort. Ich schwitze. Stoisch stampfen sie auf den Stufen unter mir. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Panik kommt mir lächerlich vor. Aus dem Fenster der Blick in den Innenhof. Das Pärchen geht, na endlich. Da kommt jemand. "Angelo?", höre ich die beiden fragen. "Ihr schon wieder", sagt der Nachbar, "verpisst euch endlich." Dann geht er ins Haus. Unter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Huphass

Dienstagmittag, Hermannstraße, Ecke Flughafenstraße. Mit dem Fahrtwind auf dem Rad ging es gerade noch, jetzt aber, an der Kreuzung stehend, sengt die Sonne das Hirn zu Brei. Es wird grün. Und es hupt. Quäkend, nervig, aggressiv. Je wärmer es wird, desto häufiger hupt es auf Berlins Straßen. Der Freundin neben mir schwillt die Ader, 47 Kilo Wut klingt nicht nach viel, kann sich aber zu einem Tsunami der Verachtung hochschaukeln. Die Welle rollt, ich surfe mit auf dem Hasskamm. Also los, in die Pedale treten, dem hupenden Rollerfahrer nach. An der nächsten Kreuzung Dampf ablassen. Die Freundin: "Ey, hup mich nicht an, klar?" Der Rollerfahrer: "Ihr könnt mich mal!" Ich: "Du kannst uns mal!" Es wird grün, der Roller ab, hupend. Eine Schweißperle rinnt durch die Hassstirnfalten der Freundin. Nächste Ampel, nächste Konfrontation. "Das ist so asozial, was du da machst!" Es wird grün. Zum Abschied Stinkefinger aller Beteiligten. Wir biegen links ab in die Reuterstraße, der Roller ebenfalls. Vor meinem Haus halten wir, alle drei. Der Rollerfahrer steigt ab, guckt. Lacht. Und kommt auf uns zu. "Hallo Nachbarn! Tschuldigung, bin eigentlich nicht so aggressiv. Und selbst auch Radfahrer." Die Anonymität der Großstadt, in der Nachbarschaft nur die unmittelbarste Möglichkeit der Ignoranz bedeutet, sie löst sich gerade in Wohlwollen auf. Händeschütteln statt Stinkefinger. Grinsen statt Fluchen. Die Schweißperle auf der Stirn meiner Freundin rollt von der Hassfalte in die Lachfalte.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Durst

Samstagmittag, Wannsee, heißester Tag seit immer. Vorbei am Stadtbad zum richtigen See, Natur, unberührt. Denkste! Überall Badetücher, auf den meisten Menschen mit Bier. Sonnenbrandmotive zum Tribal auf dem Arm. Nicht mal ins Wasser kann ich flüchten, habe meine Badehose vergessen, und FKK ist nichts für meine Mutti ihren Jungen. Spaziergang also, die Gegend erkunden. Jede Einbuchtung besetzt, Handtücher als Grenze. Nach einer halben Stunde merke ich: Ich habe meine Wasserflasche vergessen. Der Wannsee ist an diesem Tag dicht wie Berufstrinker am Tresen, ein Geschäft hat aber noch niemand daraus gemacht. Kein Verkaufsstand weit und breit. Dafür ein kleines Häuschen am Wald, DLRG-Headquarter, auf der Terrasse Menschen beim Grillen. Habt ihr vielleicht ein wenig Wasser für mich? Nö, sagt einer und trinkt einen Schluck. Aber am Segelklub gibt’s was. Ab zu den Booten, durch ein Eisentor mit der Aufschrift "Nur für Mitglieder" zu einem Hausboot. Der Mann hinterm Tresen ist überrascht, jemanden zu sehen, im Kühlschrank Getränke satt. Drei Flaschen unterm Arm durch die Bucht zurück, vorbei an tausenden Sonnenanbetern. Jeder zweite fragt, woher ich die Getränke habe. Ich deute aufs Hausboot. Am Ende der Bucht drehe ich mich um. Der Steg zum Tor bevölkert von einer Horde Durstiger. Eben noch wie tot auf dem Badetuch, bewegt sich die träge Masse jetzt auf das Hausboot zu. Die Zombies vom Wannsee.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.07.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
B-U-L-L-E

Donnerstagabend, Karl-Marx-Straße, vor dem Spätkauf "Night Shop 44". Zwei Polizisten in Hundertschaft-Montur, Feierabend, endlich. Die Haare verschwitzt, den Helm in der linken Hand, rechts eine Zigarette. Neben den Neuköllner Nachtaktiven in zu kurzen Hosen sehen die beiden aus wie Robocops. Sehr müde Robocops. Hundertschaft, Scheißjob, einer muss ihn ja machen. Auftritt schwarzer Benz, schönes Auto, will gehört und gesehen werden. Vor dem Späti alle Parkplätze besetzt. Zweite Reihe parken ist Berliner Gesetz. Warnblinker an, Beifahrer springt raus, an den Polizisten vorbei. Die Miene unter den verschwitzten Haaren des einen Polizisten verfinstert sich. Er beugt sich runter, schaut durchs Seitenfenster den Fahrer an: "Du kannst hier nicht parken." "Komm schon, Bruder, ich bin gleich wieder weg." Der Polizist türkischstämmig, der Zweite- Reihe-Parker ebenfalls. Tiefer Zug an der Zigarette, funkelnde Augen: "Verdammt, ich bin nicht dein Bruder, nur weil ich ein Schwarzkopf bin. Ich bin ein Bulle, checkst du das? B-U-L-L-E!" Der Fahrer duckt sich weg, der rauchende Robocop sieht ihm fest in die Augen. Zwei stumme Sekunden vergehen, dann hebt der Fahrer die Hand: "Entschuldige, kommt nicht wieder vor." Er legt den Gang ein und ab. Der Beifahrer kommt mit Cola und Kippen aus dem Späti, sucht das Auto, sein Blick bleibt an dem Polizisten hängen. "Ich bin Bulle, verdammt." Das musste raus. Feierabend, jetzt aber, endlich.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.06.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kaboom

Samstagabend, Schöneberg, auf ein Bier in die Möwe. Einmetersechzig holzvertäfelte Heimeligkeit. Drucke vom Hamburger Hafen. Eine Möwe, überlebensgroß, hängt von der Decke. Zum Bier gibt es den passenden Bierdeckel. Ein Platz zum Verweilen. Nur zum Rauchen muss man raus. Ich schlängele ich mich am Treseninventar vorbei in Richtung Ausgang. Schon leicht angezündet kann ich mein Feuer nicht finden. Vor der Tür eine kleine Menschentraube, da wird schon einer dabei sein. Der da mit dem Hut vielleicht. Wer Hut trägt, der raucht auch. Entschuldigung, hast du Feuer? Der Hut dreht sich um. Zuckt mit der Nase, sein ganzes Gesicht runzelt. Oh Gott! Helge Schneider! Jugendheld und Quatschvorbild. Neben ihm Sergej Gleithmann, der Pina Bausch des deutschen Jazztanzes, Riesenbart zur Halbglatze. Ich merke, wie sich mein Gesicht zu einer grenzdebilen Maske verzieht. Feu-er? Ich stottere. Helge greift in die Hosentasche, zieht seine Hand hervor und lässt den Daumen hochschnellen. "Kaboom", sagt er. Vor mir sein Finger, nur sein Finger. Tu es nicht, denke ich noch, als ich mich, Kippe im Mund, zu Helges imaginärem Feuerzeug hinabbeuge und an meiner Zigarette sauge. Es dauert ein paar Sekunden, bis Helge den Daumen zurückzieht. Bitte schön. Danke, Helge. Und dann verschwinden sie in die Nacht, er und Sergej. Ich schaue ihnen nach, dem Hut und dem Bart, die Zigarette unangezündet zwischen den Lippen. Jemand tippt mich an: Hast du mal Feuer?
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.03.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Laus Kinskis Katze

Freitagabend, 19 Uhr, Karl-Marx-Straße. Feierabendverkehr trifft auf Biervorratskäufer, Vorglüher auf Kleinfamiliengroßeinkäufer. Ein Pulverfass. Ich ziehe einen Koffer mit kaputten Rollen über das Kopfsteinpflaster, sehe also aus wie der Neu-Berliner/Tourist, der den Kiez kaputtmachen will. Die Neuköllner danken es mir mit Verachtung. Ganz anders die Reaktion auf meine Begleitung, Künstlername Laus Kinski, die mich davon überzeugt hat, ihr beim Umzug in ihr neues Atelier zu helfen. Mit der Bahn am Freitagabend. Ihre Katze Motte trägt sie wie ein Baby vor die Brust geschnallt. Alter, wie süß!
Mit der U7 runter zum Ring. Beim Ausstieg trifft der Rollkoffer versehentlich das Schienbein eines Schlechtgelaunten. Seine Fratze der rechtmäßigen Empörung verwandelt sich sofort in ein grenzdebiles Grinsen, als er Laus Kinski und Motte erblickt. Innehalten, Katze streicheln, Babylaute imitieren. Alles vergeben und vergessen. Mit der S46 nach Schöneweide. Jugendliche mit Ghettoblastern und Wodka- Energy-Mischungen. Hasserfüllte Blicke auf den Rollkoffer, früh gelernt. Dann miaut Motte. "Alter, wie süß!"
Diese Katze, da bin ich mir sicher, sollte bei den nächsten Verhandlungen im Ukraine-Konflikt um den Tisch streunen. Eine Schale Milch auf den Boden, schnurren lassen, fertig. Wer den Rollkoffer- Konflikt auf Berliner Straßen befrieden kann, der schafft alles.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 03.01.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
"Och ..."

Niemetzstraße Ecke Saalestraße, Neuköllner Diaspora nahe dem S- Bahnhof Sonnenallee. Die Kneipe an der Ecke mit Leuchtschriftzug: Tiefpunkt. Ein Schnaps: ein Euro. Davor auf der Straße eine Couch. Durchgesessen und durchnässt. Die Trostlosigkeit des Berliner Winters als Stillleben. Doch was zählt, sind die inneren Werte. Rein in die Kneipe gegenüber vom Tiefpunkt. Um die Theke herum eine Traube Ganztagstrinker mit Raucherfahrung. Prösterken, auf uns.
Die Kälte da draußen und die Angezündeten im Innern, getrennt nur durch eine Scheibe. Doch dann, für einen Moment, berühren sich beide Welten. Torsten, Schnitzelhände zur Nassrasur, regt sich auf. Urplötzlich, keiner weiß, warum. Er zetert, dann ein schlimmes F-Wort. Stille. Gaby, gerade noch Herzbardame, findet das nicht gut. Raus, brüllt sie. Torstens leerer Blick füllt sich mit Unverständnis. Das darf man doch wohl noch sagen. Der Unsatz des Jahres 2014. Es hilft nichts. Torsten muss weg, da sind sich alle einig. Er tritt vor den Stehtisch - ein Baum von einem Mann kurz vor der Rodung. Die Schnitzelhände jetzt vor dem Körper, zur Ruhe mahnend. Ein Geistesblitz durchzuckt den glasigen Blick. Okay, sagt Thorsten, dann sag ich eben Fötzchen. Stille, Blick auf Gaby. Die kippt Klares. Lacht. Och, sagt sie, das find ich jut. Prösterken, auf uns, diesen Moment. Mach ruhig noch einen Kurzen zum Bier. Gegen die Welt da draußen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 04.10.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
100 000 nackte Jungs

Sonntagvormittag, Neukölln, Reuterstraße. Das Grau des Eckhauses geht nahtlos in den Himmel über. Zu viel Beton, zu wenig Liebe. Es gibt Sonntage, an denen man lieber zu Hause bleiben sollte. Jetzt kämpft das verkaterte Gemüt gegen die Realität. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht eine Frau, Mitte 40 vielleicht, die kurzen Haare liegen schlaff auf dem Schädel. Sie steht an der Fußgängerampel, wartet wohl, dass es grün wird. Sie zieht ihren rechten Schuh aus, dann den Socken, steht da mit einem beschuhten Fuß und einem nackten. Die Ampel springt auf grün, doch die Frau geht nicht, sondern vollendet ihr Werk. Linken Schuh ausziehen, Socken hineinstecken. Es wird rot, es wird grün. Ich stehe einfach nur da, die Frau kommt auf mich zu, visiert mich an. Dann sagt sie: "Ich habe schon 100 000 Jungs nackt gesehen. Herzlichen Glückwunsch." Sie geht, nackte Füße auf nacktem Asphalt, an mir vorbei und weiter den Gehsteig entlang. Dabei habe ich noch so viele Fragen. Alles an diesen beiden Sätzen fasziniert mich. Allein die Zahl. 100 000! Wie viele Jungs sind das wohl pro Jahr? Rechnet man es aus, kommt man auf 2222. Sechs pro Tag, wenn man die Dame mit den nackten Füßen auf 45 Jahre schätzt. Was aber sollte das mit dem Glückwunsch? Bin ich einer von ihnen? Eine junge Frau kommt auf mich zu, schaut mich an - und lacht. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, dass mein Hosenstall offen steht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.08.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Capri-Sonne

Samstagabend in einem Späti auf der Karl-Marx-Straße. Der Laden stinkt, gestern Nacht hat einer vor die Theke gekotzt. "Hab schon gewischt", sagt der Besitzer, dauert jetzt ein paar Tage, war ziemlich viel, kann man nichts machen. Ein junger Mann kommt herein, barfuß, Wuschelkopf zum Flaumbart, er kauft Zigaretten und Bier. Sein Blick fällt auf die Capri-Sonne neben der Theke. Orange, der Klassiker. Er greift zu, der Verkäufer lacht. Was denn so witzig sei, fragt der Wuschelkopf. Nichts, sagt der Spätiverkäufer und schüttelt den Kopf. Als der Kunde gegangen ist, nimmt der Verkäufer eine Capri-Sonne in die Hand. "Früher haben die sich hier wahnsinnig gut verkauft. Das war das Einzige, mit dem man Tili runterspülen konnte." Tili, kurz für Tilidin, ist ein Schmerzmittel, das bei vielen jungen Türken in Neukölln sehr beliebt war. Es hieß, dass man davon aggressiv würde. Stimmt nicht, sagt der Verkäufer. Es war beliebt, weil es wenig kostete und man in Prügeleien keine Schmerzen mehr spürte, wenn einen die Faust des Gegners traf. Das einzige Problem war der Geschmack. Tilidin ist extrem bitter, wirklich widerlich. Aber in einem Päckchen Capri-Sonne sind sechseinhalb Stücke Würfelzucker enthalten, mehr als in Fanta. Genug, um den Geschmack von Tilidin zu mildern. Seit Anfang 2013 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz, der Straßenpreis ist in die Höhe geschossen. Und der Verkauf von Capri-Sonne abgesackt.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 31.05.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Landeier unter sich

U-Bahnhof Alexanderplatz, Mittwochabend, Warten auf die U5 Richtung Hönow. Auf dem Gleis gegenüber hält ein offener Wagen, Menschen mit gelben Helmen applaudieren. Endstation der Tour im U-Bahn-Cabrio durch Berlins Unterwelt.
Eine Gruppe Touristen jenseits der sechzig steigt aus, Helme ab. Drei Frauen in Steppjacke und kleinem Lederrucksack, die Männer passend in beige-grauem Altherren-Understatement. Die Frauen fragen: "Ist das hier richtig, Richtung Hönow?" Die abgeklärten Großstadtzwanziger am Gleis nicken. Die alten Herren sagen: "Hab ich doch gesagt." Szenen dreier Ehen. Alles klar also? Mitnichten. Eine will nicht. "Das ist falsch hier, das weiß ich, ich war mal hier." "Wenn du nicht mitkommst, Petra, dann bleibst du hier." Die Bahn fährt ein, Petra immer noch in Opposition: Nee, ist falsch. Drei Herren und zwei Damen in der Bahn, Petra davor, standhaft. Nein, nein, nein.
Die Gruppe wird nervös. Die Frage ans Abteil: "Ist das richtig hier, Richtung Hönow?" Gelächter, Überheblichkeit. Petra steigt ein, unter Protest. Die Stimme aus dem Off: "Richtung Hönow, bitte einsteigen." Erleichterung. Dann Petra an alle: "Entschuldigung, so ist das, wenn Landeier in der Großstadt sind." Das sitzt. Kein Gelächter mehr, die Köpfe werden eingezogen, ein paar sogar rot. Ein Abteil voller zugezogener Landeier aus Bottrop und Bielefeld, gerade noch so cool, schämt sich jetzt. Nur Petra lacht. Sehr laut.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.03.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Tok, tok, tok

Kottbusser Damm, an einem Sonntagvormittag. Erste Radtour nach dem Winter, der keiner war. Ein Krankenwagen drängt sich vorbei, reiht sich ein in eine Blaulichtkolonne, die am Kottbusser Tor unter einer Ampel endet. Fünf Meter darüber, auf einem Vorfahrtsschild, steht eine Frau, etwa dreißig, recht schlank und sehr nackt. Bekleidet nur mit einem Hammer in der Rechten. Ein Polizist, Kopf nach oben gereckt, in der Nackenfalte reflektiert der Schweißfilm. "Kommen Sie runter?", fragt er. Die Antwort von oben: Tok, tok, tok.
Mit dem Hammer schlägt sie auf die Ampel. Die Menschentraube hat die Smartphones justiert. Und wieder: Tok, tok, tok. Als wolle sie sagen: Die Ampel muss weg! Zwei Berufstrinker nicken anerkennend: "Nicht schlecht." Darauf ein Sterni.
Es kracht, ein Wohnmobil, Kennzeichen HSK, ist in einen Berliner Twingo gefahren. Die Beifahrerin, Mitte 60, schimpft mit dem Gatten. "Wo du wieder deine Augen hast." Von oben strahlt weiterhin der weiße Protest-Po. Wofür oder wogegen sich der Protest - um einen solchen handelt es sich doch wohl - richtet, bleibt unklar. Aber solange sie da oben steht, im Kreisverkehr, hat sie nicht verloren. Eine Art Viktoria, die Goldelse in Weiß, eine Kreuzberger Variante der Siegessäule. Die Nackte hämmert weiter auf die Ampel ein, dem Polizisten rinnt der Schweiß ins Hemd. Alle Fotos sind gemacht, das Bier ausgetrunken. Ein Sonntagvormittag am Kotti, der nackte Wahnsinn.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.02.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Sei Wedding!

Café Barrikade, Ecke Pankstraße. Aus den Boxen plärrt Punk, die Scheiben beschlagen. Trinker am Tresen, Studenten hinter der Süddeutschen. Im Hinterzimmer Kicker und Billard. Das Schild mit der durchgestrichenen Marihuanapflanze verschwindet im Kiffer-Qualm. Auf dem einzigen Stuhl sitzt einer, der mit Härterem zu kämpfen hat. Zittert, schwitzt und friert. Daneben steht sein Kollege mit Riesenjoint, erzählt, was falsch läuft in der Welt. Das Zittern des anderen scheint Bestätigung genug.
Am Kicker lehnt mein Freund, nennen wir ihn L. Er ist Weddinger und macht das öfter: lädt mich ein, um mir seine Welt zu erklären. Seine Welt: Wedding. Der Wedding bleibt hart, der Wedding bleibt rot. So geht das immer. Gerade hat L. Fahrt aufgenommen, da platzt der Riesenjoint in den Monolog. "Wollt ihr ein Handy kaufen? Hab’ ich über." Er zieht ein altes Sony Ericsson aus seiner Brusttasche. Wir verneinen. "Gebt ihr mir ein Bier aus?" Ich halte ihm meins hin, hoffe, dass er ablehnt. Er greift zu. Ob wir auch eine Zigarette hätten, fragt er. L. hält ihm den Tabak hin. Der Typ schaut auf das Bier in der einen Hand, den Joint in der anderen. L. dreht ihm eine. Das eben angebotene Handy klingelt. Der Typ geht ran, nimmt die Zigarette und geht ab. "Sorry Jungs." Am Tresen trinkt er mein Bier aus, raucht die Kippe von L. und brüllt Beleidigungen gegen Hertha und die Welt ins Handy. Wedding bleibt Wedding.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.12.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Endlich zuhause

Aus dem Hamburger Exil zurück in Berlin. Heimatgefühle, endlich wieder offene Pöbeleien statt hanseatischer Ignoranz. Ankunft am Südkreuz. Die Ringbahn natürlich verspätet, ich beschwere mich am Schalter. Auch noch am falschen, dem von der Deutschen Bahn. Sichere Nummer, bestimmt werde ich angeschnauzt, wie sonst im Bus, wenn ich eine Einzelfahrkarte mit einem Zwanziger bezahlen will. Der Mann am Schalter schaut auf, hebt die Hände und dann - Überraschung! Er entschuldigt sich. Was ist hier los? Soll ich ihn für das schlechte Wetter verantwortlich machen? Die Bahn kommt, ich lasse die anderen Fahrgäste nicht aussteigen, drängle mich als Erster hinein. Jetzt aber, denke ich, volle Berliner Breitseite, ich bin bereit. Doch nichts geschieht. Die Bahn ist voll, kaum ein Platz frei. Trotzdem stelle ich meine Tasche auf den Nachbarsitz. Ein Arbeiter steigt zu, sieht den fast freien Platz neben mir. Er bleibt stehen, kein Wort. Verdammt, denke ich, was soll ich denn noch machen? Einfahrt S-Bahnhof Sonnenallee. Aus dem Fenster sehe ich den Dönerladen, die S-Bahn-Klause. Die Türen gehen auf. Direkt vor mir ein schon ordentlich angezündeter Obdachloser. Als ich aussteige, glotzt er mich an, wie den Typen, der ihm das letzte Sterni vor der Nase weggekauft hat. Er holt tief Luft und brüllt los: "Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mir gerade noch gefehlt. Wichser!" Endlich, denke ich, endlich zuhause.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 12.10.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ungleicher Kampf

Alt-Neukölln gegen Neu-Neukölln vor den Arcaden an der Karl-Marx- Straße. Ein junger Mann, knapp zwei Meter lang - mit Hipster-Insignien: Tight-Jeans zu zu tief Ausgeschnittenem, Bart und Jutebeutel - steht an der Ampel. Ein Mann, etwa 40, Typ Malocher, verschwitzt, Filterlose im Mundwinkel, rennt auf ihn zu: "Verdammt, du Hurensohn, ich hab gesagt, geh da weg!" Der Akzent: osteuropäisch. Der Auslöser für den Streit: ungewiss. Gewiss nur, dass es hier gleich knallt, und zwar richtig. Der Alt-Neuköllner packt den Neu-Neuköllner am Kragen. Er muss hochschauen, zwei Kopflängen trennen die beiden Männer. Der Alte schlägt aufwärts, dem Jungen mit offener Hand ins Gesicht. Der Junge, perplex, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Nichts in seinem Leben in, sagen wir, der ostwestfälischen Provinz scheint ihn darauf vorbereitet zu haben, hier am helllichten Tag auf die Schnauze zu kriegen. Das hier ist keine Klopperei mit dem Jan-Lennart, damals, im Herforder Kindergarten, Ende der 80er. Keine Gewalt, das merkt er jetzt, während die Schellen auf ihn einprasseln, ist auch keine Lösung, zumindest nicht sofort. Aber er steht es durch, stoisch, bis der Alte von ihm ablässt. Der Neu-Neuköllner geht weg. Schaut sich noch einmal um. Ein paar Jahre noch, scheint sein Blick zu sagen, dann sind hier die letzten Wohnungen kernsaniert. Alt-Neukölln wird es dann nicht mehr geben.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.05.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zurückgeschissen

Mittwochabend, Neukölln, Rixdorf. "VoKü" steht mit Kreide auf der Tafel vor der linksalternativen Sperrmüllmöbelkneipe. Zwei Euro für eine warme Mahlzeit. Kartoffeln an Karotten-Paprika-Pampe. Die Bierbänke ächzen unter der Last der studentisch-alternativen Hinterteile. Platz findet lang nicht jeder. Die mampfende Masse säumt den Gehweg bis zur Galerie, die vor einiger Zeit zwei Häuser weiter aufgemacht hat. Im Fenster der Kneipe hängen Poster: "Homophobia kills", "Kein Ort für Nazis".
Gegenüber ein Seniorenheim. Rentner schauen durch gehäkelte Gardinen auf das junge Treiben. Eine alte Frau tritt heraus, den Dackel im Anschlag hinter sich herziehend. "Verdammt noch mal", brüllt sie, als sie sich an den Billig-Essern vorbeiquetscht, "wir müssen hier durch!"
Niemand rührt sich. Der Gesichtsausdruck der Frau rangiert irgendwo zwischen Verachtung und Hass, der Dackel schnappt nach einer Kartoffel. Sie gehen um die Ecke, ein paar Leute holen sich Nachschlag. Nach einigen Minuten kommt Frauchen samt Dackel zurück, gelassener jetzt, erleichtert, als sei ihr Plan aufgegangen. Ein Blick in die Straße, aus der sie kamen, und die Vorahnung wird Gewissheit: Ein frischer Haufen Hundescheiße thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Bürgersteig. Seit Mittwochabend, 21.30 Uhr, wird zurückgeschissen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.04.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Fenster zum Hof

Neukölln, vierter Stock, Vorderhaus, Blick nach hinten raus. Zwischen vier Häuserwänden - zu viel Beton, zu wenig drüber - erwacht das, was man nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Frühling. Ein Blick aufs Thermometer, neun Grad. Alles über null Grad ist Frühling. Berlin war lange eine geteilte Stadt, ist es noch heute. Nicht mehr durch eine Mauer, doch durch die Jahreszeiten. Im Winter ist alles DDR, Plattenbau und grau. Im Sommer supergeil, Party und Spree.
Also, Fenster auf, Frühling rein, Winterdepression raus. Die von gegenüber hatten die gleiche Idee. Musik ertönt. Bonnie Tylers "Total Eclipse of the Heart". Die aus dem zweiten Stockwerk schießen zurück. Drum and Bass. Zwischen zwei wummernden Basssalven schmalzt Bonnie Tyler: "And I need you now tonight / And I need you more than ever!" Irgendwo brüllt ein Kind. Im Hinterhof verliert eine Bierflasche den Kampf gegen die Betonwand.
"Schnauze", brüllt einer in den Soundteppich. Der Bonnie-Tyler-Fan schreit zurück. "Halt’s Maul!" Jetzt kommt mir allmählich die Erinnerung. Frühling in Berlin, das bedeutet Kampf. Kampf um den öffentlichen Raum. Kampf um die Musikhoheit im Hinterhof. Bonnie Tyler bäumt sich ein letztes Mal auf: "But now there’s only love in the dark / nothing I can say / a total eclipse of the heart." Ich schließe das Fenster, ziehe die Vorhänge zu. In sechs Monaten, denke ich, ist der Spuk wieder vorbei.
Dominik Drutschmann



Erschienen am: 23.02.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Total ausgerastet

Donnerstagmorgen, 9 Uhr, krachendes Erwachen. Trillerpfeife, Megafon, Sirene. Ein Blick aus dem Fenster - Kreuzberg: Lausitzer, Ecke Wiener Straße - und die Gewissheit: Demo. Auf beiden Seiten der Absperrung die Krieger für die Schlacht gerüstet. Und ich will nur nach Hause, nach Neukölln, Rixdorf. Vom Kottbusser Tor mit der U8 zum Hermannplatz, dann den 41er. Jetzt aber: Rein ins Getümmel.
Aus dem schwarzen Block hört man etwas von Scheiß-Gentrifizierung, Steine fliegen nicht, nur eine kleine Wodkaflasche. Angeheitert schmeißt sich’s besser. Die Passanten retten sich mit mir in die U-Bahn. Hermannplatz, Umsteigen. Zwei junge Studentinnen haben den gleichen Weg. Die eine zückt ihr Handy. "Ja, war krass", sagt sie ins Telefon. "Die Bullen sind total ausgerastet, ohne Grund, Tränengas und alles." Die Freundin nickt stumm. Bestätigung. Dass die Demo da gerade wirklich krass war. Und sie mittendrin.
"Hast du mich im Fernsehen gesehen?", fragt sie ins Handy. "Ich habe mich extra auf eine Säule gestellt." Nee? Na ja, schade. Themawechsel, irgendwie. Sie, die Freundin am Telefon, müsse unbedingt mal die neue Wohnung anschauen. Ein Zimmer, Nähe Weserstraße, nicht ganz billig, 400 Euro, aber "so, so schön". Mit abgezogenen Dielen. Total toll.
Schade eigentlich, denke ich, dass ich die Wodkaflasche nicht aufgehoben habe. Ich hätte jetzt so gerne etwas, um es zu schmeißen.

Dominik Drutschmann

Kurze Szenen in Form von Mini-Reportagen. Die Texte kitzeln die Seele des Großstädters, halten ihn zum Innehalten an. Jeden Samstag im Tagesspiegel. Gesammelte Werke von 2013 bis heute.

Erschienen am: 07.08.2021 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Halb voll

Freitagnachmittag in Neukölln, Braunschweiger Straße. Das Glas ist halb voll, die Trinkertraube vor dem Späti auch. Sie alle scheinen genau die richtige Menge Bier getankt zu haben. Lachen und Johlen. Keine Zankereien, keine Aggressionen. Besser wird der Tag für sie nicht mehr. Von hier an bergab heißt ja auch, dass man gerade ganz oben ist. Von links kommt ein Rollstuhlfahrer in die Säuferglückseligkeit. Am Bordstein wird es kurz kompliziert. Vorwärts oder rückwärts, wie kommt er da besser hoch? Die Lösung kommt mit ruppiger Freundlichkeit aus der Trinkertraube. Das haben wir gleich. Beherztes Zugreifen. Für Widerworte keine Zeit. Geht nicht ganz reibungslos, aber umgefallen ist auch niemand. Das muss man hier schon als Erfolg werten. Der Helfer steht vor dem Rollstuhlfahrer auf dem Gehsteig und weiß nicht so recht wohin mit sich. Seine gute Tat ist vollbracht. Aber er hätte noch Kapazitäten, das sieht man. Der Rollstuhlfahrer bedankt sich, der Trinker weist alles von sich. Ist doch selbstverständlich. Man muss sich doch helfen hier im Kiez. Haben’s doch alle nicht leicht. Der Rollstuhlfahrer legt den Kopf schräg. Schaut kurz hoch, dann an sich selbst herab. Beide Beine auf Höhe der Knie amputiert. Der Trinker ist viel zu gut drauf, den Schrägstand in seiner Draufsicht zu bemerken. Zum Abschied knufft er den Rollstuhlfahrer in die Seite: „Gute Besserung!“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 27.02.2021 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
DER SHERIFF VON NEUKÖLLN

In der U7 kommt die Erkenntnis: Diese Zeit geht auch an mir nicht spurlos vorbei. Gegenüber steht gut einen Meter entfernt ein Mann – Maske unterm Kinn – und mampft Chips. Ein paar Krümel haben sich in den Fransen der OP-Maske verhangen, die er etwa im März letzten Jahres aufgesetzt haben muss. In mir regt sich nichts als Resignation. Draußen wird es nicht besser. Auf der Karl-Marx-Straße herrscht Maskenpflicht. Außer mir und der Rollatoren-Frau hält sich niemand daran. Wir schauen uns an, seufzen mit den Augen. Wann hat das eigentlich angefangen, dass ich mich nicht mehr über diese verdammten Maskenverweigerer aufrege? Ich weiß es nicht. Das vergangene Jahr – ein einziger Corona-Klumpen. Doch der wird jetzt gelöst. Ausgerechnet in den Neukölln Arcaden steht sie. Nicht viel größer als 1,60 Meter. Die Haare zum Zopf, damit sie alles im Blick hat. „Du“, ruft sie „Maske auf, verdammt!“ Der Mann – Trägertyp Karl-Heinz Rummenigge – erschreckt sich so sehr, dass seine Nase wie automatisch unter der Maske verschwindet. Zwei Jungs halten sich ihre Schals vors Gesicht. Aber nicht mir ihr. „Raus!“ Sie schreit ohne die Contenance zu verlieren. Die Jungs wollen etwas erwidern, aber ihr Finger gibt so unmissverständlich die Richtung vor, dass sie sich fügen. Neukölln hat einen neuen Sheriff. Und ich mein Krafttier.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 18.07.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
MAL SO GEFRAGT

Seit Jahren setzt er der latent genervten Grundstimmung im Discounter an der Flughafenstraße seine Hemdsärmeligkeit entgegen. Er gehört zu der Sorte Mensch, die man kennt, ohne sie zu kennen. Es würde sich etwas im Hirn verhaken, sähe man ihn außerhalb seines Habitats, der Lidl-Kasse. Er ist der gelb-blau gekleidete Gute-Laune-Bär. Gerade noch hat er mit seinen Bratpfannenhänden meine Einkäufe in den Wagen geschaufelt, da lächelt er schon die nächste Kundin an, Mitte 20 vielleicht, braune Haut. Der Kassierer kübelt schon wieder Freundlichkeiten und Belangloses über sie aus, da hält er inne, die Tomaten vor dem Barcodescanner, der Blick konzentriert. „Ich muss jetzt mal was fragen“, sagt er, „Erlebst du Rassismus?“ Die Frau schaut ihn an, versucht einzuordnen, was hier gerade passiert. Provokation oder Interesse? „Äh, natürlich!“, sagt sie. Der Kassierer jetzt in Rage: „Echt? Hier in Neukölln?“ Sie schaut ihn wieder an. Ihr Blick fragt: Will der mich verarschen? Liest der keine Nachrichten? Die Nazis fackeln hier Autos von Politikern ab. Sie holt Luft, schaut ihm direkt in die Augen und sagt: „Ja. Überall.“ Für einen Moment ist nur noch das Piepen des Barcode-Scanners zu hören. „Scheiße. Das tut mir leid“, sagt er. Sie lächelt ihn an. „Danke.“ 
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 28.06.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
GRASSWEGE EINER STADT

25 Stufen verbinden die Reuter- mit der Mainzer Str. Neben dem geplanten Weg hat sich der Mensch einen Alternative gebahnt, die sich parallel zum Asphaltierten tief in die Erde gegraben ist. Am Ende dieses Weges sitze ich mit einem Freund auf einer Bank, Geburtstagsdrink in Zeiten von Corona. Von nebenan die Kontaktaufnahme: „Sorry Jungs,“ sagt er, „aber ist das immer so, dass hier alle einfach so kiffen?“ Kurzes Umblicken und Tatsache: Es wird gekifft. Grasgeruch dringt hier in der Ecke ebenso häufig in die Nase wie der von Kaffee. Da vergisst man schnell, welche der beiden Drogen illegal ist. Nicht so der neue Bekannte. Der staunt. Er komme aus Duisburg, seine Frau sei hier in Berlin aufgewachsen. Er musste mal raus, war ihm zu voll bei der Familie, die jetzt auch seine ist. Er zieht an seinem Joint und erzählt: Wegen des Kiffens habe er den Führerschein verloren. MPU, Drogentests, die ganze Scheiße. Jetzt aber hat er einen Weg für sich gefunden. Er ist Cannabis-Patient. „Ich bin die Tinnitus-Schiene gefahren“ sagt er. Fiepen auf dem Ohr vortäuschen, von Arzt zu Arzt gereicht werden, sich möglichst dumm stellen – so sein Erfolgsrezept. Ein Jahr hätte das gedauert, teuer sei es auch gewesen. Er blickt sich um und in seinem Gesicht manifestiert sich die Erkenntnis: Verdammt, es hätte einen anderen Weg gegeben, den Weg nach Berlin.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.05.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
WIMMELBILD DER WAHRHEIT

Der Reuterplatz in Neukölln in Coronazeiten: eine Melange aus Berufstrinkern, Großfamilien und kinderlosen Akademikern vereint auf wenigen Quadratmetern Grünstreifen. Der Sahara-Imbiss an der Ecke versorgt die Leute mit Falafel in Erdnusssauce, der Späti nebenan mit allem anderen. Von der Parkbank unweit des Brunnens hat man einen guten Blick auf das Geschehen. Erst durch die Andersartigkeit des Einzelnen entsteht das bunte Gesamtbild. In die vermeintliche Idylle klatscht der Körper eines Mannes auf die Motorhaube eines parkenden Autos. Rudelbildung, Fäuste treffen Gesichter, jemand hält einen Ast wie ein Schwert vor der Brust. Ein Wimmelbild der Gewalt, Ursache ungeklärt. Von der Prügelei völlig unbeeindruckt spielen zwei Kinder auf der Wiese, einzig eine Hecke als Gewaltentrennung zwischen ihnen und dem Exzess. Links Kinderlachen, rechts Männerbrüllen. Zwei Teile, die nicht zusammenpassen wollen, obwohl sie zum gleichen Puzzle gehören. Ein Mannschaftswagen der Polizei beendet den Tumult. In die Stille drängt sich der Gedanke an meinen Opa. Der hatte eine Kneipe im Ruhrgebiet. Dort saß die Welt an seinem Tresen und trank. Wenn Alkohol das Schmiermittel der Gesellschaft ist, gehört zur Wahrheit auch, dass zu viel davon die Hand ausrutschen lässt. Im Gegensatz zur Romantik ist die Realität selten eindeutig. Sie ist schön und schlimm, manchmal sogar gleichzeitig. Wie hier am Reuterplatz.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 18.04.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
VERDAMMTE GENÜGSAMKEIT

Im Saunabereich der Turngemeinde Berlin gelten zwei Regeln: Schnauze halten und nicht aufs Holz schwitzen. Auch schon vor Corona sollte jeder seine Ausdünstungen ins eigene Handtuch absondern. Die bestätigende Ausnahme kommt im Körper eines Ü80-Jährigen daher. Er steht auf der Saunabank, Schweiß tropft aus jeder Pore, das Holz unter ihm färbt sich dunkel. Niemand sagt etwas. Nach der Dusche sitzt der Alte in der Umkleide, die Lebenserfahrung tief ins Gesicht gezeichnet. Er schaut mich an, während er Körperlotion großflächig über seinen Kopf entleert. „Ich hab eine Wohnung verkauft. 90.000 Euro.“ Er hält inne, ein Blick wie eine Blutgrätsche, die Körperlotion läuft das welke Fleisch hinunter. „90.000 Euro und weißt du, was die Scheiße ist?“ Ich weiß es natürlich nicht. „Dass die Scheiß-Kohle jetzt so rumliegt.“ Er schüttelt den Kopf, greift in seine Sporttasche und holt eine Malerrolle heraus, Typ: filigrane Eckenarbeit. Er schaut mich weiter an, milder jetzt, vielleicht auch resigniert und beginnt, die Körperlotion mit der Malerrolle vom Kopf gen Süden zu verteilen. Renovierungsarbeiten am eigenen Körper. Dazu eine Lebensweisheit. „Das schlimmste am Alter ist die verdammte Genügsamkeit“, sagt er. Früher, da hätte er die Kohle nur so rausgehauen. Und jetzt? Jetzt wolle er nichts mehr. Auch, weil er nicht mehr könne. Er verreibt die letzten Überbleibsel der Lotion auf seinem Rücken. „Junge“, sagt er zum Abschied, „mach‘s gut.“ 
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.12.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
KEIN DÖNER LAND IN DIESER ZEIT

Neukölln an einem Donnerstagvormittag. Der Lidl an der Ecke Flughafenstraße hat sich hübsch gemacht. Wiedereröffnung. Sogar der Security-Typ strahlt. Einkaufen war dort auch früher ein Erlebnis. Vielleicht wird es jetzt ein erfreuliches. Also rein und staunen. Gut ausgeleuchtete Discounter-Südfrüchte, dazu vegetarische Burger-Pattys aus Eigenproduktion, hinten links die Deluxe-Produkte-Ecke. Von dort droht jetzt Ärger im neuen Einzelhandelsparadies. Eine Mutter, Hidschab und Hackenporsche, zerrt ihre Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, in Richtung Ausgang. Die aber stockt in ihrer Empörung. Sie packt den angefangenen Döner in die Alufolie, als ob sie versuchen würde, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Mutter zerrt, die Tochter klagt: „Seit wann darf man in Lidl kein Döner essen?“ Und dann: „Ist Lidl jetzt High Society oder was?“ Die Umstehenden: vereint im Lachen über die rechtschaffene Empörung, über die Absurdität des schönen Schein. Komik war immer schon das schärfste Schwert der Unterdrückten. Und auch im neuen Glanz des Lidl funktioniert es. „Ach komm“, sagt die Verkäuferin zum Mädchen, „iss deinen Döner“.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.09.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Erde so frisch

Dienstagnacht im Sandmann in Neukölln. Hinten ist schon das Licht aus. Das ist jetzt wirklich das letzte Glas. Zum Abschied holt die Bardame einen Flyer hervor, darauf der Hund, der immer im Eingangsbereich lag. Eine Traueranzeige. Der Hund ist tot. Vor der Kneipe, am Stamm der Weide, zwei in Plastikhüllen verpackte Fotos. Wieder der Hund, die Augen rot von Herrchens Fotoblitz.Irgendwer hat Blumen gepflanzt, die Erde ist noch frisch. Plötzlich steht eine Frau neben mir, Ende 50, lange Zigarette, Hund an der kurzen Leine. Bestürzung im faltigen Gesicht. „Das war doch der Spock“, sagt sie. „Wie bitte?“ „Das war der Hund von dem Mann, der da immer am Tresen saß. Und jetzt tot.“ Sie beginnt zu schluchzen, „schlimm ist das“. „Aber der Mann lebt noch“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ja“, sagt sie, die Tränen laufen, „aber das ist immer so: Erst Hund, dann Herrchen. Das dauert nicht mehr lange. Und dann ist der auch tot – schlimm ist das.“ Wie verweilen einen Augenblick, schauen stumm auf die Weide, auf die Fotos in den Plastikhüllen, die frischen Blumen. „Aber Ihrem Hund geht's gut?“, frage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und sagt nur ein Wort: „Krebs.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ordnungshüter

Ein Montagmittag an der Kreuzung Hermannplatz. Die Linksabbieger sind durch, die Autos auf der Hermannstraße stehen noch wenige Sekunden. Ein Mann um die vierzig, offener Mantel, fettiges Haar, überquert die Straße bei Rot. Was er nicht gesehen hat: dass hinter ihm ein Polizist in Hundertschaft-Kampfmontur steht. Dieser ruft ihm hinterher: Hallo! Keine Reaktion. Da überquert der Beamte nun ebenfalls die Straße, was er nicht gesehen hat: dass die Autos von der Hermannstraße jetzt Grün haben. Vollbremsung, Hupkonzert. Der Polizist hebt die Arme, als wolle er sagen: "Verdammt, ich mach hier nur meinen Job." Auf der anderen Straßenseite empfängt ihn eine junge Mutter mit Kinderwagen und Vorwürfen. "Sie sind ja ein tolles Vorbild." Ignorieren, weiter dem Rotgänger nach. Auf Höhe McDonald’s kann der Hüter der Ordnung ihn stellen. Er redet auf ihn ein, der ungewaschene Schopf nickt verständig. Was der Polizist dabei nicht sieht: dass er auf dem Radweg steht. Zwei Radfahrer halten auf ihn zu, klingeln und pöbeln. Der Polizist will hinterher, hat zu Fuß aber keine Chance, bricht nach wenigen Metern ab. Der Rotsünder hat sich indessen entfernt. Die Grünphase ist wieder vorbei, die Straße noch frei. Für einen Moment überlege ich, hinüberzugehen. Aber das will ich dem armen Mann nun wirklich nicht antun.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Imbisspolizei

Ein Mittwochnachmittag um halb fünf an der Hasenheide. Der verdammte Job hat länger gedauert, der Kollege und ich müssen jetzt dringend zu Mittag essen. Sonst ist die Laune im Keller. Bei Hamy, dem Vietnamesen, ist es übervoll, also zum Mitnehmen. "Können Sie bitte draußen warten?", fragt der Kellner. Eigentlich ungern, aber gut, jetzt nicht auch noch Streit anfangen. Stattdessen vor der Tür eine rauchen. Zwei Polizisten gehen an uns vorbei, direkt in den Imbiss. Die Zigarette ist noch nicht aufgeraucht, da kommen die beiden wieder heraus, in der Hand eine Plastiktüte mit Essen. "Entschuldigung", rufe ich ihnen hinterher, "aber haben Sie vorbestellt?" Nein, sagen sie, hätten sie nicht, das sei ganz schnell gegangen. Kippe aus und rein in den Laden. "Werden Bullen hier bevorzugt oder was?" Der Mitarbeiter schaut erst mich an, dann auf seinen Zettel - und wieder hoch. Ich will gerade erneut ansetzen, da rennt der Kellner an mir vorbei auf die Straße. Ich hinterher. Der Polizeiwagen ist gerade am Ausparken, der Kellner klopft an die Scheibe, die Tür öffnet sich, und er entwendet den Beamten das Essen. Lachend kommt er zurück und drückt mir die Tüte in die Hand. "So geht’s ja nicht", sagt er und geht wieder in seinen Laden. Das Polizeiauto passiert uns, die Gesichter im Innern sehen hungrig aus.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.03.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kann bassieren

Ein früher Dienstagnachmittag. Das Visum für Russland liegt zwar bereit, erfahre ich am Telefon, aber für heute hat die Pass- und Visastelle in Mitte schon geschlossen. Morgen wieder, werde ich vertröstet. Das Problem: Ich bin viel zu spät dran, wie immer. Und schon morgen geht mein Flug. Nach minutenlangem Bitten und Betteln kommt der kulante Vorschlag: "Na, dann kommen Sie ausnahmsweise heute um 15 Uhr vorbei." Da stehe ich also vor der Glasscheibe und versuche der Dame am Empfang den Sachverhalt zu erklären. "Ich möchte meinen Pass abholen und soll in Zimmer 0.3.05 gehen." "Ich darf Sie nicht alleine durchs Gebäude gehen lassen", lautet die Antwort hinter der Scheibe. "Na, dann stellen Sie mir jemanden zu Seite", schlage ich vor. "Der war gut", sagt die Empfangsmitarbeiterin. Sie lächelt nicht, greift aber zum Telefonhörer. Warten. Nach etwa zwei Minuten eilt eine Frau auf uns zu, den Pass in der Hand. "Was soll das denn? Ich habe für soetwas keine Zeit", ärgert sich die Frau mit meinem Pass an die Scheibe gewandt. "Warum haben Sie den Mann nicht hochgeschickt?" Schulterzucken. Die Frau übergibt mir den Pass und geht ab. Die Dame hinter der Scheibe setzt zur Entschuldigung an. "Das tut mir leid", sagt sie. "Ich habe Bass verstanden. Und mich schon gewundert, wer hier Bass spielt."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 10.02.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kopf in Wand

Samstagnachmittag, vierter Stock in einem Neuköllner Hinterhaus. Die zweite Halbzeit der Bundesligakonferenz läuft im Radio, da klingelt es an der Tür. Mutti hatte sich angekündigt. Aber jetzt schon? Wollte doch noch aufräumen, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen. Schon klingelt es erneut. Tür auf und herein kommt das Chaos im Blaumann. Wasserschaden, bei der Nachbarin im Zweiten. Die Stimme laut, der Ton duldet keinen Widerspruch. Dass die verdammte Heizung dem Klempner den Samstag verhagelt, steht zwei Furchen tief in sein Gesicht geschrieben. Zehn Sekunden später balanciert er auf meinem Badewannenrand, eine Säge in der Hand. "Was machen Sie da?", frage ich. Die dritte Furche meißelt sich in sein Gesicht. "Ein Loch." Sagt er und sägt ein Rechteck in den Rigips. Aber es ist zu klein: Beim Versuch, seinen Kopf in die Wand zu stecken, bleibt er hängen. Sein Gesicht jetzt eine einzige Furche. Fluchen, nachjustieren, Kopf in die Wand. Er redet weiter, doch der Rigips verschluckt seine Worte. Kopf raus, runter in den zweiten Stock, wieder zurück, Kopf in die Wand. So geht das eine ganze Weile. Keine Ahnung, sagt er schließlich und geht. Das Bad ein Schlachtfeld, durch das Loch blickt man auf Mauerwerk. Es klingelt. In der Tür steht Mutti. "Wie sieht’s hier denn aus? Da ist ja ein Loch in der Wand! Junge, muss ich mir Sorgen machen?"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.11.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Haarige Angelegenheit

In der U8 von Osloer Straße bis Hermannplatz. Je südlicher, desto bärtiger, ab Kotti sind die Glattrasierten in der Minderheit. Zwei Jungs, nicht älter als zwölf, unterhalten sich auf Türkisch. Keine Ahnung, worum es geht. Aber dringlich ist es, zumindest für den einen. Dessen Stimme wird lauter, der Freund versucht ihn zu beruhigen und bewirkt doch eher das Gegenteil: Wut spült erste Tränen in die Augen. Der Freund fasst ihm an die Schulter, aber auch diese Berührung hilft nicht. Was hat er bloß? Die beiden diskutieren weiter. Wenn das eskaliert, sage ich zu mir selbst, werde ich dazwischengehen. Und wenn ich dafür bis zur Endhaltestelle Hermannstraße fahren muss. Nächster Halt Schönleinstraße. Vom Türkischen geht es über in eine Melange aus Landes- und Muttersprache. Jetzt hat auch der Besonnene die Schnauze voll: "Was ist denn dein Problem?" Der Freund wischt sich die Tränen aus den Augen, funkelt seinen Kumpel an, kommt ihm näher und näher, deutet dabei immer wieder auf sein Gesicht, als wolle er dem Gegenüber zeigen, wohin er gleich schlagen werde. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der beiden Streitenden. "Oglum", ruft er da, "ich habe den miesesten Bartwuchs meiner Familie." Kurzes Schweigen. "Selbst meine Mutter hat mehr." Der Freund klopft ihm auf die Schulter: "Wird schon."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.10.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Brauchst du, Bruder?

Neukölln, Reuterstraße Ecke Karl-Marx-Straße, ein Sonntagabend. Die Tankstelle, sonntags zuverlässigste Adresse für Getränke-, Tabak- und sonstige Notversorgung, ist frisch renoviert, innen bestens ausgeleuchtet. Vor der Tür, abseits des Lichtkegels, der herausfällt, steht ein Mann, gepflegter Vollbart zu ausrasiertem Nacken, und betankt sein Auto. Aus dem Nichts erscheint ein weiterer, die Jacke flattert ein paar Nummern zu groß um seinen Körper. Er hat einen Karton unterm Arm. "Bruder, brauchst du Messer?" Vielleicht gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem das völlig normal ist, Fremde beim Tanken in einen Messerdeal verwickeln zu wollen. Dieser ist es nicht. "Ich will deine scheiß Messer nicht." Vielleicht ist der Mann aus der Dunkelheit Messerverkäufer, der diese Woche seine Quote nicht erreicht hat. Und jetzt noch diesen einen verdammten Karton verkaufen muss -
Messerset, zwölf Stück. Er zieht eines heraus. "Verpiss dich", sagt der andere und geht bezahlen. Der Verkäufer, das Messer noch in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet, schaut mich an. "Bruder, brauchst du Messer?" Ich muss lachen, fast hysterisch. Das erschreckt ihn so sehr, dass er zurückweicht. Instinktiv gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Lache noch immer. Da dreht sich der Mann um, elf Messer unterm Arm, eins in der Hand, und rennt davon.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.04.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Hund

Samstagabend in einer Neuköllner Eckkneipe. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber einige Gäste sind schon ordentlich angezündet. Im hinteren Teil feiert jemand Geburtstag, unangemeldet, die Kellner sind genervt. Im vorderen Teil tummeln sich ein paar Party-Touristen, die einmal zu oft aufs Klo gehen. Von all dem unbeeindruckt liegt in der Mitte des Raums ein Hund. Es heißt, dass sich Hunde in fremden Umgebungen immer den Platz aussuchen, von dem aus sie den besten Überblick haben. Ein Instinkt, der nicht totzuzüchten ist, offenbar steckt er selbst noch in diesem Exemplar Hund, einem Dackel mit Gewichtsproblemen, der wie eine Wurst aussieht, wenn auch eine sehr unförmige Wurst. Der Hund ruht unbewegt im Epizentrum des samstäglichen Kneipenerdbebens. Teilnahmslos auch dann noch, als ein Gast ihm beim Bierholen auf den Schwanz tritt. Hund zuckt nicht, Herrchen schon. Das ist mein Hund, sagt Herrchen. Der Treter ist perplex, nimmt den Dackel jetzt zum ersten Mal wahr, Ausfallschritt passend zur Ungläubigkeit. Sein Blick löst sich erst nach einigen Sekunden vom Hund, wandert hoch zum Herrchen, ein letztes Konzentrationsaufbegehren gegen das alkoholbedingte Wegdämmern, sein Mund formt Worte: "Was der Mensch aus dem Wolf gemacht hat", lallt er, "ist eine verdammte Tragödie!"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.01.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zigarettenlänge

An einem Freitagvormittag, Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Das Kind auf der anderen Straßenseite, nicht älter als vier, im Schneeanzug, ist gerade in sich zusammengefallen. Es kniet und schreit. Blick gen Himmel, die Nase läuft, Rotze droht an der Lippe festzufrieren. Der ganze Schmerz dieser Welt, vereint auf einem Meter Wohlstandsgör.
Was es hat? Man weiß es nicht. Was es sicher nicht bekommt: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Der sitzt 50 Meter weiter im Tramwartehäuschen und raucht. Typ Waldschrat in Funktionskleidung. Doch es ist das falsche Pflaster für derlei Sorglosigkeiten in der Kindererziehung. Auftritt der Mütter. Erst auf den Jungen eingeredet, dann den Vater ins Verhör genommen. Ist das Ihr Kind? Nicken. Wollen Sie sich nicht um den kümmern? Zug an der Zigarette, Kopfschütteln. Empörung am Retro-Kinderwagen. Jetzt gerät der rauchende Vater ins Rotorblatt der Helikoptererziehung, manikürte Finger fuchteln vor seiner Nase.
Irgendwann ist auch mal gut, und das ist jetzt. Kippe weggeschnippt, aufgestanden, Ansage: "Geht mir nicht auf den Sack. Kümmert euch um euren eigenen Scheiß." Stille, auch das Kind hält inne. Die Mütter sehen so aus, als wollten sie sich irgendwo beschweren. Bloß wo? Bevor das ganze Eskalationspotenzial dieser Szene zum Tragen kommt, schlichtet das Kind: Es ist aufgestanden. Papa, komm, sagt es. Und Papa kommt. Manchmal braucht es nur eine Zigarettenlänge.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 17.09.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Ratte

Ein Dienstag in Kreuzberg. Am Hermannplatz, hinter dem Karstadt, verbindet ein Parkplatz die Urbanstraße mit der Hasenheide. Radfahrer und Fußgänger benutzen ihn als Abkürzung, zum Ärger der Autofahrer. Hinter der Schranke hupt jetzt einer, wie zum Beweis. Vor ihm steht ein Fußgänger, Anfang 20, in der Hand ein Handy, zwischen Opel und Skoda auf der Jagd nach Pikachu. Er spielt Pokémon Go.
Ich verachte sie ja, diese nach dem Mauerfall Geborenen, die als Reminiszenz an ihre Jugend mit dem Handy ihre alten Gameboy-Helden in der realen Welt suchen; dieses Abkulten der eigenen Vergangenheit, obwohl die erst ein paar Jahre zurückliegt. Wie gönne ich es dem Typen, vom Fahrer des Autos angebrüllt zu werden, ehe der wütend weiterrast in Richtung Stellplätze.
Vor der Schranke auf dem Boden ein Gulli. Zwischen den Gitterstäben, durchnässt, die Augen aufgerissen, halb im Schacht, halb an der Oberfläche, eine tote Ratte. Und plötzlich liegt genau da auch eine Kindheitserinnerung für mich. Ich denke an Splinter, die Ratte aus den "Ninja Turtles". Sofort habe ich den Titelsong im Ohr, Frank Zander, die 80er: "Immer auf der Lauer - und immer etwas schlauer."
Ein Hupen reißt mich aus der Sentimentalität. Das Auto kommt auf der Ratte zum Halten. Entgeistert sehe ich den Fahrer an - und merke gar nicht, dass ich im Weg stehe. Vollidiot, sagt er und fährt davon, geradewegs zu auf den Typen, der sein Pokémon sucht.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.07.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Oma-Trick

An einem Samstagmorgen in Neukölln. Es ist kurz vor neun. Eine Frau mit Blumenkohlfrisur zieht ihren Hackenporsche in entgegengesetzter Richtung zu einem Pärchen, das sich wohl in der Nacht gefunden hat. Zumindest in der jungen Frau kommen aber jetzt offenkundig Zweifel auf, ob die Entscheidung im Licht noch standhält. Er sucht Nähe, sie Abstand. Davon unbeeindruckt steht zwischen Lidl und Bankfiliale ein Obdachloser und klirrt mit dem Becher.
Eigentlich ein guter Platz, doch der Mann ist schlecht drauf. Er schaut auf den Wahlkampfstand vor sich. Zwei Omis mit randlosen Brillen, die eine lila Haare, beide AfD. "Scheiße", sagt er, als ich ihm Kleingeld gebe, "was wollen die hier?" Es ist schlecht fürs Geschäft. Dazu noch diese miese Masche, mit freundlichen alten Damen aufzufahren. Da ist man als politischer Gegner gleich gehemmt. Alte Frauen anschreien, wie sieht das denn aus. Der Oma-Trick.
Der Schnorrer jedenfalls ist jetzt auf Betriebstemperatur. Sein Hund steigt mit ein. Ein zweistimmiges Bellen gegen rechts. "Ich werd mit den Linken nach Marzahn gehen und mich schön bei den Faschos vor die Tür setzen." - "Wuff!" Der Mann lacht auf, zwei Reihen reines Zahnfleisch. "Ich mach mit", sage ich, eine Spur zu übermütig. Das findet er so gut, dass er mir was vom Tetra-Wein anbietet. "Ein andermal", sage ich, "lass dir den Tag nicht versauen." Wieder das zahnloses Lächeln, schiefer Blick zum Stand. "Jedenfalls wird mir nicht langweilig."

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.05.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Happy Meal

Im Erdgeschoss der Neukölln Arcaden an einem Samstag. Die Schlangen vor Sparkassenautomaten und Postschalter haben sich ineinander verheddert. Eine 50-Personen-Polonaise mit einem Ursprung und zwei Enden.
Dahinter ein McDonald’s, am Schalter ein Familienverbund, drei Generationen Hunger. Der Junge, vielleicht zehn, im Jogger und grauem Sweatshirt. Darauf steht Bronx, geschrieben: BRNX. Mutti trägt eine dieser Frisuren aus ihrer Jugend, also den Achtzigern, die so aussehen, als hätte jemand den Cesar-Hund aus der Fernsehwerbung blond eingefärbt und ihr auf den Kopf gesetzt. Dazu stilsicher: Leopardenprint- Oberteil, passender Gürtel, weiße Lederhose. Stiefel über der Hose. Oma sitzt auf dem Rollator, regungslos, Honecker-Brille, kein Retromodell.
Mutti kommt vom Fast-Food-Schalter. Auf den Tüten in der Hand steht Happy Meal, in ihrem Gesicht das Gegenteil. Oma wollte nur Pommes, keine Bulette. Ihr Blick sagt: Was habe ich bloß falsch gemacht? Mutti lädt den Weltfrust generationsübergreifend auf den Jungen ab: Finger weg, gegessen wird zu Hause. Und da geht’s jetzt hin.
Mutti bodychecked eine Schneise in die Polonaise. Oma hinterher: Sehen Sie nicht, dass ich behindert bin? Der Bronx-Junge fingert am Happy Meal. Und Mutti hat die Schnauze voll. "Schluss jetzt. Sonst war’s das mit Happy Meal." Die Drohung wirkt. Der Junge schmollt. Und die Polonaise sortiert sich neu.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.04.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Rausschmeißer

Samstagabend im Sandmann, Reuterkiez. Vom Tisch rechts neben der Tür hat man den besten Blick auf diese Weltklassekneipe. Ein schöner Dreischritt: Vorne am Tresen das menschliche Thekeninventar über 60 neben ein paar normalen Stammgästen unter 60. Im Zwischenraum die Hipster. Und im Billard raum das in sich geschlossene Biotop aus Kiffern und Kneipensportlern.
Nur einer schwebt an diesem Abend durch die Zonen. Sein Auftreten: eine Mischung aus Jimmy Page und Jerry García mit einer Prise Rainer Langhans. Graue Mähne, Bart, viel zu weit aufgeknöpftes Hemd, Hippie- Amulett um den Hals. Er geistert durch die Räume, sucht Blickkontakt. Wer den zu lange erwidert, bekommt Lebensweisheiten.
Er wirkt selbst hier, wo die Zeit, so gut es geht, angehalten wird, wie aus ihr herausgefallen. Ein Guru ohne Gläubige. Ein Mann ohne Mission. Bis irgendeiner ausfällig wird. Die Bardame zetert, der Guru kommt ungefragt zur Hilfe. Besänftigt, streicht mit seinen Gitarristenhänden dem Aufgebrachten über die Schulter. Er nimmt den Mann, der ihn um ein paar Köpfe überragt, an die Hand und führt in aus der Kneipe. Ein paar Minuten später kommt er wieder rein, blickt sich um, sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat seine Bestimmung gefunden. Mit dem Belohnungs- Weizen mäandert er wieder im Raum zwischen Theke und Tischen. Der Guru hat seinen Platz gefunden. Er ist jetzt Rausschmeißer.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.03.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Finger in die Wunde

Freitagabend in den Sophiensälen. Im ersten Stock laufen auf Flatscreens Erfahrungsberichte von Menschen, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Es geht um Sex, Vitrinen, Blut. Eine ganz normale Kunstausstellung an einem beliebigen Freitag. So ganz habe ich den Sinn noch nicht erfasst, da finde ich mich schon auf einer Liege wieder. Die brüchige Decke anstarren, während mir eine Wunde an den Hals geschminkt wird und sich Performer mit grünen Haaren und John-Lennon-Gedächtnisbrillen über mich beugen. Eine Art Vorspiel zum Aliensex?
Was in den Wänden der Sophiensäle normal erscheint, ist ein paar Stunden später in der U 8 ab Weinmeisterstraße eine Attraktion. Nur habe ich durch den ganzen Kunstkram und anschließenden Biergenuss völlig verdrängt, dass ich den Hals offen habe. Der Platz neben mir bleibt frei. Besorgte Blicke, Getuschel. Hä, warum eigentlich? Unangenehm! Ausstieg am Hermannplatz. Vor mir teilt sich die hineindrängende Menschenmenge. Dann die Spiegelung in der Scheibe des U-Bahn- Bäckers. Verdammt, was ist das denn? Ich fasse in die Wunde, Kunstblut am Finger. Die Leute umkurven mich großräumig. "Guck dir den besoffenen Spasti an", sagt einer. "Das ist Kunst!", rufe ich, Blut an Hals und Finger, und sehe damit ziemlich genau so aus, wie der Typ gesagt hat, völlig am Ende. Kunst, denke ich, du bockiges Pferd der Uneindeutigkeit. Für dich ist kein Raum hier am Hermannplatz.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.09.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Angelo

Freitagabend, kurz nach elf, Neukölln. Vor der Haustür steht ein Pärchen. Ich nicke zum Gruß, schließe die Tür auf, da tritt der Mann an mich heran. "Angelo?" Nö, sage ich, will weiter. Seine Hand an meinem Arm. Wo wohnst du? Hinterhaus. Welcher Stock? Vierter. Kennst du den Mann aus dem dritten Stock? Nein. Das Pärchen schaut mich ungläubig an. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Von einem Rennrad, im Internet gekauft, das sich als Schrott entpuppte. Jetzt wollen sie ihr Geld zurück, die Spur führt in mein Haus, zu Angelo. Das tut mir zwar leid, nur helfen kann ich nicht. Abgang. Im Hinterhof schließe ich mein Rad ab, da steht das Pärchen plötzlich auch dort, hinter mir durch die Haustür geschlüpft. Sie lächeln mich an. Was macht ihr hier? Wir checken nur die Lichter. Welche Lichter? Deine. Ich bin nicht Angelo, verdammt, ich heiße Dominik. Vorbei an den beiden gehe ich ins Haus, hinter mir höre ich Schritte, ich schaue hinunter. Das Paar kommt mir nach. Ich bin nicht Angelo, rufe ich. Gehe schneller, nehme jetzt zwei Stufen auf einmal. Keine Antwort. Ich schwitze. Stoisch stampfen sie auf den Stufen unter mir. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Panik kommt mir lächerlich vor. Aus dem Fenster der Blick in den Innenhof. Das Pärchen geht, na endlich. Da kommt jemand. "Angelo?", höre ich die beiden fragen. "Ihr schon wieder", sagt der Nachbar, "verpisst euch endlich." Dann geht er ins Haus. Unter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Huphass

Dienstagmittag, Hermannstraße, Ecke Flughafenstraße. Mit dem Fahrtwind auf dem Rad ging es gerade noch, jetzt aber, an der Kreuzung stehend, sengt die Sonne das Hirn zu Brei. Es wird grün. Und es hupt. Quäkend, nervig, aggressiv. Je wärmer es wird, desto häufiger hupt es auf Berlins Straßen. Der Freundin neben mir schwillt die Ader, 47 Kilo Wut klingt nicht nach viel, kann sich aber zu einem Tsunami der Verachtung hochschaukeln. Die Welle rollt, ich surfe mit auf dem Hasskamm. Also los, in die Pedale treten, dem hupenden Rollerfahrer nach. An der nächsten Kreuzung Dampf ablassen. Die Freundin: "Ey, hup mich nicht an, klar?" Der Rollerfahrer: "Ihr könnt mich mal!" Ich: "Du kannst uns mal!" Es wird grün, der Roller ab, hupend. Eine Schweißperle rinnt durch die Hassstirnfalten der Freundin. Nächste Ampel, nächste Konfrontation. "Das ist so asozial, was du da machst!" Es wird grün. Zum Abschied Stinkefinger aller Beteiligten. Wir biegen links ab in die Reuterstraße, der Roller ebenfalls. Vor meinem Haus halten wir, alle drei. Der Rollerfahrer steigt ab, guckt. Lacht. Und kommt auf uns zu. "Hallo Nachbarn! Tschuldigung, bin eigentlich nicht so aggressiv. Und selbst auch Radfahrer." Die Anonymität der Großstadt, in der Nachbarschaft nur die unmittelbarste Möglichkeit der Ignoranz bedeutet, sie löst sich gerade in Wohlwollen auf. Händeschütteln statt Stinkefinger. Grinsen statt Fluchen. Die Schweißperle auf der Stirn meiner Freundin rollt von der Hassfalte in die Lachfalte.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Durst

Samstagmittag, Wannsee, heißester Tag seit immer. Vorbei am Stadtbad zum richtigen See, Natur, unberührt. Denkste! Überall Badetücher, auf den meisten Menschen mit Bier. Sonnenbrandmotive zum Tribal auf dem Arm. Nicht mal ins Wasser kann ich flüchten, habe meine Badehose vergessen, und FKK ist nichts für meine Mutti ihren Jungen. Spaziergang also, die Gegend erkunden. Jede Einbuchtung besetzt, Handtücher als Grenze. Nach einer halben Stunde merke ich: Ich habe meine Wasserflasche vergessen. Der Wannsee ist an diesem Tag dicht wie Berufstrinker am Tresen, ein Geschäft hat aber noch niemand daraus gemacht. Kein Verkaufsstand weit und breit. Dafür ein kleines Häuschen am Wald, DLRG-Headquarter, auf der Terrasse Menschen beim Grillen. Habt ihr vielleicht ein wenig Wasser für mich? Nö, sagt einer und trinkt einen Schluck. Aber am Segelklub gibt’s was. Ab zu den Booten, durch ein Eisentor mit der Aufschrift "Nur für Mitglieder" zu einem Hausboot. Der Mann hinterm Tresen ist überrascht, jemanden zu sehen, im Kühlschrank Getränke satt. Drei Flaschen unterm Arm durch die Bucht zurück, vorbei an tausenden Sonnenanbetern. Jeder zweite fragt, woher ich die Getränke habe. Ich deute aufs Hausboot. Am Ende der Bucht drehe ich mich um. Der Steg zum Tor bevölkert von einer Horde Durstiger. Eben noch wie tot auf dem Badetuch, bewegt sich die träge Masse jetzt auf das Hausboot zu. Die Zombies vom Wannsee.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.07.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
B-U-L-L-E

Donnerstagabend, Karl-Marx-Straße, vor dem Spätkauf "Night Shop 44". Zwei Polizisten in Hundertschaft-Montur, Feierabend, endlich. Die Haare verschwitzt, den Helm in der linken Hand, rechts eine Zigarette. Neben den Neuköllner Nachtaktiven in zu kurzen Hosen sehen die beiden aus wie Robocops. Sehr müde Robocops. Hundertschaft, Scheißjob, einer muss ihn ja machen. Auftritt schwarzer Benz, schönes Auto, will gehört und gesehen werden. Vor dem Späti alle Parkplätze besetzt. Zweite Reihe parken ist Berliner Gesetz. Warnblinker an, Beifahrer springt raus, an den Polizisten vorbei. Die Miene unter den verschwitzten Haaren des einen Polizisten verfinstert sich. Er beugt sich runter, schaut durchs Seitenfenster den Fahrer an: "Du kannst hier nicht parken." "Komm schon, Bruder, ich bin gleich wieder weg." Der Polizist türkischstämmig, der Zweite- Reihe-Parker ebenfalls. Tiefer Zug an der Zigarette, funkelnde Augen: "Verdammt, ich bin nicht dein Bruder, nur weil ich ein Schwarzkopf bin. Ich bin ein Bulle, checkst du das? B-U-L-L-E!" Der Fahrer duckt sich weg, der rauchende Robocop sieht ihm fest in die Augen. Zwei stumme Sekunden vergehen, dann hebt der Fahrer die Hand: "Entschuldige, kommt nicht wieder vor." Er legt den Gang ein und ab. Der Beifahrer kommt mit Cola und Kippen aus dem Späti, sucht das Auto, sein Blick bleibt an dem Polizisten hängen. "Ich bin Bulle, verdammt." Das musste raus. Feierabend, jetzt aber, endlich.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.06.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kaboom

Samstagabend, Schöneberg, auf ein Bier in die Möwe. Einmetersechzig holzvertäfelte Heimeligkeit. Drucke vom Hamburger Hafen. Eine Möwe, überlebensgroß, hängt von der Decke. Zum Bier gibt es den passenden Bierdeckel. Ein Platz zum Verweilen. Nur zum Rauchen muss man raus. Ich schlängele ich mich am Treseninventar vorbei in Richtung Ausgang. Schon leicht angezündet kann ich mein Feuer nicht finden. Vor der Tür eine kleine Menschentraube, da wird schon einer dabei sein. Der da mit dem Hut vielleicht. Wer Hut trägt, der raucht auch. Entschuldigung, hast du Feuer? Der Hut dreht sich um. Zuckt mit der Nase, sein ganzes Gesicht runzelt. Oh Gott! Helge Schneider! Jugendheld und Quatschvorbild. Neben ihm Sergej Gleithmann, der Pina Bausch des deutschen Jazztanzes, Riesenbart zur Halbglatze. Ich merke, wie sich mein Gesicht zu einer grenzdebilen Maske verzieht. Feu-er? Ich stottere. Helge greift in die Hosentasche, zieht seine Hand hervor und lässt den Daumen hochschnellen. "Kaboom", sagt er. Vor mir sein Finger, nur sein Finger. Tu es nicht, denke ich noch, als ich mich, Kippe im Mund, zu Helges imaginärem Feuerzeug hinabbeuge und an meiner Zigarette sauge. Es dauert ein paar Sekunden, bis Helge den Daumen zurückzieht. Bitte schön. Danke, Helge. Und dann verschwinden sie in die Nacht, er und Sergej. Ich schaue ihnen nach, dem Hut und dem Bart, die Zigarette unangezündet zwischen den Lippen. Jemand tippt mich an: Hast du mal Feuer?
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.03.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Laus Kinskis Katze

Freitagabend, 19 Uhr, Karl-Marx-Straße. Feierabendverkehr trifft auf Biervorratskäufer, Vorglüher auf Kleinfamiliengroßeinkäufer. Ein Pulverfass. Ich ziehe einen Koffer mit kaputten Rollen über das Kopfsteinpflaster, sehe also aus wie der Neu-Berliner/Tourist, der den Kiez kaputtmachen will. Die Neuköllner danken es mir mit Verachtung. Ganz anders die Reaktion auf meine Begleitung, Künstlername Laus Kinski, die mich davon überzeugt hat, ihr beim Umzug in ihr neues Atelier zu helfen. Mit der Bahn am Freitagabend. Ihre Katze Motte trägt sie wie ein Baby vor die Brust geschnallt. Alter, wie süß!
Mit der U7 runter zum Ring. Beim Ausstieg trifft der Rollkoffer versehentlich das Schienbein eines Schlechtgelaunten. Seine Fratze der rechtmäßigen Empörung verwandelt sich sofort in ein grenzdebiles Grinsen, als er Laus Kinski und Motte erblickt. Innehalten, Katze streicheln, Babylaute imitieren. Alles vergeben und vergessen. Mit der S46 nach Schöneweide. Jugendliche mit Ghettoblastern und Wodka- Energy-Mischungen. Hasserfüllte Blicke auf den Rollkoffer, früh gelernt. Dann miaut Motte. "Alter, wie süß!"
Diese Katze, da bin ich mir sicher, sollte bei den nächsten Verhandlungen im Ukraine-Konflikt um den Tisch streunen. Eine Schale Milch auf den Boden, schnurren lassen, fertig. Wer den Rollkoffer- Konflikt auf Berliner Straßen befrieden kann, der schafft alles.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 03.01.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
"Och ..."

Niemetzstraße Ecke Saalestraße, Neuköllner Diaspora nahe dem S- Bahnhof Sonnenallee. Die Kneipe an der Ecke mit Leuchtschriftzug: Tiefpunkt. Ein Schnaps: ein Euro. Davor auf der Straße eine Couch. Durchgesessen und durchnässt. Die Trostlosigkeit des Berliner Winters als Stillleben. Doch was zählt, sind die inneren Werte. Rein in die Kneipe gegenüber vom Tiefpunkt. Um die Theke herum eine Traube Ganztagstrinker mit Raucherfahrung. Prösterken, auf uns.
Die Kälte da draußen und die Angezündeten im Innern, getrennt nur durch eine Scheibe. Doch dann, für einen Moment, berühren sich beide Welten. Torsten, Schnitzelhände zur Nassrasur, regt sich auf. Urplötzlich, keiner weiß, warum. Er zetert, dann ein schlimmes F-Wort. Stille. Gaby, gerade noch Herzbardame, findet das nicht gut. Raus, brüllt sie. Torstens leerer Blick füllt sich mit Unverständnis. Das darf man doch wohl noch sagen. Der Unsatz des Jahres 2014. Es hilft nichts. Torsten muss weg, da sind sich alle einig. Er tritt vor den Stehtisch - ein Baum von einem Mann kurz vor der Rodung. Die Schnitzelhände jetzt vor dem Körper, zur Ruhe mahnend. Ein Geistesblitz durchzuckt den glasigen Blick. Okay, sagt Thorsten, dann sag ich eben Fötzchen. Stille, Blick auf Gaby. Die kippt Klares. Lacht. Och, sagt sie, das find ich jut. Prösterken, auf uns, diesen Moment. Mach ruhig noch einen Kurzen zum Bier. Gegen die Welt da draußen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 04.10.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
100 000 nackte Jungs

Sonntagvormittag, Neukölln, Reuterstraße. Das Grau des Eckhauses geht nahtlos in den Himmel über. Zu viel Beton, zu wenig Liebe. Es gibt Sonntage, an denen man lieber zu Hause bleiben sollte. Jetzt kämpft das verkaterte Gemüt gegen die Realität. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht eine Frau, Mitte 40 vielleicht, die kurzen Haare liegen schlaff auf dem Schädel. Sie steht an der Fußgängerampel, wartet wohl, dass es grün wird. Sie zieht ihren rechten Schuh aus, dann den Socken, steht da mit einem beschuhten Fuß und einem nackten. Die Ampel springt auf grün, doch die Frau geht nicht, sondern vollendet ihr Werk. Linken Schuh ausziehen, Socken hineinstecken. Es wird rot, es wird grün. Ich stehe einfach nur da, die Frau kommt auf mich zu, visiert mich an. Dann sagt sie: "Ich habe schon 100 000 Jungs nackt gesehen. Herzlichen Glückwunsch." Sie geht, nackte Füße auf nacktem Asphalt, an mir vorbei und weiter den Gehsteig entlang. Dabei habe ich noch so viele Fragen. Alles an diesen beiden Sätzen fasziniert mich. Allein die Zahl. 100 000! Wie viele Jungs sind das wohl pro Jahr? Rechnet man es aus, kommt man auf 2222. Sechs pro Tag, wenn man die Dame mit den nackten Füßen auf 45 Jahre schätzt. Was aber sollte das mit dem Glückwunsch? Bin ich einer von ihnen? Eine junge Frau kommt auf mich zu, schaut mich an - und lacht. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, dass mein Hosenstall offen steht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.08.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Capri-Sonne

Samstagabend in einem Späti auf der Karl-Marx-Straße. Der Laden stinkt, gestern Nacht hat einer vor die Theke gekotzt. "Hab schon gewischt", sagt der Besitzer, dauert jetzt ein paar Tage, war ziemlich viel, kann man nichts machen. Ein junger Mann kommt herein, barfuß, Wuschelkopf zum Flaumbart, er kauft Zigaretten und Bier. Sein Blick fällt auf die Capri-Sonne neben der Theke. Orange, der Klassiker. Er greift zu, der Verkäufer lacht. Was denn so witzig sei, fragt der Wuschelkopf. Nichts, sagt der Spätiverkäufer und schüttelt den Kopf. Als der Kunde gegangen ist, nimmt der Verkäufer eine Capri-Sonne in die Hand. "Früher haben die sich hier wahnsinnig gut verkauft. Das war das Einzige, mit dem man Tili runterspülen konnte." Tili, kurz für Tilidin, ist ein Schmerzmittel, das bei vielen jungen Türken in Neukölln sehr beliebt war. Es hieß, dass man davon aggressiv würde. Stimmt nicht, sagt der Verkäufer. Es war beliebt, weil es wenig kostete und man in Prügeleien keine Schmerzen mehr spürte, wenn einen die Faust des Gegners traf. Das einzige Problem war der Geschmack. Tilidin ist extrem bitter, wirklich widerlich. Aber in einem Päckchen Capri-Sonne sind sechseinhalb Stücke Würfelzucker enthalten, mehr als in Fanta. Genug, um den Geschmack von Tilidin zu mildern. Seit Anfang 2013 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz, der Straßenpreis ist in die Höhe geschossen. Und der Verkauf von Capri-Sonne abgesackt.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 31.05.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Landeier unter sich

U-Bahnhof Alexanderplatz, Mittwochabend, Warten auf die U5 Richtung Hönow. Auf dem Gleis gegenüber hält ein offener Wagen, Menschen mit gelben Helmen applaudieren. Endstation der Tour im U-Bahn-Cabrio durch Berlins Unterwelt.
Eine Gruppe Touristen jenseits der sechzig steigt aus, Helme ab. Drei Frauen in Steppjacke und kleinem Lederrucksack, die Männer passend in beige-grauem Altherren-Understatement. Die Frauen fragen: "Ist das hier richtig, Richtung Hönow?" Die abgeklärten Großstadtzwanziger am Gleis nicken. Die alten Herren sagen: "Hab ich doch gesagt." Szenen dreier Ehen. Alles klar also? Mitnichten. Eine will nicht. "Das ist falsch hier, das weiß ich, ich war mal hier." "Wenn du nicht mitkommst, Petra, dann bleibst du hier." Die Bahn fährt ein, Petra immer noch in Opposition: Nee, ist falsch. Drei Herren und zwei Damen in der Bahn, Petra davor, standhaft. Nein, nein, nein.
Die Gruppe wird nervös. Die Frage ans Abteil: "Ist das richtig hier, Richtung Hönow?" Gelächter, Überheblichkeit. Petra steigt ein, unter Protest. Die Stimme aus dem Off: "Richtung Hönow, bitte einsteigen." Erleichterung. Dann Petra an alle: "Entschuldigung, so ist das, wenn Landeier in der Großstadt sind." Das sitzt. Kein Gelächter mehr, die Köpfe werden eingezogen, ein paar sogar rot. Ein Abteil voller zugezogener Landeier aus Bottrop und Bielefeld, gerade noch so cool, schämt sich jetzt. Nur Petra lacht. Sehr laut.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.03.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Tok, tok, tok

Kottbusser Damm, an einem Sonntagvormittag. Erste Radtour nach dem Winter, der keiner war. Ein Krankenwagen drängt sich vorbei, reiht sich ein in eine Blaulichtkolonne, die am Kottbusser Tor unter einer Ampel endet. Fünf Meter darüber, auf einem Vorfahrtsschild, steht eine Frau, etwa dreißig, recht schlank und sehr nackt. Bekleidet nur mit einem Hammer in der Rechten. Ein Polizist, Kopf nach oben gereckt, in der Nackenfalte reflektiert der Schweißfilm. "Kommen Sie runter?", fragt er. Die Antwort von oben: Tok, tok, tok.
Mit dem Hammer schlägt sie auf die Ampel. Die Menschentraube hat die Smartphones justiert. Und wieder: Tok, tok, tok. Als wolle sie sagen: Die Ampel muss weg! Zwei Berufstrinker nicken anerkennend: "Nicht schlecht." Darauf ein Sterni.
Es kracht, ein Wohnmobil, Kennzeichen HSK, ist in einen Berliner Twingo gefahren. Die Beifahrerin, Mitte 60, schimpft mit dem Gatten. "Wo du wieder deine Augen hast." Von oben strahlt weiterhin der weiße Protest-Po. Wofür oder wogegen sich der Protest - um einen solchen handelt es sich doch wohl - richtet, bleibt unklar. Aber solange sie da oben steht, im Kreisverkehr, hat sie nicht verloren. Eine Art Viktoria, die Goldelse in Weiß, eine Kreuzberger Variante der Siegessäule. Die Nackte hämmert weiter auf die Ampel ein, dem Polizisten rinnt der Schweiß ins Hemd. Alle Fotos sind gemacht, das Bier ausgetrunken. Ein Sonntagvormittag am Kotti, der nackte Wahnsinn.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.02.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Sei Wedding!

Café Barrikade, Ecke Pankstraße. Aus den Boxen plärrt Punk, die Scheiben beschlagen. Trinker am Tresen, Studenten hinter der Süddeutschen. Im Hinterzimmer Kicker und Billard. Das Schild mit der durchgestrichenen Marihuanapflanze verschwindet im Kiffer-Qualm. Auf dem einzigen Stuhl sitzt einer, der mit Härterem zu kämpfen hat. Zittert, schwitzt und friert. Daneben steht sein Kollege mit Riesenjoint, erzählt, was falsch läuft in der Welt. Das Zittern des anderen scheint Bestätigung genug.
Am Kicker lehnt mein Freund, nennen wir ihn L. Er ist Weddinger und macht das öfter: lädt mich ein, um mir seine Welt zu erklären. Seine Welt: Wedding. Der Wedding bleibt hart, der Wedding bleibt rot. So geht das immer. Gerade hat L. Fahrt aufgenommen, da platzt der Riesenjoint in den Monolog. "Wollt ihr ein Handy kaufen? Hab’ ich über." Er zieht ein altes Sony Ericsson aus seiner Brusttasche. Wir verneinen. "Gebt ihr mir ein Bier aus?" Ich halte ihm meins hin, hoffe, dass er ablehnt. Er greift zu. Ob wir auch eine Zigarette hätten, fragt er. L. hält ihm den Tabak hin. Der Typ schaut auf das Bier in der einen Hand, den Joint in der anderen. L. dreht ihm eine. Das eben angebotene Handy klingelt. Der Typ geht ran, nimmt die Zigarette und geht ab. "Sorry Jungs." Am Tresen trinkt er mein Bier aus, raucht die Kippe von L. und brüllt Beleidigungen gegen Hertha und die Welt ins Handy. Wedding bleibt Wedding.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.12.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Endlich zuhause

Aus dem Hamburger Exil zurück in Berlin. Heimatgefühle, endlich wieder offene Pöbeleien statt hanseatischer Ignoranz. Ankunft am Südkreuz. Die Ringbahn natürlich verspätet, ich beschwere mich am Schalter. Auch noch am falschen, dem von der Deutschen Bahn. Sichere Nummer, bestimmt werde ich angeschnauzt, wie sonst im Bus, wenn ich eine Einzelfahrkarte mit einem Zwanziger bezahlen will. Der Mann am Schalter schaut auf, hebt die Hände und dann - Überraschung! Er entschuldigt sich. Was ist hier los? Soll ich ihn für das schlechte Wetter verantwortlich machen? Die Bahn kommt, ich lasse die anderen Fahrgäste nicht aussteigen, drängle mich als Erster hinein. Jetzt aber, denke ich, volle Berliner Breitseite, ich bin bereit. Doch nichts geschieht. Die Bahn ist voll, kaum ein Platz frei. Trotzdem stelle ich meine Tasche auf den Nachbarsitz. Ein Arbeiter steigt zu, sieht den fast freien Platz neben mir. Er bleibt stehen, kein Wort. Verdammt, denke ich, was soll ich denn noch machen? Einfahrt S-Bahnhof Sonnenallee. Aus dem Fenster sehe ich den Dönerladen, die S-Bahn-Klause. Die Türen gehen auf. Direkt vor mir ein schon ordentlich angezündeter Obdachloser. Als ich aussteige, glotzt er mich an, wie den Typen, der ihm das letzte Sterni vor der Nase weggekauft hat. Er holt tief Luft und brüllt los: "Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mir gerade noch gefehlt. Wichser!" Endlich, denke ich, endlich zuhause.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 12.10.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ungleicher Kampf

Alt-Neukölln gegen Neu-Neukölln vor den Arcaden an der Karl-Marx- Straße. Ein junger Mann, knapp zwei Meter lang - mit Hipster-Insignien: Tight-Jeans zu zu tief Ausgeschnittenem, Bart und Jutebeutel - steht an der Ampel. Ein Mann, etwa 40, Typ Malocher, verschwitzt, Filterlose im Mundwinkel, rennt auf ihn zu: "Verdammt, du Hurensohn, ich hab gesagt, geh da weg!" Der Akzent: osteuropäisch. Der Auslöser für den Streit: ungewiss. Gewiss nur, dass es hier gleich knallt, und zwar richtig. Der Alt-Neuköllner packt den Neu-Neuköllner am Kragen. Er muss hochschauen, zwei Kopflängen trennen die beiden Männer. Der Alte schlägt aufwärts, dem Jungen mit offener Hand ins Gesicht. Der Junge, perplex, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Nichts in seinem Leben in, sagen wir, der ostwestfälischen Provinz scheint ihn darauf vorbereitet zu haben, hier am helllichten Tag auf die Schnauze zu kriegen. Das hier ist keine Klopperei mit dem Jan-Lennart, damals, im Herforder Kindergarten, Ende der 80er. Keine Gewalt, das merkt er jetzt, während die Schellen auf ihn einprasseln, ist auch keine Lösung, zumindest nicht sofort. Aber er steht es durch, stoisch, bis der Alte von ihm ablässt. Der Neu-Neuköllner geht weg. Schaut sich noch einmal um. Ein paar Jahre noch, scheint sein Blick zu sagen, dann sind hier die letzten Wohnungen kernsaniert. Alt-Neukölln wird es dann nicht mehr geben.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.05.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zurückgeschissen

Mittwochabend, Neukölln, Rixdorf. "VoKü" steht mit Kreide auf der Tafel vor der linksalternativen Sperrmüllmöbelkneipe. Zwei Euro für eine warme Mahlzeit. Kartoffeln an Karotten-Paprika-Pampe. Die Bierbänke ächzen unter der Last der studentisch-alternativen Hinterteile. Platz findet lang nicht jeder. Die mampfende Masse säumt den Gehweg bis zur Galerie, die vor einiger Zeit zwei Häuser weiter aufgemacht hat. Im Fenster der Kneipe hängen Poster: "Homophobia kills", "Kein Ort für Nazis".
Gegenüber ein Seniorenheim. Rentner schauen durch gehäkelte Gardinen auf das junge Treiben. Eine alte Frau tritt heraus, den Dackel im Anschlag hinter sich herziehend. "Verdammt noch mal", brüllt sie, als sie sich an den Billig-Essern vorbeiquetscht, "wir müssen hier durch!"
Niemand rührt sich. Der Gesichtsausdruck der Frau rangiert irgendwo zwischen Verachtung und Hass, der Dackel schnappt nach einer Kartoffel. Sie gehen um die Ecke, ein paar Leute holen sich Nachschlag. Nach einigen Minuten kommt Frauchen samt Dackel zurück, gelassener jetzt, erleichtert, als sei ihr Plan aufgegangen. Ein Blick in die Straße, aus der sie kamen, und die Vorahnung wird Gewissheit: Ein frischer Haufen Hundescheiße thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Bürgersteig. Seit Mittwochabend, 21.30 Uhr, wird zurückgeschissen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.04.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Fenster zum Hof

Neukölln, vierter Stock, Vorderhaus, Blick nach hinten raus. Zwischen vier Häuserwänden - zu viel Beton, zu wenig drüber - erwacht das, was man nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Frühling. Ein Blick aufs Thermometer, neun Grad. Alles über null Grad ist Frühling. Berlin war lange eine geteilte Stadt, ist es noch heute. Nicht mehr durch eine Mauer, doch durch die Jahreszeiten. Im Winter ist alles DDR, Plattenbau und grau. Im Sommer supergeil, Party und Spree.
Also, Fenster auf, Frühling rein, Winterdepression raus. Die von gegenüber hatten die gleiche Idee. Musik ertönt. Bonnie Tylers "Total Eclipse of the Heart". Die aus dem zweiten Stockwerk schießen zurück. Drum and Bass. Zwischen zwei wummernden Basssalven schmalzt Bonnie Tyler: "And I need you now tonight / And I need you more than ever!" Irgendwo brüllt ein Kind. Im Hinterhof verliert eine Bierflasche den Kampf gegen die Betonwand.
"Schnauze", brüllt einer in den Soundteppich. Der Bonnie-Tyler-Fan schreit zurück. "Halt’s Maul!" Jetzt kommt mir allmählich die Erinnerung. Frühling in Berlin, das bedeutet Kampf. Kampf um den öffentlichen Raum. Kampf um die Musikhoheit im Hinterhof. Bonnie Tyler bäumt sich ein letztes Mal auf: "But now there’s only love in the dark / nothing I can say / a total eclipse of the heart." Ich schließe das Fenster, ziehe die Vorhänge zu. In sechs Monaten, denke ich, ist der Spuk wieder vorbei.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 23.02.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Total ausgerastet

Donnerstagmorgen, 9 Uhr, krachendes Erwachen. Trillerpfeife, Megafon, Sirene. Ein Blick aus dem Fenster - Kreuzberg: Lausitzer, Ecke Wiener Straße - und die Gewissheit: Demo. Auf beiden Seiten der Absperrung die Krieger für die Schlacht gerüstet. Und ich will nur nach Hause, nach Neukölln, Rixdorf. Vom Kottbusser Tor mit der U8 zum Hermannplatz, dann den 41er. Jetzt aber: Rein ins Getümmel.
Aus dem schwarzen Block hört man etwas von Scheiß-Gentrifizierung, Steine fliegen nicht, nur eine kleine Wodkaflasche. Angeheitert schmeißt sich’s besser. Die Passanten retten sich mit mir in die U-Bahn. Hermannplatz, Umsteigen. Zwei junge Studentinnen haben den gleichen Weg. Die eine zückt ihr Handy. "Ja, war krass", sagt sie ins Telefon. "Die Bullen sind total ausgerastet, ohne Grund, Tränengas und alles." Die Freundin nickt stumm. Bestätigung. Dass die Demo da gerade wirklich krass war. Und sie mittendrin.
"Hast du mich im Fernsehen gesehen?", fragt sie ins Handy. "Ich habe mich extra auf eine Säule gestellt." Nee? Na ja, schade. Themawechsel, irgendwie. Sie, die Freundin am Telefon, müsse unbedingt mal die neue Wohnung anschauen. Ein Zimmer, Nähe Weserstraße, nicht ganz billig, 400 Euro, aber "so, so schön". Mit abgezogenen Dielen. Total toll.
Schade eigentlich, denke ich, dass ich die Wodkaflasche nicht aufgehoben habe. Ich hätte jetzt so gerne etwas, um es zu schmeißen.

Dominik Drutschmann

Erschienen am: 30.05.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
WIMMELBILD DER WAHRHEIT

Der Reuterplatz in Neukölln in Coronazeiten: eine Melange aus Berufstrinkern, Großfamilien und kinderlosen Akademikern vereint auf wenigen Quadratmetern Grünstreifen. Der Sahara-Imbiss an der Ecke versorgt die Leute mit Falafel in Erdnusssauce, der Späti nebenan mit allem anderen. Von der Parkbank unweit des Brunnens hat man einen guten Blick auf das Geschehen. Erst durch die Andersartigkeit des Einzelnen entsteht das bunte Gesamtbild. In die vermeintliche Idylle klatscht der Körper eines Mannes auf die Motorhaube eines parkenden Autos. Rudelbildung, Fäuste treffen Gesichter, jemand hält einen Ast wie ein Schwert vor der Brust. Ein Wimmelbild der Gewalt, Ursache ungeklärt. Von der Prügelei völlig unbeeindruckt spielen zwei Kinder auf der Wiese, einzig eine Hecke als Gewaltentrennung zwischen ihnen und dem Exzess. Links Kinderlachen, rechts Männerbrüllen. Zwei Teile, die nicht zusammenpassen wollen, obwohl sie zum gleichen Puzzle gehören. Ein Mannschaftswagen der Polizei beendet den Tumult. In die Stille drängt sich der Gedanke an meinen Opa. Der hatte eine Kneipe im Ruhrgebiet. Dort saß die Welt an seinem Tresen und trank. Wenn Alkohol das Schmiermittel der Gesellschaft ist, gehört zur Wahrheit auch, dass zu viel davon die Hand ausrutschen lässt. Im Gegensatz zur Romantik ist die Realität selten eindeutig. Sie ist schön und schlimm, manchmal sogar gleichzeitig. Wie hier am Reuterplatz.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 18.04.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
VERDAMMTE GENÜGSAMKEIT

Im Saunabereich der Turngemeinde Berlin gelten zwei Regeln: Schnauze halten und nicht aufs Holz schwitzen. Auch schon vor Corona sollte jeder seine Ausdünstungen ins eigene Handtuch absondern. Die bestätigende Ausnahme kommt im Körper eines Ü80-Jährigen daher. Er steht auf der Saunabank, Schweiß tropft aus jeder Pore, das Holz unter ihm färbt sich dunkel. Niemand sagt etwas. Nach der Dusche sitzt der Alte in der Umkleide, die Lebenserfahrung tief ins Gesicht gezeichnet. Er schaut mich an, während er Körperlotion großflächig über seinen Kopf entleert. „Ich hab eine Wohnung verkauft. 90.000 Euro.“ Er hält inne, ein Blick wie eine Blutgrätsche, die Körperlotion läuft das welke Fleisch hinunter. „90.000 Euro und weißt du, was die Scheiße ist?“ Ich weiß es natürlich nicht. „Dass die Scheiß-Kohle jetzt so rumliegt.“ Er schüttelt den Kopf, greift in seine Sporttasche und holt eine Malerrolle heraus, Typ: filigrane Eckenarbeit. Er schaut mich weiter an, milder jetzt, vielleicht auch resigniert und beginnt, die Körperlotion mit der Malerrolle vom Kopf gen Süden zu verteilen. Renovierungsarbeiten am eigenen Körper. Dazu eine Lebensweisheit. „Das schlimmste am Alter ist die verdammte Genügsamkeit“, sagt er. Früher, da hätte er die Kohle nur so rausgehauen. Und jetzt? Jetzt wolle er nichts mehr. Auch, weil er nicht mehr könne. Er verreibt die letzten Überbleibsel der Lotion auf seinem Rücken. „Junge“, sagt er zum Abschied, „mach‘s gut.“ 
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.12.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
KEIN DÖNER LAND IN DIESER ZEIT

Neukölln an einem Donnerstagvormittag. Der Lidl an der Ecke Flughafenstraße hat sich hübsch gemacht. Wiedereröffnung. Sogar der Security-Typ strahlt. Einkaufen war dort auch früher ein Erlebnis. Vielleicht wird es jetzt ein erfreuliches. Also rein und staunen. Gut ausgeleuchtete Discounter-Südfrüchte, dazu vegetarische Burger-Pattys aus Eigenproduktion, hinten links die Deluxe-Produkte-Ecke. Von dort droht jetzt Ärger im neuen Einzelhandelsparadies. Eine Mutter, Hidschab und Hackenporsche, zerrt ihre Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, in Richtung Ausgang. Die aber stockt in ihrer Empörung. Sie packt den angefangenen Döner in die Alufolie, als ob sie versuchen würde, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Mutter zerrt, die Tochter klagt: „Seit wann darf man in Lidl kein Döner essen?“ Und dann: „Ist Lidl jetzt High Society oder was?“ Die Umstehenden: vereint im Lachen über die rechtschaffene Empörung, über die Absurdität des schönen Schein. Komik war immer schon das schärfste Schwert der Unterdrückten. Und auch im neuen Glanz des Lidl funktioniert es. „Ach komm“, sagt die Verkäuferin zum Mädchen, „iss deinen Döner“.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.09.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Erde so frisch

Dienstagnacht im Sandmann in Neukölln. Hinten ist schon das Licht aus. Das ist jetzt wirklich das letzte Glas. Zum Abschied holt die Bardame einen Flyer hervor, darauf der Hund, der immer im Eingangsbereich lag. Eine Traueranzeige. Der Hund ist tot. Vor der Kneipe, am Stamm der Weide, zwei in Plastikhüllen verpackte Fotos. Wieder der Hund, die Augen rot von Herrchens Fotoblitz.Irgendwer hat Blumen gepflanzt, die Erde ist noch frisch. Plötzlich steht eine Frau neben mir, Ende 50, lange Zigarette, Hund an der kurzen Leine. Bestürzung im faltigen Gesicht. „Das war doch der Spock“, sagt sie. „Wie bitte?“ „Das war der Hund von dem Mann, der da immer am Tresen saß. Und jetzt tot.“ Sie beginnt zu schluchzen, „schlimm ist das“. „Aber der Mann lebt noch“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ja“, sagt sie, die Tränen laufen, „aber das ist immer so: Erst Hund, dann Herrchen. Das dauert nicht mehr lange. Und dann ist der auch tot – schlimm ist das.“ Wie verweilen einen Augenblick, schauen stumm auf die Weide, auf die Fotos in den Plastikhüllen, die frischen Blumen. „Aber Ihrem Hund geht's gut?“, frage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und sagt nur ein Wort: „Krebs.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ordnungshüter

Ein Montagmittag an der Kreuzung Hermannplatz. Die Linksabbieger sind durch, die Autos auf der Hermannstraße stehen noch wenige Sekunden. Ein Mann um die vierzig, offener Mantel, fettiges Haar, überquert die Straße bei Rot. Was er nicht gesehen hat: dass hinter ihm ein Polizist in Hundertschaft-Kampfmontur steht. Dieser ruft ihm hinterher: Hallo! Keine Reaktion. Da überquert der Beamte nun ebenfalls die Straße, was er nicht gesehen hat: dass die Autos von der Hermannstraße jetzt Grün haben. Vollbremsung, Hupkonzert. Der Polizist hebt die Arme, als wolle er sagen: "Verdammt, ich mach hier nur meinen Job." Auf der anderen Straßenseite empfängt ihn eine junge Mutter mit Kinderwagen und Vorwürfen. "Sie sind ja ein tolles Vorbild." Ignorieren, weiter dem Rotgänger nach. Auf Höhe McDonald’s kann der Hüter der Ordnung ihn stellen. Er redet auf ihn ein, der ungewaschene Schopf nickt verständig. Was der Polizist dabei nicht sieht: dass er auf dem Radweg steht. Zwei Radfahrer halten auf ihn zu, klingeln und pöbeln. Der Polizist will hinterher, hat zu Fuß aber keine Chance, bricht nach wenigen Metern ab. Der Rotsünder hat sich indessen entfernt. Die Grünphase ist wieder vorbei, die Straße noch frei. Für einen Moment überlege ich, hinüberzugehen. Aber das will ich dem armen Mann nun wirklich nicht antun.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Imbisspolizei

Ein Mittwochnachmittag um halb fünf an der Hasenheide. Der verdammte Job hat länger gedauert, der Kollege und ich müssen jetzt dringend zu Mittag essen. Sonst ist die Laune im Keller. Bei Hamy, dem Vietnamesen, ist es übervoll, also zum Mitnehmen. "Können Sie bitte draußen warten?", fragt der Kellner. Eigentlich ungern, aber gut, jetzt nicht auch noch Streit anfangen. Stattdessen vor der Tür eine rauchen. Zwei Polizisten gehen an uns vorbei, direkt in den Imbiss. Die Zigarette ist noch nicht aufgeraucht, da kommen die beiden wieder heraus, in der Hand eine Plastiktüte mit Essen. "Entschuldigung", rufe ich ihnen hinterher, "aber haben Sie vorbestellt?" Nein, sagen sie, hätten sie nicht, das sei ganz schnell gegangen. Kippe aus und rein in den Laden. "Werden Bullen hier bevorzugt oder was?" Der Mitarbeiter schaut erst mich an, dann auf seinen Zettel - und wieder hoch. Ich will gerade erneut ansetzen, da rennt der Kellner an mir vorbei auf die Straße. Ich hinterher. Der Polizeiwagen ist gerade am Ausparken, der Kellner klopft an die Scheibe, die Tür öffnet sich, und er entwendet den Beamten das Essen. Lachend kommt er zurück und drückt mir die Tüte in die Hand. "So geht’s ja nicht", sagt er und geht wieder in seinen Laden. Das Polizeiauto passiert uns, die Gesichter im Innern sehen hungrig aus.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.03.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kann bassieren

Ein früher Dienstagnachmittag. Das Visum für Russland liegt zwar bereit, erfahre ich am Telefon, aber für heute hat die Pass- und Visastelle in Mitte schon geschlossen. Morgen wieder, werde ich vertröstet. Das Problem: Ich bin viel zu spät dran, wie immer. Und schon morgen geht mein Flug. Nach minutenlangem Bitten und Betteln kommt der kulante Vorschlag: "Na, dann kommen Sie ausnahmsweise heute um 15 Uhr vorbei." Da stehe ich also vor der Glasscheibe und versuche der Dame am Empfang den Sachverhalt zu erklären. "Ich möchte meinen Pass abholen und soll in Zimmer 0.3.05 gehen." "Ich darf Sie nicht alleine durchs Gebäude gehen lassen", lautet die Antwort hinter der Scheibe. "Na, dann stellen Sie mir jemanden zu Seite", schlage ich vor. "Der war gut", sagt die Empfangsmitarbeiterin. Sie lächelt nicht, greift aber zum Telefonhörer. Warten. Nach etwa zwei Minuten eilt eine Frau auf uns zu, den Pass in der Hand. "Was soll das denn? Ich habe für soetwas keine Zeit", ärgert sich die Frau mit meinem Pass an die Scheibe gewandt. "Warum haben Sie den Mann nicht hochgeschickt?" Schulterzucken. Die Frau übergibt mir den Pass und geht ab. Die Dame hinter der Scheibe setzt zur Entschuldigung an. "Das tut mir leid", sagt sie. "Ich habe Bass verstanden. Und mich schon gewundert, wer hier Bass spielt."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 10.02.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kopf in Wand

Samstagnachmittag, vierter Stock in einem Neuköllner Hinterhaus. Die zweite Halbzeit der Bundesligakonferenz läuft im Radio, da klingelt es an der Tür. Mutti hatte sich angekündigt. Aber jetzt schon? Wollte doch noch aufräumen, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen. Schon klingelt es erneut. Tür auf und herein kommt das Chaos im Blaumann. Wasserschaden, bei der Nachbarin im Zweiten. Die Stimme laut, der Ton duldet keinen Widerspruch. Dass die verdammte Heizung dem Klempner den Samstag verhagelt, steht zwei Furchen tief in sein Gesicht geschrieben. Zehn Sekunden später balanciert er auf meinem Badewannenrand, eine Säge in der Hand. "Was machen Sie da?", frage ich. Die dritte Furche meißelt sich in sein Gesicht. "Ein Loch." Sagt er und sägt ein Rechteck in den Rigips. Aber es ist zu klein: Beim Versuch, seinen Kopf in die Wand zu stecken, bleibt er hängen. Sein Gesicht jetzt eine einzige Furche. Fluchen, nachjustieren, Kopf in die Wand. Er redet weiter, doch der Rigips verschluckt seine Worte. Kopf raus, runter in den zweiten Stock, wieder zurück, Kopf in die Wand. So geht das eine ganze Weile. Keine Ahnung, sagt er schließlich und geht. Das Bad ein Schlachtfeld, durch das Loch blickt man auf Mauerwerk. Es klingelt. In der Tür steht Mutti. "Wie sieht’s hier denn aus? Da ist ja ein Loch in der Wand! Junge, muss ich mir Sorgen machen?"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.11.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Haarige Angelegenheit

In der U8 von Osloer Straße bis Hermannplatz. Je südlicher, desto bärtiger, ab Kotti sind die Glattrasierten in der Minderheit. Zwei Jungs, nicht älter als zwölf, unterhalten sich auf Türkisch. Keine Ahnung, worum es geht. Aber dringlich ist es, zumindest für den einen. Dessen Stimme wird lauter, der Freund versucht ihn zu beruhigen und bewirkt doch eher das Gegenteil: Wut spült erste Tränen in die Augen. Der Freund fasst ihm an die Schulter, aber auch diese Berührung hilft nicht. Was hat er bloß? Die beiden diskutieren weiter. Wenn das eskaliert, sage ich zu mir selbst, werde ich dazwischengehen. Und wenn ich dafür bis zur Endhaltestelle Hermannstraße fahren muss. Nächster Halt Schönleinstraße. Vom Türkischen geht es über in eine Melange aus Landes- und Muttersprache. Jetzt hat auch der Besonnene die Schnauze voll: "Was ist denn dein Problem?" Der Freund wischt sich die Tränen aus den Augen, funkelt seinen Kumpel an, kommt ihm näher und näher, deutet dabei immer wieder auf sein Gesicht, als wolle er dem Gegenüber zeigen, wohin er gleich schlagen werde. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der beiden Streitenden. "Oglum", ruft er da, "ich habe den miesesten Bartwuchs meiner Familie." Kurzes Schweigen. "Selbst meine Mutter hat mehr." Der Freund klopft ihm auf die Schulter: "Wird schon."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.10.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Brauchst du, Bruder?

Neukölln, Reuterstraße Ecke Karl-Marx-Straße, ein Sonntagabend. Die Tankstelle, sonntags zuverlässigste Adresse für Getränke-, Tabak- und sonstige Notversorgung, ist frisch renoviert, innen bestens ausgeleuchtet. Vor der Tür, abseits des Lichtkegels, der herausfällt, steht ein Mann, gepflegter Vollbart zu ausrasiertem Nacken, und betankt sein Auto. Aus dem Nichts erscheint ein weiterer, die Jacke flattert ein paar Nummern zu groß um seinen Körper. Er hat einen Karton unterm Arm. "Bruder, brauchst du Messer?" Vielleicht gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem das völlig normal ist, Fremde beim Tanken in einen Messerdeal verwickeln zu wollen. Dieser ist es nicht. "Ich will deine scheiß Messer nicht." Vielleicht ist der Mann aus der Dunkelheit Messerverkäufer, der diese Woche seine Quote nicht erreicht hat. Und jetzt noch diesen einen verdammten Karton verkaufen muss -
Messerset, zwölf Stück. Er zieht eines heraus. "Verpiss dich", sagt der andere und geht bezahlen. Der Verkäufer, das Messer noch in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet, schaut mich an. "Bruder, brauchst du Messer?" Ich muss lachen, fast hysterisch. Das erschreckt ihn so sehr, dass er zurückweicht. Instinktiv gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Lache noch immer. Da dreht sich der Mann um, elf Messer unterm Arm, eins in der Hand, und rennt davon.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.04.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Hund

Samstagabend in einer Neuköllner Eckkneipe. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber einige Gäste sind schon ordentlich angezündet. Im hinteren Teil feiert jemand Geburtstag, unangemeldet, die Kellner sind genervt. Im vorderen Teil tummeln sich ein paar Party-Touristen, die einmal zu oft aufs Klo gehen. Von all dem unbeeindruckt liegt in der Mitte des Raums ein Hund. Es heißt, dass sich Hunde in fremden Umgebungen immer den Platz aussuchen, von dem aus sie den besten Überblick haben. Ein Instinkt, der nicht totzuzüchten ist, offenbar steckt er selbst noch in diesem Exemplar Hund, einem Dackel mit Gewichtsproblemen, der wie eine Wurst aussieht, wenn auch eine sehr unförmige Wurst. Der Hund ruht unbewegt im Epizentrum des samstäglichen Kneipenerdbebens. Teilnahmslos auch dann noch, als ein Gast ihm beim Bierholen auf den Schwanz tritt. Hund zuckt nicht, Herrchen schon. Das ist mein Hund, sagt Herrchen. Der Treter ist perplex, nimmt den Dackel jetzt zum ersten Mal wahr, Ausfallschritt passend zur Ungläubigkeit. Sein Blick löst sich erst nach einigen Sekunden vom Hund, wandert hoch zum Herrchen, ein letztes Konzentrationsaufbegehren gegen das alkoholbedingte Wegdämmern, sein Mund formt Worte: "Was der Mensch aus dem Wolf gemacht hat", lallt er, "ist eine verdammte Tragödie!"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.01.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zigarettenlänge

An einem Freitagvormittag, Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Das Kind auf der anderen Straßenseite, nicht älter als vier, im Schneeanzug, ist gerade in sich zusammengefallen. Es kniet und schreit. Blick gen Himmel, die Nase läuft, Rotze droht an der Lippe festzufrieren. Der ganze Schmerz dieser Welt, vereint auf einem Meter Wohlstandsgör.
Was es hat? Man weiß es nicht. Was es sicher nicht bekommt: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Der sitzt 50 Meter weiter im Tramwartehäuschen und raucht. Typ Waldschrat in Funktionskleidung. Doch es ist das falsche Pflaster für derlei Sorglosigkeiten in der Kindererziehung. Auftritt der Mütter. Erst auf den Jungen eingeredet, dann den Vater ins Verhör genommen. Ist das Ihr Kind? Nicken. Wollen Sie sich nicht um den kümmern? Zug an der Zigarette, Kopfschütteln. Empörung am Retro-Kinderwagen. Jetzt gerät der rauchende Vater ins Rotorblatt der Helikoptererziehung, manikürte Finger fuchteln vor seiner Nase.
Irgendwann ist auch mal gut, und das ist jetzt. Kippe weggeschnippt, aufgestanden, Ansage: "Geht mir nicht auf den Sack. Kümmert euch um euren eigenen Scheiß." Stille, auch das Kind hält inne. Die Mütter sehen so aus, als wollten sie sich irgendwo beschweren. Bloß wo? Bevor das ganze Eskalationspotenzial dieser Szene zum Tragen kommt, schlichtet das Kind: Es ist aufgestanden. Papa, komm, sagt es. Und Papa kommt. Manchmal braucht es nur eine Zigarettenlänge.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 17.09.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Ratte

Ein Dienstag in Kreuzberg. Am Hermannplatz, hinter dem Karstadt, verbindet ein Parkplatz die Urbanstraße mit der Hasenheide. Radfahrer und Fußgänger benutzen ihn als Abkürzung, zum Ärger der Autofahrer. Hinter der Schranke hupt jetzt einer, wie zum Beweis. Vor ihm steht ein Fußgänger, Anfang 20, in der Hand ein Handy, zwischen Opel und Skoda auf der Jagd nach Pikachu. Er spielt Pokémon Go.
Ich verachte sie ja, diese nach dem Mauerfall Geborenen, die als Reminiszenz an ihre Jugend mit dem Handy ihre alten Gameboy-Helden in der realen Welt suchen; dieses Abkulten der eigenen Vergangenheit, obwohl die erst ein paar Jahre zurückliegt. Wie gönne ich es dem Typen, vom Fahrer des Autos angebrüllt zu werden, ehe der wütend weiterrast in Richtung Stellplätze.
Vor der Schranke auf dem Boden ein Gulli. Zwischen den Gitterstäben, durchnässt, die Augen aufgerissen, halb im Schacht, halb an der Oberfläche, eine tote Ratte. Und plötzlich liegt genau da auch eine Kindheitserinnerung für mich. Ich denke an Splinter, die Ratte aus den "Ninja Turtles". Sofort habe ich den Titelsong im Ohr, Frank Zander, die 80er: "Immer auf der Lauer - und immer etwas schlauer."
Ein Hupen reißt mich aus der Sentimentalität. Das Auto kommt auf der Ratte zum Halten. Entgeistert sehe ich den Fahrer an - und merke gar nicht, dass ich im Weg stehe. Vollidiot, sagt er und fährt davon, geradewegs zu auf den Typen, der sein Pokémon sucht.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.07.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Oma-Trick

An einem Samstagmorgen in Neukölln. Es ist kurz vor neun. Eine Frau mit Blumenkohlfrisur zieht ihren Hackenporsche in entgegengesetzter Richtung zu einem Pärchen, das sich wohl in der Nacht gefunden hat. Zumindest in der jungen Frau kommen aber jetzt offenkundig Zweifel auf, ob die Entscheidung im Licht noch standhält. Er sucht Nähe, sie Abstand. Davon unbeeindruckt steht zwischen Lidl und Bankfiliale ein Obdachloser und klirrt mit dem Becher.
Eigentlich ein guter Platz, doch der Mann ist schlecht drauf. Er schaut auf den Wahlkampfstand vor sich. Zwei Omis mit randlosen Brillen, die eine lila Haare, beide AfD. "Scheiße", sagt er, als ich ihm Kleingeld gebe, "was wollen die hier?" Es ist schlecht fürs Geschäft. Dazu noch diese miese Masche, mit freundlichen alten Damen aufzufahren. Da ist man als politischer Gegner gleich gehemmt. Alte Frauen anschreien, wie sieht das denn aus. Der Oma-Trick.
Der Schnorrer jedenfalls ist jetzt auf Betriebstemperatur. Sein Hund steigt mit ein. Ein zweistimmiges Bellen gegen rechts. "Ich werd mit den Linken nach Marzahn gehen und mich schön bei den Faschos vor die Tür setzen." - "Wuff!" Der Mann lacht auf, zwei Reihen reines Zahnfleisch. "Ich mach mit", sage ich, eine Spur zu übermütig. Das findet er so gut, dass er mir was vom Tetra-Wein anbietet. "Ein andermal", sage ich, "lass dir den Tag nicht versauen." Wieder das zahnloses Lächeln, schiefer Blick zum Stand. "Jedenfalls wird mir nicht langweilig."

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.05.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Happy Meal

Im Erdgeschoss der Neukölln Arcaden an einem Samstag. Die Schlangen vor Sparkassenautomaten und Postschalter haben sich ineinander verheddert. Eine 50-Personen-Polonaise mit einem Ursprung und zwei Enden.
Dahinter ein McDonald’s, am Schalter ein Familienverbund, drei Generationen Hunger. Der Junge, vielleicht zehn, im Jogger und grauem Sweatshirt. Darauf steht Bronx, geschrieben: BRNX. Mutti trägt eine dieser Frisuren aus ihrer Jugend, also den Achtzigern, die so aussehen, als hätte jemand den Cesar-Hund aus der Fernsehwerbung blond eingefärbt und ihr auf den Kopf gesetzt. Dazu stilsicher: Leopardenprint- Oberteil, passender Gürtel, weiße Lederhose. Stiefel über der Hose. Oma sitzt auf dem Rollator, regungslos, Honecker-Brille, kein Retromodell.
Mutti kommt vom Fast-Food-Schalter. Auf den Tüten in der Hand steht Happy Meal, in ihrem Gesicht das Gegenteil. Oma wollte nur Pommes, keine Bulette. Ihr Blick sagt: Was habe ich bloß falsch gemacht? Mutti lädt den Weltfrust generationsübergreifend auf den Jungen ab: Finger weg, gegessen wird zu Hause. Und da geht’s jetzt hin.
Mutti bodychecked eine Schneise in die Polonaise. Oma hinterher: Sehen Sie nicht, dass ich behindert bin? Der Bronx-Junge fingert am Happy Meal. Und Mutti hat die Schnauze voll. "Schluss jetzt. Sonst war’s das mit Happy Meal." Die Drohung wirkt. Der Junge schmollt. Und die Polonaise sortiert sich neu.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.04.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Rausschmeißer

Samstagabend im Sandmann, Reuterkiez. Vom Tisch rechts neben der Tür hat man den besten Blick auf diese Weltklassekneipe. Ein schöner Dreischritt: Vorne am Tresen das menschliche Thekeninventar über 60 neben ein paar normalen Stammgästen unter 60. Im Zwischenraum die Hipster. Und im Billard raum das in sich geschlossene Biotop aus Kiffern und Kneipensportlern.
Nur einer schwebt an diesem Abend durch die Zonen. Sein Auftreten: eine Mischung aus Jimmy Page und Jerry García mit einer Prise Rainer Langhans. Graue Mähne, Bart, viel zu weit aufgeknöpftes Hemd, Hippie- Amulett um den Hals. Er geistert durch die Räume, sucht Blickkontakt. Wer den zu lange erwidert, bekommt Lebensweisheiten.
Er wirkt selbst hier, wo die Zeit, so gut es geht, angehalten wird, wie aus ihr herausgefallen. Ein Guru ohne Gläubige. Ein Mann ohne Mission. Bis irgendeiner ausfällig wird. Die Bardame zetert, der Guru kommt ungefragt zur Hilfe. Besänftigt, streicht mit seinen Gitarristenhänden dem Aufgebrachten über die Schulter. Er nimmt den Mann, der ihn um ein paar Köpfe überragt, an die Hand und führt in aus der Kneipe. Ein paar Minuten später kommt er wieder rein, blickt sich um, sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat seine Bestimmung gefunden. Mit dem Belohnungs- Weizen mäandert er wieder im Raum zwischen Theke und Tischen. Der Guru hat seinen Platz gefunden. Er ist jetzt Rausschmeißer.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.03.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Finger in die Wunde

Freitagabend in den Sophiensälen. Im ersten Stock laufen auf Flatscreens Erfahrungsberichte von Menschen, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Es geht um Sex, Vitrinen, Blut. Eine ganz normale Kunstausstellung an einem beliebigen Freitag. So ganz habe ich den Sinn noch nicht erfasst, da finde ich mich schon auf einer Liege wieder. Die brüchige Decke anstarren, während mir eine Wunde an den Hals geschminkt wird und sich Performer mit grünen Haaren und John-Lennon-Gedächtnisbrillen über mich beugen. Eine Art Vorspiel zum Aliensex?
Was in den Wänden der Sophiensäle normal erscheint, ist ein paar Stunden später in der U 8 ab Weinmeisterstraße eine Attraktion. Nur habe ich durch den ganzen Kunstkram und anschließenden Biergenuss völlig verdrängt, dass ich den Hals offen habe. Der Platz neben mir bleibt frei. Besorgte Blicke, Getuschel. Hä, warum eigentlich? Unangenehm! Ausstieg am Hermannplatz. Vor mir teilt sich die hineindrängende Menschenmenge. Dann die Spiegelung in der Scheibe des U-Bahn- Bäckers. Verdammt, was ist das denn? Ich fasse in die Wunde, Kunstblut am Finger. Die Leute umkurven mich großräumig. "Guck dir den besoffenen Spasti an", sagt einer. "Das ist Kunst!", rufe ich, Blut an Hals und Finger, und sehe damit ziemlich genau so aus, wie der Typ gesagt hat, völlig am Ende. Kunst, denke ich, du bockiges Pferd der Uneindeutigkeit. Für dich ist kein Raum hier am Hermannplatz.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.09.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Angelo

Freitagabend, kurz nach elf, Neukölln. Vor der Haustür steht ein Pärchen. Ich nicke zum Gruß, schließe die Tür auf, da tritt der Mann an mich heran. "Angelo?" Nö, sage ich, will weiter. Seine Hand an meinem Arm. Wo wohnst du? Hinterhaus. Welcher Stock? Vierter. Kennst du den Mann aus dem dritten Stock? Nein. Das Pärchen schaut mich ungläubig an. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Von einem Rennrad, im Internet gekauft, das sich als Schrott entpuppte. Jetzt wollen sie ihr Geld zurück, die Spur führt in mein Haus, zu Angelo. Das tut mir zwar leid, nur helfen kann ich nicht. Abgang. Im Hinterhof schließe ich mein Rad ab, da steht das Pärchen plötzlich auch dort, hinter mir durch die Haustür geschlüpft. Sie lächeln mich an. Was macht ihr hier? Wir checken nur die Lichter. Welche Lichter? Deine. Ich bin nicht Angelo, verdammt, ich heiße Dominik. Vorbei an den beiden gehe ich ins Haus, hinter mir höre ich Schritte, ich schaue hinunter. Das Paar kommt mir nach. Ich bin nicht Angelo, rufe ich. Gehe schneller, nehme jetzt zwei Stufen auf einmal. Keine Antwort. Ich schwitze. Stoisch stampfen sie auf den Stufen unter mir. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Panik kommt mir lächerlich vor. Aus dem Fenster der Blick in den Innenhof. Das Pärchen geht, na endlich. Da kommt jemand. "Angelo?", höre ich die beiden fragen. "Ihr schon wieder", sagt der Nachbar, "verpisst euch endlich." Dann geht er ins Haus. Unter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Huphass

Dienstagmittag, Hermannstraße, Ecke Flughafenstraße. Mit dem Fahrtwind auf dem Rad ging es gerade noch, jetzt aber, an der Kreuzung stehend, sengt die Sonne das Hirn zu Brei. Es wird grün. Und es hupt. Quäkend, nervig, aggressiv. Je wärmer es wird, desto häufiger hupt es auf Berlins Straßen. Der Freundin neben mir schwillt die Ader, 47 Kilo Wut klingt nicht nach viel, kann sich aber zu einem Tsunami der Verachtung hochschaukeln. Die Welle rollt, ich surfe mit auf dem Hasskamm. Also los, in die Pedale treten, dem hupenden Rollerfahrer nach. An der nächsten Kreuzung Dampf ablassen. Die Freundin: "Ey, hup mich nicht an, klar?" Der Rollerfahrer: "Ihr könnt mich mal!" Ich: "Du kannst uns mal!" Es wird grün, der Roller ab, hupend. Eine Schweißperle rinnt durch die Hassstirnfalten der Freundin. Nächste Ampel, nächste Konfrontation. "Das ist so asozial, was du da machst!" Es wird grün. Zum Abschied Stinkefinger aller Beteiligten. Wir biegen links ab in die Reuterstraße, der Roller ebenfalls. Vor meinem Haus halten wir, alle drei. Der Rollerfahrer steigt ab, guckt. Lacht. Und kommt auf uns zu. "Hallo Nachbarn! Tschuldigung, bin eigentlich nicht so aggressiv. Und selbst auch Radfahrer." Die Anonymität der Großstadt, in der Nachbarschaft nur die unmittelbarste Möglichkeit der Ignoranz bedeutet, sie löst sich gerade in Wohlwollen auf. Händeschütteln statt Stinkefinger. Grinsen statt Fluchen. Die Schweißperle auf der Stirn meiner Freundin rollt von der Hassfalte in die Lachfalte.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Durst

Samstagmittag, Wannsee, heißester Tag seit immer. Vorbei am Stadtbad zum richtigen See, Natur, unberührt. Denkste! Überall Badetücher, auf den meisten Menschen mit Bier. Sonnenbrandmotive zum Tribal auf dem Arm. Nicht mal ins Wasser kann ich flüchten, habe meine Badehose vergessen, und FKK ist nichts für meine Mutti ihren Jungen. Spaziergang also, die Gegend erkunden. Jede Einbuchtung besetzt, Handtücher als Grenze. Nach einer halben Stunde merke ich: Ich habe meine Wasserflasche vergessen. Der Wannsee ist an diesem Tag dicht wie Berufstrinker am Tresen, ein Geschäft hat aber noch niemand daraus gemacht. Kein Verkaufsstand weit und breit. Dafür ein kleines Häuschen am Wald, DLRG-Headquarter, auf der Terrasse Menschen beim Grillen. Habt ihr vielleicht ein wenig Wasser für mich? Nö, sagt einer und trinkt einen Schluck. Aber am Segelklub gibt’s was. Ab zu den Booten, durch ein Eisentor mit der Aufschrift "Nur für Mitglieder" zu einem Hausboot. Der Mann hinterm Tresen ist überrascht, jemanden zu sehen, im Kühlschrank Getränke satt. Drei Flaschen unterm Arm durch die Bucht zurück, vorbei an tausenden Sonnenanbetern. Jeder zweite fragt, woher ich die Getränke habe. Ich deute aufs Hausboot. Am Ende der Bucht drehe ich mich um. Der Steg zum Tor bevölkert von einer Horde Durstiger. Eben noch wie tot auf dem Badetuch, bewegt sich die träge Masse jetzt auf das Hausboot zu. Die Zombies vom Wannsee.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.07.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
B-U-L-L-E

Donnerstagabend, Karl-Marx-Straße, vor dem Spätkauf "Night Shop 44". Zwei Polizisten in Hundertschaft-Montur, Feierabend, endlich. Die Haare verschwitzt, den Helm in der linken Hand, rechts eine Zigarette. Neben den Neuköllner Nachtaktiven in zu kurzen Hosen sehen die beiden aus wie Robocops. Sehr müde Robocops. Hundertschaft, Scheißjob, einer muss ihn ja machen. Auftritt schwarzer Benz, schönes Auto, will gehört und gesehen werden. Vor dem Späti alle Parkplätze besetzt. Zweite Reihe parken ist Berliner Gesetz. Warnblinker an, Beifahrer springt raus, an den Polizisten vorbei. Die Miene unter den verschwitzten Haaren des einen Polizisten verfinstert sich. Er beugt sich runter, schaut durchs Seitenfenster den Fahrer an: "Du kannst hier nicht parken." "Komm schon, Bruder, ich bin gleich wieder weg." Der Polizist türkischstämmig, der Zweite- Reihe-Parker ebenfalls. Tiefer Zug an der Zigarette, funkelnde Augen: "Verdammt, ich bin nicht dein Bruder, nur weil ich ein Schwarzkopf bin. Ich bin ein Bulle, checkst du das? B-U-L-L-E!" Der Fahrer duckt sich weg, der rauchende Robocop sieht ihm fest in die Augen. Zwei stumme Sekunden vergehen, dann hebt der Fahrer die Hand: "Entschuldige, kommt nicht wieder vor." Er legt den Gang ein und ab. Der Beifahrer kommt mit Cola und Kippen aus dem Späti, sucht das Auto, sein Blick bleibt an dem Polizisten hängen. "Ich bin Bulle, verdammt." Das musste raus. Feierabend, jetzt aber, endlich.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.06.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kaboom

Samstagabend, Schöneberg, auf ein Bier in die Möwe. Einmetersechzig holzvertäfelte Heimeligkeit. Drucke vom Hamburger Hafen. Eine Möwe, überlebensgroß, hängt von der Decke. Zum Bier gibt es den passenden Bierdeckel. Ein Platz zum Verweilen. Nur zum Rauchen muss man raus. Ich schlängele ich mich am Treseninventar vorbei in Richtung Ausgang. Schon leicht angezündet kann ich mein Feuer nicht finden. Vor der Tür eine kleine Menschentraube, da wird schon einer dabei sein. Der da mit dem Hut vielleicht. Wer Hut trägt, der raucht auch. Entschuldigung, hast du Feuer? Der Hut dreht sich um. Zuckt mit der Nase, sein ganzes Gesicht runzelt. Oh Gott! Helge Schneider! Jugendheld und Quatschvorbild. Neben ihm Sergej Gleithmann, der Pina Bausch des deutschen Jazztanzes, Riesenbart zur Halbglatze. Ich merke, wie sich mein Gesicht zu einer grenzdebilen Maske verzieht. Feu-er? Ich stottere. Helge greift in die Hosentasche, zieht seine Hand hervor und lässt den Daumen hochschnellen. "Kaboom", sagt er. Vor mir sein Finger, nur sein Finger. Tu es nicht, denke ich noch, als ich mich, Kippe im Mund, zu Helges imaginärem Feuerzeug hinabbeuge und an meiner Zigarette sauge. Es dauert ein paar Sekunden, bis Helge den Daumen zurückzieht. Bitte schön. Danke, Helge. Und dann verschwinden sie in die Nacht, er und Sergej. Ich schaue ihnen nach, dem Hut und dem Bart, die Zigarette unangezündet zwischen den Lippen. Jemand tippt mich an: Hast du mal Feuer?
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.03.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Laus Kinskis Katze

Freitagabend, 19 Uhr, Karl-Marx-Straße. Feierabendverkehr trifft auf Biervorratskäufer, Vorglüher auf Kleinfamiliengroßeinkäufer. Ein Pulverfass. Ich ziehe einen Koffer mit kaputten Rollen über das Kopfsteinpflaster, sehe also aus wie der Neu-Berliner/Tourist, der den Kiez kaputtmachen will. Die Neuköllner danken es mir mit Verachtung. Ganz anders die Reaktion auf meine Begleitung, Künstlername Laus Kinski, die mich davon überzeugt hat, ihr beim Umzug in ihr neues Atelier zu helfen. Mit der Bahn am Freitagabend. Ihre Katze Motte trägt sie wie ein Baby vor die Brust geschnallt. Alter, wie süß!
Mit der U7 runter zum Ring. Beim Ausstieg trifft der Rollkoffer versehentlich das Schienbein eines Schlechtgelaunten. Seine Fratze der rechtmäßigen Empörung verwandelt sich sofort in ein grenzdebiles Grinsen, als er Laus Kinski und Motte erblickt. Innehalten, Katze streicheln, Babylaute imitieren. Alles vergeben und vergessen. Mit der S46 nach Schöneweide. Jugendliche mit Ghettoblastern und Wodka- Energy-Mischungen. Hasserfüllte Blicke auf den Rollkoffer, früh gelernt. Dann miaut Motte. "Alter, wie süß!"
Diese Katze, da bin ich mir sicher, sollte bei den nächsten Verhandlungen im Ukraine-Konflikt um den Tisch streunen. Eine Schale Milch auf den Boden, schnurren lassen, fertig. Wer den Rollkoffer- Konflikt auf Berliner Straßen befrieden kann, der schafft alles.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 03.01.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
"Och ..."

Niemetzstraße Ecke Saalestraße, Neuköllner Diaspora nahe dem S- Bahnhof Sonnenallee. Die Kneipe an der Ecke mit Leuchtschriftzug: Tiefpunkt. Ein Schnaps: ein Euro. Davor auf der Straße eine Couch. Durchgesessen und durchnässt. Die Trostlosigkeit des Berliner Winters als Stillleben. Doch was zählt, sind die inneren Werte. Rein in die Kneipe gegenüber vom Tiefpunkt. Um die Theke herum eine Traube Ganztagstrinker mit Raucherfahrung. Prösterken, auf uns.
Die Kälte da draußen und die Angezündeten im Innern, getrennt nur durch eine Scheibe. Doch dann, für einen Moment, berühren sich beide Welten. Torsten, Schnitzelhände zur Nassrasur, regt sich auf. Urplötzlich, keiner weiß, warum. Er zetert, dann ein schlimmes F-Wort. Stille. Gaby, gerade noch Herzbardame, findet das nicht gut. Raus, brüllt sie. Torstens leerer Blick füllt sich mit Unverständnis. Das darf man doch wohl noch sagen. Der Unsatz des Jahres 2014. Es hilft nichts. Torsten muss weg, da sind sich alle einig. Er tritt vor den Stehtisch - ein Baum von einem Mann kurz vor der Rodung. Die Schnitzelhände jetzt vor dem Körper, zur Ruhe mahnend. Ein Geistesblitz durchzuckt den glasigen Blick. Okay, sagt Thorsten, dann sag ich eben Fötzchen. Stille, Blick auf Gaby. Die kippt Klares. Lacht. Och, sagt sie, das find ich jut. Prösterken, auf uns, diesen Moment. Mach ruhig noch einen Kurzen zum Bier. Gegen die Welt da draußen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 04.10.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
100 000 nackte Jungs

Sonntagvormittag, Neukölln, Reuterstraße. Das Grau des Eckhauses geht nahtlos in den Himmel über. Zu viel Beton, zu wenig Liebe. Es gibt Sonntage, an denen man lieber zu Hause bleiben sollte. Jetzt kämpft das verkaterte Gemüt gegen die Realität. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht eine Frau, Mitte 40 vielleicht, die kurzen Haare liegen schlaff auf dem Schädel. Sie steht an der Fußgängerampel, wartet wohl, dass es grün wird. Sie zieht ihren rechten Schuh aus, dann den Socken, steht da mit einem beschuhten Fuß und einem nackten. Die Ampel springt auf grün, doch die Frau geht nicht, sondern vollendet ihr Werk. Linken Schuh ausziehen, Socken hineinstecken. Es wird rot, es wird grün. Ich stehe einfach nur da, die Frau kommt auf mich zu, visiert mich an. Dann sagt sie: "Ich habe schon 100 000 Jungs nackt gesehen. Herzlichen Glückwunsch." Sie geht, nackte Füße auf nacktem Asphalt, an mir vorbei und weiter den Gehsteig entlang. Dabei habe ich noch so viele Fragen. Alles an diesen beiden Sätzen fasziniert mich. Allein die Zahl. 100 000! Wie viele Jungs sind das wohl pro Jahr? Rechnet man es aus, kommt man auf 2222. Sechs pro Tag, wenn man die Dame mit den nackten Füßen auf 45 Jahre schätzt. Was aber sollte das mit dem Glückwunsch? Bin ich einer von ihnen? Eine junge Frau kommt auf mich zu, schaut mich an - und lacht. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, dass mein Hosenstall offen steht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.08.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Capri-Sonne

Samstagabend in einem Späti auf der Karl-Marx-Straße. Der Laden stinkt, gestern Nacht hat einer vor die Theke gekotzt. "Hab schon gewischt", sagt der Besitzer, dauert jetzt ein paar Tage, war ziemlich viel, kann man nichts machen. Ein junger Mann kommt herein, barfuß, Wuschelkopf zum Flaumbart, er kauft Zigaretten und Bier. Sein Blick fällt auf die Capri-Sonne neben der Theke. Orange, der Klassiker. Er greift zu, der Verkäufer lacht. Was denn so witzig sei, fragt der Wuschelkopf. Nichts, sagt der Spätiverkäufer und schüttelt den Kopf. Als der Kunde gegangen ist, nimmt der Verkäufer eine Capri-Sonne in die Hand. "Früher haben die sich hier wahnsinnig gut verkauft. Das war das Einzige, mit dem man Tili runterspülen konnte." Tili, kurz für Tilidin, ist ein Schmerzmittel, das bei vielen jungen Türken in Neukölln sehr beliebt war. Es hieß, dass man davon aggressiv würde. Stimmt nicht, sagt der Verkäufer. Es war beliebt, weil es wenig kostete und man in Prügeleien keine Schmerzen mehr spürte, wenn einen die Faust des Gegners traf. Das einzige Problem war der Geschmack. Tilidin ist extrem bitter, wirklich widerlich. Aber in einem Päckchen Capri-Sonne sind sechseinhalb Stücke Würfelzucker enthalten, mehr als in Fanta. Genug, um den Geschmack von Tilidin zu mildern. Seit Anfang 2013 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz, der Straßenpreis ist in die Höhe geschossen. Und der Verkauf von Capri-Sonne abgesackt.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 31.05.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Landeier unter sich

U-Bahnhof Alexanderplatz, Mittwochabend, Warten auf die U5 Richtung Hönow. Auf dem Gleis gegenüber hält ein offener Wagen, Menschen mit gelben Helmen applaudieren. Endstation der Tour im U-Bahn-Cabrio durch Berlins Unterwelt.
Eine Gruppe Touristen jenseits der sechzig steigt aus, Helme ab. Drei Frauen in Steppjacke und kleinem Lederrucksack, die Männer passend in beige-grauem Altherren-Understatement. Die Frauen fragen: "Ist das hier richtig, Richtung Hönow?" Die abgeklärten Großstadtzwanziger am Gleis nicken. Die alten Herren sagen: "Hab ich doch gesagt." Szenen dreier Ehen. Alles klar also? Mitnichten. Eine will nicht. "Das ist falsch hier, das weiß ich, ich war mal hier." "Wenn du nicht mitkommst, Petra, dann bleibst du hier." Die Bahn fährt ein, Petra immer noch in Opposition: Nee, ist falsch. Drei Herren und zwei Damen in der Bahn, Petra davor, standhaft. Nein, nein, nein.
Die Gruppe wird nervös. Die Frage ans Abteil: "Ist das richtig hier, Richtung Hönow?" Gelächter, Überheblichkeit. Petra steigt ein, unter Protest. Die Stimme aus dem Off: "Richtung Hönow, bitte einsteigen." Erleichterung. Dann Petra an alle: "Entschuldigung, so ist das, wenn Landeier in der Großstadt sind." Das sitzt. Kein Gelächter mehr, die Köpfe werden eingezogen, ein paar sogar rot. Ein Abteil voller zugezogener Landeier aus Bottrop und Bielefeld, gerade noch so cool, schämt sich jetzt. Nur Petra lacht. Sehr laut.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.03.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Tok, tok, tok

Kottbusser Damm, an einem Sonntagvormittag. Erste Radtour nach dem Winter, der keiner war. Ein Krankenwagen drängt sich vorbei, reiht sich ein in eine Blaulichtkolonne, die am Kottbusser Tor unter einer Ampel endet. Fünf Meter darüber, auf einem Vorfahrtsschild, steht eine Frau, etwa dreißig, recht schlank und sehr nackt. Bekleidet nur mit einem Hammer in der Rechten. Ein Polizist, Kopf nach oben gereckt, in der Nackenfalte reflektiert der Schweißfilm. "Kommen Sie runter?", fragt er. Die Antwort von oben: Tok, tok, tok.
Mit dem Hammer schlägt sie auf die Ampel. Die Menschentraube hat die Smartphones justiert. Und wieder: Tok, tok, tok. Als wolle sie sagen: Die Ampel muss weg! Zwei Berufstrinker nicken anerkennend: "Nicht schlecht." Darauf ein Sterni.
Es kracht, ein Wohnmobil, Kennzeichen HSK, ist in einen Berliner Twingo gefahren. Die Beifahrerin, Mitte 60, schimpft mit dem Gatten. "Wo du wieder deine Augen hast." Von oben strahlt weiterhin der weiße Protest-Po. Wofür oder wogegen sich der Protest - um einen solchen handelt es sich doch wohl - richtet, bleibt unklar. Aber solange sie da oben steht, im Kreisverkehr, hat sie nicht verloren. Eine Art Viktoria, die Goldelse in Weiß, eine Kreuzberger Variante der Siegessäule. Die Nackte hämmert weiter auf die Ampel ein, dem Polizisten rinnt der Schweiß ins Hemd. Alle Fotos sind gemacht, das Bier ausgetrunken. Ein Sonntagvormittag am Kotti, der nackte Wahnsinn.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.02.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Sei Wedding!

Café Barrikade, Ecke Pankstraße. Aus den Boxen plärrt Punk, die Scheiben beschlagen. Trinker am Tresen, Studenten hinter der Süddeutschen. Im Hinterzimmer Kicker und Billard. Das Schild mit der durchgestrichenen Marihuanapflanze verschwindet im Kiffer-Qualm. Auf dem einzigen Stuhl sitzt einer, der mit Härterem zu kämpfen hat. Zittert, schwitzt und friert. Daneben steht sein Kollege mit Riesenjoint, erzählt, was falsch läuft in der Welt. Das Zittern des anderen scheint Bestätigung genug.
Am Kicker lehnt mein Freund, nennen wir ihn L. Er ist Weddinger und macht das öfter: lädt mich ein, um mir seine Welt zu erklären. Seine Welt: Wedding. Der Wedding bleibt hart, der Wedding bleibt rot. So geht das immer. Gerade hat L. Fahrt aufgenommen, da platzt der Riesenjoint in den Monolog. "Wollt ihr ein Handy kaufen? Hab’ ich über." Er zieht ein altes Sony Ericsson aus seiner Brusttasche. Wir verneinen. "Gebt ihr mir ein Bier aus?" Ich halte ihm meins hin, hoffe, dass er ablehnt. Er greift zu. Ob wir auch eine Zigarette hätten, fragt er. L. hält ihm den Tabak hin. Der Typ schaut auf das Bier in der einen Hand, den Joint in der anderen. L. dreht ihm eine. Das eben angebotene Handy klingelt. Der Typ geht ran, nimmt die Zigarette und geht ab. "Sorry Jungs." Am Tresen trinkt er mein Bier aus, raucht die Kippe von L. und brüllt Beleidigungen gegen Hertha und die Welt ins Handy. Wedding bleibt Wedding.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.12.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Endlich zuhause

Aus dem Hamburger Exil zurück in Berlin. Heimatgefühle, endlich wieder offene Pöbeleien statt hanseatischer Ignoranz. Ankunft am Südkreuz. Die Ringbahn natürlich verspätet, ich beschwere mich am Schalter. Auch noch am falschen, dem von der Deutschen Bahn. Sichere Nummer, bestimmt werde ich angeschnauzt, wie sonst im Bus, wenn ich eine Einzelfahrkarte mit einem Zwanziger bezahlen will. Der Mann am Schalter schaut auf, hebt die Hände und dann - Überraschung! Er entschuldigt sich. Was ist hier los? Soll ich ihn für das schlechte Wetter verantwortlich machen? Die Bahn kommt, ich lasse die anderen Fahrgäste nicht aussteigen, drängle mich als Erster hinein. Jetzt aber, denke ich, volle Berliner Breitseite, ich bin bereit. Doch nichts geschieht. Die Bahn ist voll, kaum ein Platz frei. Trotzdem stelle ich meine Tasche auf den Nachbarsitz. Ein Arbeiter steigt zu, sieht den fast freien Platz neben mir. Er bleibt stehen, kein Wort. Verdammt, denke ich, was soll ich denn noch machen? Einfahrt S-Bahnhof Sonnenallee. Aus dem Fenster sehe ich den Dönerladen, die S-Bahn-Klause. Die Türen gehen auf. Direkt vor mir ein schon ordentlich angezündeter Obdachloser. Als ich aussteige, glotzt er mich an, wie den Typen, der ihm das letzte Sterni vor der Nase weggekauft hat. Er holt tief Luft und brüllt los: "Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mir gerade noch gefehlt. Wichser!" Endlich, denke ich, endlich zuhause.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 12.10.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ungleicher Kampf

Alt-Neukölln gegen Neu-Neukölln vor den Arcaden an der Karl-Marx- Straße. Ein junger Mann, knapp zwei Meter lang - mit Hipster-Insignien: Tight-Jeans zu zu tief Ausgeschnittenem, Bart und Jutebeutel - steht an der Ampel. Ein Mann, etwa 40, Typ Malocher, verschwitzt, Filterlose im Mundwinkel, rennt auf ihn zu: "Verdammt, du Hurensohn, ich hab gesagt, geh da weg!" Der Akzent: osteuropäisch. Der Auslöser für den Streit: ungewiss. Gewiss nur, dass es hier gleich knallt, und zwar richtig. Der Alt-Neuköllner packt den Neu-Neuköllner am Kragen. Er muss hochschauen, zwei Kopflängen trennen die beiden Männer. Der Alte schlägt aufwärts, dem Jungen mit offener Hand ins Gesicht. Der Junge, perplex, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Nichts in seinem Leben in, sagen wir, der ostwestfälischen Provinz scheint ihn darauf vorbereitet zu haben, hier am helllichten Tag auf die Schnauze zu kriegen. Das hier ist keine Klopperei mit dem Jan-Lennart, damals, im Herforder Kindergarten, Ende der 80er. Keine Gewalt, das merkt er jetzt, während die Schellen auf ihn einprasseln, ist auch keine Lösung, zumindest nicht sofort. Aber er steht es durch, stoisch, bis der Alte von ihm ablässt. Der Neu-Neuköllner geht weg. Schaut sich noch einmal um. Ein paar Jahre noch, scheint sein Blick zu sagen, dann sind hier die letzten Wohnungen kernsaniert. Alt-Neukölln wird es dann nicht mehr geben.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.05.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zurückgeschissen

Mittwochabend, Neukölln, Rixdorf. "VoKü" steht mit Kreide auf der Tafel vor der linksalternativen Sperrmüllmöbelkneipe. Zwei Euro für eine warme Mahlzeit. Kartoffeln an Karotten-Paprika-Pampe. Die Bierbänke ächzen unter der Last der studentisch-alternativen Hinterteile. Platz findet lang nicht jeder. Die mampfende Masse säumt den Gehweg bis zur Galerie, die vor einiger Zeit zwei Häuser weiter aufgemacht hat. Im Fenster der Kneipe hängen Poster: "Homophobia kills", "Kein Ort für Nazis".
Gegenüber ein Seniorenheim. Rentner schauen durch gehäkelte Gardinen auf das junge Treiben. Eine alte Frau tritt heraus, den Dackel im Anschlag hinter sich herziehend. "Verdammt noch mal", brüllt sie, als sie sich an den Billig-Essern vorbeiquetscht, "wir müssen hier durch!"
Niemand rührt sich. Der Gesichtsausdruck der Frau rangiert irgendwo zwischen Verachtung und Hass, der Dackel schnappt nach einer Kartoffel. Sie gehen um die Ecke, ein paar Leute holen sich Nachschlag. Nach einigen Minuten kommt Frauchen samt Dackel zurück, gelassener jetzt, erleichtert, als sei ihr Plan aufgegangen. Ein Blick in die Straße, aus der sie kamen, und die Vorahnung wird Gewissheit: Ein frischer Haufen Hundescheiße thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Bürgersteig. Seit Mittwochabend, 21.30 Uhr, wird zurückgeschissen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.04.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Fenster zum Hof

Neukölln, vierter Stock, Vorderhaus, Blick nach hinten raus. Zwischen vier Häuserwänden - zu viel Beton, zu wenig drüber - erwacht das, was man nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Frühling. Ein Blick aufs Thermometer, neun Grad. Alles über null Grad ist Frühling. Berlin war lange eine geteilte Stadt, ist es noch heute. Nicht mehr durch eine Mauer, doch durch die Jahreszeiten. Im Winter ist alles DDR, Plattenbau und grau. Im Sommer supergeil, Party und Spree.
Also, Fenster auf, Frühling rein, Winterdepression raus. Die von gegenüber hatten die gleiche Idee. Musik ertönt. Bonnie Tylers "Total Eclipse of the Heart". Die aus dem zweiten Stockwerk schießen zurück. Drum and Bass. Zwischen zwei wummernden Basssalven schmalzt Bonnie Tyler: "And I need you now tonight / And I need you more than ever!" Irgendwo brüllt ein Kind. Im Hinterhof verliert eine Bierflasche den Kampf gegen die Betonwand.
"Schnauze", brüllt einer in den Soundteppich. Der Bonnie-Tyler-Fan schreit zurück. "Halt’s Maul!" Jetzt kommt mir allmählich die Erinnerung. Frühling in Berlin, das bedeutet Kampf. Kampf um den öffentlichen Raum. Kampf um die Musikhoheit im Hinterhof. Bonnie Tyler bäumt sich ein letztes Mal auf: "But now there’s only love in the dark / nothing I can say / a total eclipse of the heart." Ich schließe das Fenster, ziehe die Vorhänge zu. In sechs Monaten, denke ich, ist der Spuk wieder vorbei.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 23.02.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Total ausgerastet

Donnerstagmorgen, 9 Uhr, krachendes Erwachen. Trillerpfeife, Megafon, Sirene. Ein Blick aus dem Fenster - Kreuzberg: Lausitzer, Ecke Wiener Straße - und die Gewissheit: Demo. Auf beiden Seiten der Absperrung die Krieger für die Schlacht gerüstet. Und ich will nur nach Hause, nach Neukölln, Rixdorf. Vom Kottbusser Tor mit der U8 zum Hermannplatz, dann den 41er. Jetzt aber: Rein ins Getümmel.
Aus dem schwarzen Block hört man etwas von Scheiß-Gentrifizierung, Steine fliegen nicht, nur eine kleine Wodkaflasche. Angeheitert schmeißt sich’s besser. Die Passanten retten sich mit mir in die U-Bahn. Hermannplatz, Umsteigen. Zwei junge Studentinnen haben den gleichen Weg. Die eine zückt ihr Handy. "Ja, war krass", sagt sie ins Telefon. "Die Bullen sind total ausgerastet, ohne Grund, Tränengas und alles." Die Freundin nickt stumm. Bestätigung. Dass die Demo da gerade wirklich krass war. Und sie mittendrin.
"Hast du mich im Fernsehen gesehen?", fragt sie ins Handy. "Ich habe mich extra auf eine Säule gestellt." Nee? Na ja, schade. Themawechsel, irgendwie. Sie, die Freundin am Telefon, müsse unbedingt mal die neue Wohnung anschauen. Ein Zimmer, Nähe Weserstraße, nicht ganz billig, 400 Euro, aber "so, so schön". Mit abgezogenen Dielen. Total toll.
Schade eigentlich, denke ich, dass ich die Wodkaflasche nicht aufgehoben habe. Ich hätte jetzt so gerne etwas, um es zu schmeißen.

Dominik Drutschmann

Erschienen am: 18.04.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
VERDAMMTE GENÜGSAMKEIT

Im Saunabereich der Turngemeinde Berlin gelten zwei Regeln: Schnauze halten und nicht aufs Holz schwitzen. Auch schon vor Corona sollte jeder seine Ausdünstungen ins eigene Handtuch absondern. Die bestätigende Ausnahme kommt im Körper eines Ü80-Jährigen daher. Er steht auf der Saunabank, Schweiß tropft aus jeder Pore, das Holz unter ihm färbt sich dunkel. Niemand sagt etwas. Nach der Dusche sitzt der Alte in der Umkleide, die Lebenserfahrung tief ins Gesicht gezeichnet. Er schaut mich an, während er Körperlotion großflächig über seinen Kopf entleert. „Ich hab eine Wohnung verkauft. 90.000 Euro.“ Er hält inne, ein Blick wie eine Blutgrätsche, die Körperlotion läuft das welke Fleisch hinunter. „90.000 Euro und weißt du, was die Scheiße ist?“ Ich weiß es natürlich nicht. „Dass die Scheiß-Kohle jetzt so rumliegt.“ Er schüttelt den Kopf, greift in seine Sporttasche und holt eine Malerrolle heraus, Typ: filigrane Eckenarbeit. Er schaut mich weiter an, milder jetzt, vielleicht auch resigniert und beginnt, die Körperlotion mit der Malerrolle vom Kopf gen Süden zu verteilen. Renovierungsarbeiten am eigenen Körper. Dazu eine Lebensweisheit. „Das schlimmste am Alter ist die verdammte Genügsamkeit“, sagt er. Früher, da hätte er die Kohle nur so rausgehauen. Und jetzt? Jetzt wolle er nichts mehr. Auch, weil er nicht mehr könne. Er verreibt die letzten Überbleibsel der Lotion auf seinem Rücken. „Junge“, sagt er zum Abschied, „mach‘s gut.“ 
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.12.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
KEIN DÖNER LAND IN DIESER ZEIT

Neukölln an einem Donnerstagvormittag. Der Lidl an der Ecke Flughafenstraße hat sich hübsch gemacht. Wiedereröffnung. Sogar der Security-Typ strahlt. Einkaufen war dort auch früher ein Erlebnis. Vielleicht wird es jetzt ein erfreuliches. Also rein und staunen. Gut ausgeleuchtete Discounter-Südfrüchte, dazu vegetarische Burger-Pattys aus Eigenproduktion, hinten links die Deluxe-Produkte-Ecke. Von dort droht jetzt Ärger im neuen Einzelhandelsparadies. Eine Mutter, Hidschab und Hackenporsche, zerrt ihre Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, in Richtung Ausgang. Die aber stockt in ihrer Empörung. Sie packt den angefangenen Döner in die Alufolie, als ob sie versuchen würde, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Mutter zerrt, die Tochter klagt: „Seit wann darf man in Lidl kein Döner essen?“ Und dann: „Ist Lidl jetzt High Society oder was?“ Die Umstehenden: vereint im Lachen über die rechtschaffene Empörung, über die Absurdität des schönen Schein. Komik war immer schon das schärfste Schwert der Unterdrückten. Und auch im neuen Glanz des Lidl funktioniert es. „Ach komm“, sagt die Verkäuferin zum Mädchen, „iss deinen Döner“.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.09.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Erde so frisch

Dienstagnacht im Sandmann in Neukölln. Hinten ist schon das Licht aus. Das ist jetzt wirklich das letzte Glas. Zum Abschied holt die Bardame einen Flyer hervor, darauf der Hund, der immer im Eingangsbereich lag. Eine Traueranzeige. Der Hund ist tot. Vor der Kneipe, am Stamm der Weide, zwei in Plastikhüllen verpackte Fotos. Wieder der Hund, die Augen rot von Herrchens Fotoblitz.Irgendwer hat Blumen gepflanzt, die Erde ist noch frisch. Plötzlich steht eine Frau neben mir, Ende 50, lange Zigarette, Hund an der kurzen Leine. Bestürzung im faltigen Gesicht. „Das war doch der Spock“, sagt sie. „Wie bitte?“ „Das war der Hund von dem Mann, der da immer am Tresen saß. Und jetzt tot.“ Sie beginnt zu schluchzen, „schlimm ist das“. „Aber der Mann lebt noch“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ja“, sagt sie, die Tränen laufen, „aber das ist immer so: Erst Hund, dann Herrchen. Das dauert nicht mehr lange. Und dann ist der auch tot – schlimm ist das.“ Wie verweilen einen Augenblick, schauen stumm auf die Weide, auf die Fotos in den Plastikhüllen, die frischen Blumen. „Aber Ihrem Hund geht's gut?“, frage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und sagt nur ein Wort: „Krebs.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ordnungshüter

Ein Montagmittag an der Kreuzung Hermannplatz. Die Linksabbieger sind durch, die Autos auf der Hermannstraße stehen noch wenige Sekunden. Ein Mann um die vierzig, offener Mantel, fettiges Haar, überquert die Straße bei Rot. Was er nicht gesehen hat: dass hinter ihm ein Polizist in Hundertschaft-Kampfmontur steht. Dieser ruft ihm hinterher: Hallo! Keine Reaktion. Da überquert der Beamte nun ebenfalls die Straße, was er nicht gesehen hat: dass die Autos von der Hermannstraße jetzt Grün haben. Vollbremsung, Hupkonzert. Der Polizist hebt die Arme, als wolle er sagen: "Verdammt, ich mach hier nur meinen Job." Auf der anderen Straßenseite empfängt ihn eine junge Mutter mit Kinderwagen und Vorwürfen. "Sie sind ja ein tolles Vorbild." Ignorieren, weiter dem Rotgänger nach. Auf Höhe McDonald’s kann der Hüter der Ordnung ihn stellen. Er redet auf ihn ein, der ungewaschene Schopf nickt verständig. Was der Polizist dabei nicht sieht: dass er auf dem Radweg steht. Zwei Radfahrer halten auf ihn zu, klingeln und pöbeln. Der Polizist will hinterher, hat zu Fuß aber keine Chance, bricht nach wenigen Metern ab. Der Rotsünder hat sich indessen entfernt. Die Grünphase ist wieder vorbei, die Straße noch frei. Für einen Moment überlege ich, hinüberzugehen. Aber das will ich dem armen Mann nun wirklich nicht antun.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Imbisspolizei

Ein Mittwochnachmittag um halb fünf an der Hasenheide. Der verdammte Job hat länger gedauert, der Kollege und ich müssen jetzt dringend zu Mittag essen. Sonst ist die Laune im Keller. Bei Hamy, dem Vietnamesen, ist es übervoll, also zum Mitnehmen. "Können Sie bitte draußen warten?", fragt der Kellner. Eigentlich ungern, aber gut, jetzt nicht auch noch Streit anfangen. Stattdessen vor der Tür eine rauchen. Zwei Polizisten gehen an uns vorbei, direkt in den Imbiss. Die Zigarette ist noch nicht aufgeraucht, da kommen die beiden wieder heraus, in der Hand eine Plastiktüte mit Essen. "Entschuldigung", rufe ich ihnen hinterher, "aber haben Sie vorbestellt?" Nein, sagen sie, hätten sie nicht, das sei ganz schnell gegangen. Kippe aus und rein in den Laden. "Werden Bullen hier bevorzugt oder was?" Der Mitarbeiter schaut erst mich an, dann auf seinen Zettel - und wieder hoch. Ich will gerade erneut ansetzen, da rennt der Kellner an mir vorbei auf die Straße. Ich hinterher. Der Polizeiwagen ist gerade am Ausparken, der Kellner klopft an die Scheibe, die Tür öffnet sich, und er entwendet den Beamten das Essen. Lachend kommt er zurück und drückt mir die Tüte in die Hand. "So geht’s ja nicht", sagt er und geht wieder in seinen Laden. Das Polizeiauto passiert uns, die Gesichter im Innern sehen hungrig aus.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.03.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kann bassieren

Ein früher Dienstagnachmittag. Das Visum für Russland liegt zwar bereit, erfahre ich am Telefon, aber für heute hat die Pass- und Visastelle in Mitte schon geschlossen. Morgen wieder, werde ich vertröstet. Das Problem: Ich bin viel zu spät dran, wie immer. Und schon morgen geht mein Flug. Nach minutenlangem Bitten und Betteln kommt der kulante Vorschlag: "Na, dann kommen Sie ausnahmsweise heute um 15 Uhr vorbei." Da stehe ich also vor der Glasscheibe und versuche der Dame am Empfang den Sachverhalt zu erklären. "Ich möchte meinen Pass abholen und soll in Zimmer 0.3.05 gehen." "Ich darf Sie nicht alleine durchs Gebäude gehen lassen", lautet die Antwort hinter der Scheibe. "Na, dann stellen Sie mir jemanden zu Seite", schlage ich vor. "Der war gut", sagt die Empfangsmitarbeiterin. Sie lächelt nicht, greift aber zum Telefonhörer. Warten. Nach etwa zwei Minuten eilt eine Frau auf uns zu, den Pass in der Hand. "Was soll das denn? Ich habe für soetwas keine Zeit", ärgert sich die Frau mit meinem Pass an die Scheibe gewandt. "Warum haben Sie den Mann nicht hochgeschickt?" Schulterzucken. Die Frau übergibt mir den Pass und geht ab. Die Dame hinter der Scheibe setzt zur Entschuldigung an. "Das tut mir leid", sagt sie. "Ich habe Bass verstanden. Und mich schon gewundert, wer hier Bass spielt."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 10.02.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kopf in Wand

Samstagnachmittag, vierter Stock in einem Neuköllner Hinterhaus. Die zweite Halbzeit der Bundesligakonferenz läuft im Radio, da klingelt es an der Tür. Mutti hatte sich angekündigt. Aber jetzt schon? Wollte doch noch aufräumen, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen. Schon klingelt es erneut. Tür auf und herein kommt das Chaos im Blaumann. Wasserschaden, bei der Nachbarin im Zweiten. Die Stimme laut, der Ton duldet keinen Widerspruch. Dass die verdammte Heizung dem Klempner den Samstag verhagelt, steht zwei Furchen tief in sein Gesicht geschrieben. Zehn Sekunden später balanciert er auf meinem Badewannenrand, eine Säge in der Hand. "Was machen Sie da?", frage ich. Die dritte Furche meißelt sich in sein Gesicht. "Ein Loch." Sagt er und sägt ein Rechteck in den Rigips. Aber es ist zu klein: Beim Versuch, seinen Kopf in die Wand zu stecken, bleibt er hängen. Sein Gesicht jetzt eine einzige Furche. Fluchen, nachjustieren, Kopf in die Wand. Er redet weiter, doch der Rigips verschluckt seine Worte. Kopf raus, runter in den zweiten Stock, wieder zurück, Kopf in die Wand. So geht das eine ganze Weile. Keine Ahnung, sagt er schließlich und geht. Das Bad ein Schlachtfeld, durch das Loch blickt man auf Mauerwerk. Es klingelt. In der Tür steht Mutti. "Wie sieht’s hier denn aus? Da ist ja ein Loch in der Wand! Junge, muss ich mir Sorgen machen?"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.11.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Haarige Angelegenheit

In der U8 von Osloer Straße bis Hermannplatz. Je südlicher, desto bärtiger, ab Kotti sind die Glattrasierten in der Minderheit. Zwei Jungs, nicht älter als zwölf, unterhalten sich auf Türkisch. Keine Ahnung, worum es geht. Aber dringlich ist es, zumindest für den einen. Dessen Stimme wird lauter, der Freund versucht ihn zu beruhigen und bewirkt doch eher das Gegenteil: Wut spült erste Tränen in die Augen. Der Freund fasst ihm an die Schulter, aber auch diese Berührung hilft nicht. Was hat er bloß? Die beiden diskutieren weiter. Wenn das eskaliert, sage ich zu mir selbst, werde ich dazwischengehen. Und wenn ich dafür bis zur Endhaltestelle Hermannstraße fahren muss. Nächster Halt Schönleinstraße. Vom Türkischen geht es über in eine Melange aus Landes- und Muttersprache. Jetzt hat auch der Besonnene die Schnauze voll: "Was ist denn dein Problem?" Der Freund wischt sich die Tränen aus den Augen, funkelt seinen Kumpel an, kommt ihm näher und näher, deutet dabei immer wieder auf sein Gesicht, als wolle er dem Gegenüber zeigen, wohin er gleich schlagen werde. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der beiden Streitenden. "Oglum", ruft er da, "ich habe den miesesten Bartwuchs meiner Familie." Kurzes Schweigen. "Selbst meine Mutter hat mehr." Der Freund klopft ihm auf die Schulter: "Wird schon."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.10.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Brauchst du, Bruder?

Neukölln, Reuterstraße Ecke Karl-Marx-Straße, ein Sonntagabend. Die Tankstelle, sonntags zuverlässigste Adresse für Getränke-, Tabak- und sonstige Notversorgung, ist frisch renoviert, innen bestens ausgeleuchtet. Vor der Tür, abseits des Lichtkegels, der herausfällt, steht ein Mann, gepflegter Vollbart zu ausrasiertem Nacken, und betankt sein Auto. Aus dem Nichts erscheint ein weiterer, die Jacke flattert ein paar Nummern zu groß um seinen Körper. Er hat einen Karton unterm Arm. "Bruder, brauchst du Messer?" Vielleicht gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem das völlig normal ist, Fremde beim Tanken in einen Messerdeal verwickeln zu wollen. Dieser ist es nicht. "Ich will deine scheiß Messer nicht." Vielleicht ist der Mann aus der Dunkelheit Messerverkäufer, der diese Woche seine Quote nicht erreicht hat. Und jetzt noch diesen einen verdammten Karton verkaufen muss -
Messerset, zwölf Stück. Er zieht eines heraus. "Verpiss dich", sagt der andere und geht bezahlen. Der Verkäufer, das Messer noch in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet, schaut mich an. "Bruder, brauchst du Messer?" Ich muss lachen, fast hysterisch. Das erschreckt ihn so sehr, dass er zurückweicht. Instinktiv gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Lache noch immer. Da dreht sich der Mann um, elf Messer unterm Arm, eins in der Hand, und rennt davon.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.04.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Hund

Samstagabend in einer Neuköllner Eckkneipe. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber einige Gäste sind schon ordentlich angezündet. Im hinteren Teil feiert jemand Geburtstag, unangemeldet, die Kellner sind genervt. Im vorderen Teil tummeln sich ein paar Party-Touristen, die einmal zu oft aufs Klo gehen. Von all dem unbeeindruckt liegt in der Mitte des Raums ein Hund. Es heißt, dass sich Hunde in fremden Umgebungen immer den Platz aussuchen, von dem aus sie den besten Überblick haben. Ein Instinkt, der nicht totzuzüchten ist, offenbar steckt er selbst noch in diesem Exemplar Hund, einem Dackel mit Gewichtsproblemen, der wie eine Wurst aussieht, wenn auch eine sehr unförmige Wurst. Der Hund ruht unbewegt im Epizentrum des samstäglichen Kneipenerdbebens. Teilnahmslos auch dann noch, als ein Gast ihm beim Bierholen auf den Schwanz tritt. Hund zuckt nicht, Herrchen schon. Das ist mein Hund, sagt Herrchen. Der Treter ist perplex, nimmt den Dackel jetzt zum ersten Mal wahr, Ausfallschritt passend zur Ungläubigkeit. Sein Blick löst sich erst nach einigen Sekunden vom Hund, wandert hoch zum Herrchen, ein letztes Konzentrationsaufbegehren gegen das alkoholbedingte Wegdämmern, sein Mund formt Worte: "Was der Mensch aus dem Wolf gemacht hat", lallt er, "ist eine verdammte Tragödie!"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.01.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zigarettenlänge

An einem Freitagvormittag, Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Das Kind auf der anderen Straßenseite, nicht älter als vier, im Schneeanzug, ist gerade in sich zusammengefallen. Es kniet und schreit. Blick gen Himmel, die Nase läuft, Rotze droht an der Lippe festzufrieren. Der ganze Schmerz dieser Welt, vereint auf einem Meter Wohlstandsgör.
Was es hat? Man weiß es nicht. Was es sicher nicht bekommt: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Der sitzt 50 Meter weiter im Tramwartehäuschen und raucht. Typ Waldschrat in Funktionskleidung. Doch es ist das falsche Pflaster für derlei Sorglosigkeiten in der Kindererziehung. Auftritt der Mütter. Erst auf den Jungen eingeredet, dann den Vater ins Verhör genommen. Ist das Ihr Kind? Nicken. Wollen Sie sich nicht um den kümmern? Zug an der Zigarette, Kopfschütteln. Empörung am Retro-Kinderwagen. Jetzt gerät der rauchende Vater ins Rotorblatt der Helikoptererziehung, manikürte Finger fuchteln vor seiner Nase.
Irgendwann ist auch mal gut, und das ist jetzt. Kippe weggeschnippt, aufgestanden, Ansage: "Geht mir nicht auf den Sack. Kümmert euch um euren eigenen Scheiß." Stille, auch das Kind hält inne. Die Mütter sehen so aus, als wollten sie sich irgendwo beschweren. Bloß wo? Bevor das ganze Eskalationspotenzial dieser Szene zum Tragen kommt, schlichtet das Kind: Es ist aufgestanden. Papa, komm, sagt es. Und Papa kommt. Manchmal braucht es nur eine Zigarettenlänge.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 17.09.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Ratte

Ein Dienstag in Kreuzberg. Am Hermannplatz, hinter dem Karstadt, verbindet ein Parkplatz die Urbanstraße mit der Hasenheide. Radfahrer und Fußgänger benutzen ihn als Abkürzung, zum Ärger der Autofahrer. Hinter der Schranke hupt jetzt einer, wie zum Beweis. Vor ihm steht ein Fußgänger, Anfang 20, in der Hand ein Handy, zwischen Opel und Skoda auf der Jagd nach Pikachu. Er spielt Pokémon Go.
Ich verachte sie ja, diese nach dem Mauerfall Geborenen, die als Reminiszenz an ihre Jugend mit dem Handy ihre alten Gameboy-Helden in der realen Welt suchen; dieses Abkulten der eigenen Vergangenheit, obwohl die erst ein paar Jahre zurückliegt. Wie gönne ich es dem Typen, vom Fahrer des Autos angebrüllt zu werden, ehe der wütend weiterrast in Richtung Stellplätze.
Vor der Schranke auf dem Boden ein Gulli. Zwischen den Gitterstäben, durchnässt, die Augen aufgerissen, halb im Schacht, halb an der Oberfläche, eine tote Ratte. Und plötzlich liegt genau da auch eine Kindheitserinnerung für mich. Ich denke an Splinter, die Ratte aus den "Ninja Turtles". Sofort habe ich den Titelsong im Ohr, Frank Zander, die 80er: "Immer auf der Lauer - und immer etwas schlauer."
Ein Hupen reißt mich aus der Sentimentalität. Das Auto kommt auf der Ratte zum Halten. Entgeistert sehe ich den Fahrer an - und merke gar nicht, dass ich im Weg stehe. Vollidiot, sagt er und fährt davon, geradewegs zu auf den Typen, der sein Pokémon sucht.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.07.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Oma-Trick

An einem Samstagmorgen in Neukölln. Es ist kurz vor neun. Eine Frau mit Blumenkohlfrisur zieht ihren Hackenporsche in entgegengesetzter Richtung zu einem Pärchen, das sich wohl in der Nacht gefunden hat. Zumindest in der jungen Frau kommen aber jetzt offenkundig Zweifel auf, ob die Entscheidung im Licht noch standhält. Er sucht Nähe, sie Abstand. Davon unbeeindruckt steht zwischen Lidl und Bankfiliale ein Obdachloser und klirrt mit dem Becher.
Eigentlich ein guter Platz, doch der Mann ist schlecht drauf. Er schaut auf den Wahlkampfstand vor sich. Zwei Omis mit randlosen Brillen, die eine lila Haare, beide AfD. "Scheiße", sagt er, als ich ihm Kleingeld gebe, "was wollen die hier?" Es ist schlecht fürs Geschäft. Dazu noch diese miese Masche, mit freundlichen alten Damen aufzufahren. Da ist man als politischer Gegner gleich gehemmt. Alte Frauen anschreien, wie sieht das denn aus. Der Oma-Trick.
Der Schnorrer jedenfalls ist jetzt auf Betriebstemperatur. Sein Hund steigt mit ein. Ein zweistimmiges Bellen gegen rechts. "Ich werd mit den Linken nach Marzahn gehen und mich schön bei den Faschos vor die Tür setzen." - "Wuff!" Der Mann lacht auf, zwei Reihen reines Zahnfleisch. "Ich mach mit", sage ich, eine Spur zu übermütig. Das findet er so gut, dass er mir was vom Tetra-Wein anbietet. "Ein andermal", sage ich, "lass dir den Tag nicht versauen." Wieder das zahnloses Lächeln, schiefer Blick zum Stand. "Jedenfalls wird mir nicht langweilig."

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.05.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Happy Meal

Im Erdgeschoss der Neukölln Arcaden an einem Samstag. Die Schlangen vor Sparkassenautomaten und Postschalter haben sich ineinander verheddert. Eine 50-Personen-Polonaise mit einem Ursprung und zwei Enden.
Dahinter ein McDonald’s, am Schalter ein Familienverbund, drei Generationen Hunger. Der Junge, vielleicht zehn, im Jogger und grauem Sweatshirt. Darauf steht Bronx, geschrieben: BRNX. Mutti trägt eine dieser Frisuren aus ihrer Jugend, also den Achtzigern, die so aussehen, als hätte jemand den Cesar-Hund aus der Fernsehwerbung blond eingefärbt und ihr auf den Kopf gesetzt. Dazu stilsicher: Leopardenprint- Oberteil, passender Gürtel, weiße Lederhose. Stiefel über der Hose. Oma sitzt auf dem Rollator, regungslos, Honecker-Brille, kein Retromodell.
Mutti kommt vom Fast-Food-Schalter. Auf den Tüten in der Hand steht Happy Meal, in ihrem Gesicht das Gegenteil. Oma wollte nur Pommes, keine Bulette. Ihr Blick sagt: Was habe ich bloß falsch gemacht? Mutti lädt den Weltfrust generationsübergreifend auf den Jungen ab: Finger weg, gegessen wird zu Hause. Und da geht’s jetzt hin.
Mutti bodychecked eine Schneise in die Polonaise. Oma hinterher: Sehen Sie nicht, dass ich behindert bin? Der Bronx-Junge fingert am Happy Meal. Und Mutti hat die Schnauze voll. "Schluss jetzt. Sonst war’s das mit Happy Meal." Die Drohung wirkt. Der Junge schmollt. Und die Polonaise sortiert sich neu.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.04.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Rausschmeißer

Samstagabend im Sandmann, Reuterkiez. Vom Tisch rechts neben der Tür hat man den besten Blick auf diese Weltklassekneipe. Ein schöner Dreischritt: Vorne am Tresen das menschliche Thekeninventar über 60 neben ein paar normalen Stammgästen unter 60. Im Zwischenraum die Hipster. Und im Billard raum das in sich geschlossene Biotop aus Kiffern und Kneipensportlern.
Nur einer schwebt an diesem Abend durch die Zonen. Sein Auftreten: eine Mischung aus Jimmy Page und Jerry García mit einer Prise Rainer Langhans. Graue Mähne, Bart, viel zu weit aufgeknöpftes Hemd, Hippie- Amulett um den Hals. Er geistert durch die Räume, sucht Blickkontakt. Wer den zu lange erwidert, bekommt Lebensweisheiten.
Er wirkt selbst hier, wo die Zeit, so gut es geht, angehalten wird, wie aus ihr herausgefallen. Ein Guru ohne Gläubige. Ein Mann ohne Mission. Bis irgendeiner ausfällig wird. Die Bardame zetert, der Guru kommt ungefragt zur Hilfe. Besänftigt, streicht mit seinen Gitarristenhänden dem Aufgebrachten über die Schulter. Er nimmt den Mann, der ihn um ein paar Köpfe überragt, an die Hand und führt in aus der Kneipe. Ein paar Minuten später kommt er wieder rein, blickt sich um, sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat seine Bestimmung gefunden. Mit dem Belohnungs- Weizen mäandert er wieder im Raum zwischen Theke und Tischen. Der Guru hat seinen Platz gefunden. Er ist jetzt Rausschmeißer.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.03.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Finger in die Wunde

Freitagabend in den Sophiensälen. Im ersten Stock laufen auf Flatscreens Erfahrungsberichte von Menschen, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Es geht um Sex, Vitrinen, Blut. Eine ganz normale Kunstausstellung an einem beliebigen Freitag. So ganz habe ich den Sinn noch nicht erfasst, da finde ich mich schon auf einer Liege wieder. Die brüchige Decke anstarren, während mir eine Wunde an den Hals geschminkt wird und sich Performer mit grünen Haaren und John-Lennon-Gedächtnisbrillen über mich beugen. Eine Art Vorspiel zum Aliensex?
Was in den Wänden der Sophiensäle normal erscheint, ist ein paar Stunden später in der U 8 ab Weinmeisterstraße eine Attraktion. Nur habe ich durch den ganzen Kunstkram und anschließenden Biergenuss völlig verdrängt, dass ich den Hals offen habe. Der Platz neben mir bleibt frei. Besorgte Blicke, Getuschel. Hä, warum eigentlich? Unangenehm! Ausstieg am Hermannplatz. Vor mir teilt sich die hineindrängende Menschenmenge. Dann die Spiegelung in der Scheibe des U-Bahn- Bäckers. Verdammt, was ist das denn? Ich fasse in die Wunde, Kunstblut am Finger. Die Leute umkurven mich großräumig. "Guck dir den besoffenen Spasti an", sagt einer. "Das ist Kunst!", rufe ich, Blut an Hals und Finger, und sehe damit ziemlich genau so aus, wie der Typ gesagt hat, völlig am Ende. Kunst, denke ich, du bockiges Pferd der Uneindeutigkeit. Für dich ist kein Raum hier am Hermannplatz.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.09.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Angelo

Freitagabend, kurz nach elf, Neukölln. Vor der Haustür steht ein Pärchen. Ich nicke zum Gruß, schließe die Tür auf, da tritt der Mann an mich heran. "Angelo?" Nö, sage ich, will weiter. Seine Hand an meinem Arm. Wo wohnst du? Hinterhaus. Welcher Stock? Vierter. Kennst du den Mann aus dem dritten Stock? Nein. Das Pärchen schaut mich ungläubig an. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Von einem Rennrad, im Internet gekauft, das sich als Schrott entpuppte. Jetzt wollen sie ihr Geld zurück, die Spur führt in mein Haus, zu Angelo. Das tut mir zwar leid, nur helfen kann ich nicht. Abgang. Im Hinterhof schließe ich mein Rad ab, da steht das Pärchen plötzlich auch dort, hinter mir durch die Haustür geschlüpft. Sie lächeln mich an. Was macht ihr hier? Wir checken nur die Lichter. Welche Lichter? Deine. Ich bin nicht Angelo, verdammt, ich heiße Dominik. Vorbei an den beiden gehe ich ins Haus, hinter mir höre ich Schritte, ich schaue hinunter. Das Paar kommt mir nach. Ich bin nicht Angelo, rufe ich. Gehe schneller, nehme jetzt zwei Stufen auf einmal. Keine Antwort. Ich schwitze. Stoisch stampfen sie auf den Stufen unter mir. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Panik kommt mir lächerlich vor. Aus dem Fenster der Blick in den Innenhof. Das Pärchen geht, na endlich. Da kommt jemand. "Angelo?", höre ich die beiden fragen. "Ihr schon wieder", sagt der Nachbar, "verpisst euch endlich." Dann geht er ins Haus. Unter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Huphass

Dienstagmittag, Hermannstraße, Ecke Flughafenstraße. Mit dem Fahrtwind auf dem Rad ging es gerade noch, jetzt aber, an der Kreuzung stehend, sengt die Sonne das Hirn zu Brei. Es wird grün. Und es hupt. Quäkend, nervig, aggressiv. Je wärmer es wird, desto häufiger hupt es auf Berlins Straßen. Der Freundin neben mir schwillt die Ader, 47 Kilo Wut klingt nicht nach viel, kann sich aber zu einem Tsunami der Verachtung hochschaukeln. Die Welle rollt, ich surfe mit auf dem Hasskamm. Also los, in die Pedale treten, dem hupenden Rollerfahrer nach. An der nächsten Kreuzung Dampf ablassen. Die Freundin: "Ey, hup mich nicht an, klar?" Der Rollerfahrer: "Ihr könnt mich mal!" Ich: "Du kannst uns mal!" Es wird grün, der Roller ab, hupend. Eine Schweißperle rinnt durch die Hassstirnfalten der Freundin. Nächste Ampel, nächste Konfrontation. "Das ist so asozial, was du da machst!" Es wird grün. Zum Abschied Stinkefinger aller Beteiligten. Wir biegen links ab in die Reuterstraße, der Roller ebenfalls. Vor meinem Haus halten wir, alle drei. Der Rollerfahrer steigt ab, guckt. Lacht. Und kommt auf uns zu. "Hallo Nachbarn! Tschuldigung, bin eigentlich nicht so aggressiv. Und selbst auch Radfahrer." Die Anonymität der Großstadt, in der Nachbarschaft nur die unmittelbarste Möglichkeit der Ignoranz bedeutet, sie löst sich gerade in Wohlwollen auf. Händeschütteln statt Stinkefinger. Grinsen statt Fluchen. Die Schweißperle auf der Stirn meiner Freundin rollt von der Hassfalte in die Lachfalte.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Durst

Samstagmittag, Wannsee, heißester Tag seit immer. Vorbei am Stadtbad zum richtigen See, Natur, unberührt. Denkste! Überall Badetücher, auf den meisten Menschen mit Bier. Sonnenbrandmotive zum Tribal auf dem Arm. Nicht mal ins Wasser kann ich flüchten, habe meine Badehose vergessen, und FKK ist nichts für meine Mutti ihren Jungen. Spaziergang also, die Gegend erkunden. Jede Einbuchtung besetzt, Handtücher als Grenze. Nach einer halben Stunde merke ich: Ich habe meine Wasserflasche vergessen. Der Wannsee ist an diesem Tag dicht wie Berufstrinker am Tresen, ein Geschäft hat aber noch niemand daraus gemacht. Kein Verkaufsstand weit und breit. Dafür ein kleines Häuschen am Wald, DLRG-Headquarter, auf der Terrasse Menschen beim Grillen. Habt ihr vielleicht ein wenig Wasser für mich? Nö, sagt einer und trinkt einen Schluck. Aber am Segelklub gibt’s was. Ab zu den Booten, durch ein Eisentor mit der Aufschrift "Nur für Mitglieder" zu einem Hausboot. Der Mann hinterm Tresen ist überrascht, jemanden zu sehen, im Kühlschrank Getränke satt. Drei Flaschen unterm Arm durch die Bucht zurück, vorbei an tausenden Sonnenanbetern. Jeder zweite fragt, woher ich die Getränke habe. Ich deute aufs Hausboot. Am Ende der Bucht drehe ich mich um. Der Steg zum Tor bevölkert von einer Horde Durstiger. Eben noch wie tot auf dem Badetuch, bewegt sich die träge Masse jetzt auf das Hausboot zu. Die Zombies vom Wannsee.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.07.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
B-U-L-L-E

Donnerstagabend, Karl-Marx-Straße, vor dem Spätkauf "Night Shop 44". Zwei Polizisten in Hundertschaft-Montur, Feierabend, endlich. Die Haare verschwitzt, den Helm in der linken Hand, rechts eine Zigarette. Neben den Neuköllner Nachtaktiven in zu kurzen Hosen sehen die beiden aus wie Robocops. Sehr müde Robocops. Hundertschaft, Scheißjob, einer muss ihn ja machen. Auftritt schwarzer Benz, schönes Auto, will gehört und gesehen werden. Vor dem Späti alle Parkplätze besetzt. Zweite Reihe parken ist Berliner Gesetz. Warnblinker an, Beifahrer springt raus, an den Polizisten vorbei. Die Miene unter den verschwitzten Haaren des einen Polizisten verfinstert sich. Er beugt sich runter, schaut durchs Seitenfenster den Fahrer an: "Du kannst hier nicht parken." "Komm schon, Bruder, ich bin gleich wieder weg." Der Polizist türkischstämmig, der Zweite- Reihe-Parker ebenfalls. Tiefer Zug an der Zigarette, funkelnde Augen: "Verdammt, ich bin nicht dein Bruder, nur weil ich ein Schwarzkopf bin. Ich bin ein Bulle, checkst du das? B-U-L-L-E!" Der Fahrer duckt sich weg, der rauchende Robocop sieht ihm fest in die Augen. Zwei stumme Sekunden vergehen, dann hebt der Fahrer die Hand: "Entschuldige, kommt nicht wieder vor." Er legt den Gang ein und ab. Der Beifahrer kommt mit Cola und Kippen aus dem Späti, sucht das Auto, sein Blick bleibt an dem Polizisten hängen. "Ich bin Bulle, verdammt." Das musste raus. Feierabend, jetzt aber, endlich.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.06.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kaboom

Samstagabend, Schöneberg, auf ein Bier in die Möwe. Einmetersechzig holzvertäfelte Heimeligkeit. Drucke vom Hamburger Hafen. Eine Möwe, überlebensgroß, hängt von der Decke. Zum Bier gibt es den passenden Bierdeckel. Ein Platz zum Verweilen. Nur zum Rauchen muss man raus. Ich schlängele ich mich am Treseninventar vorbei in Richtung Ausgang. Schon leicht angezündet kann ich mein Feuer nicht finden. Vor der Tür eine kleine Menschentraube, da wird schon einer dabei sein. Der da mit dem Hut vielleicht. Wer Hut trägt, der raucht auch. Entschuldigung, hast du Feuer? Der Hut dreht sich um. Zuckt mit der Nase, sein ganzes Gesicht runzelt. Oh Gott! Helge Schneider! Jugendheld und Quatschvorbild. Neben ihm Sergej Gleithmann, der Pina Bausch des deutschen Jazztanzes, Riesenbart zur Halbglatze. Ich merke, wie sich mein Gesicht zu einer grenzdebilen Maske verzieht. Feu-er? Ich stottere. Helge greift in die Hosentasche, zieht seine Hand hervor und lässt den Daumen hochschnellen. "Kaboom", sagt er. Vor mir sein Finger, nur sein Finger. Tu es nicht, denke ich noch, als ich mich, Kippe im Mund, zu Helges imaginärem Feuerzeug hinabbeuge und an meiner Zigarette sauge. Es dauert ein paar Sekunden, bis Helge den Daumen zurückzieht. Bitte schön. Danke, Helge. Und dann verschwinden sie in die Nacht, er und Sergej. Ich schaue ihnen nach, dem Hut und dem Bart, die Zigarette unangezündet zwischen den Lippen. Jemand tippt mich an: Hast du mal Feuer?
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.03.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Laus Kinskis Katze

Freitagabend, 19 Uhr, Karl-Marx-Straße. Feierabendverkehr trifft auf Biervorratskäufer, Vorglüher auf Kleinfamiliengroßeinkäufer. Ein Pulverfass. Ich ziehe einen Koffer mit kaputten Rollen über das Kopfsteinpflaster, sehe also aus wie der Neu-Berliner/Tourist, der den Kiez kaputtmachen will. Die Neuköllner danken es mir mit Verachtung. Ganz anders die Reaktion auf meine Begleitung, Künstlername Laus Kinski, die mich davon überzeugt hat, ihr beim Umzug in ihr neues Atelier zu helfen. Mit der Bahn am Freitagabend. Ihre Katze Motte trägt sie wie ein Baby vor die Brust geschnallt. Alter, wie süß!
Mit der U7 runter zum Ring. Beim Ausstieg trifft der Rollkoffer versehentlich das Schienbein eines Schlechtgelaunten. Seine Fratze der rechtmäßigen Empörung verwandelt sich sofort in ein grenzdebiles Grinsen, als er Laus Kinski und Motte erblickt. Innehalten, Katze streicheln, Babylaute imitieren. Alles vergeben und vergessen. Mit der S46 nach Schöneweide. Jugendliche mit Ghettoblastern und Wodka- Energy-Mischungen. Hasserfüllte Blicke auf den Rollkoffer, früh gelernt. Dann miaut Motte. "Alter, wie süß!"
Diese Katze, da bin ich mir sicher, sollte bei den nächsten Verhandlungen im Ukraine-Konflikt um den Tisch streunen. Eine Schale Milch auf den Boden, schnurren lassen, fertig. Wer den Rollkoffer- Konflikt auf Berliner Straßen befrieden kann, der schafft alles.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 03.01.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
"Och ..."

Niemetzstraße Ecke Saalestraße, Neuköllner Diaspora nahe dem S- Bahnhof Sonnenallee. Die Kneipe an der Ecke mit Leuchtschriftzug: Tiefpunkt. Ein Schnaps: ein Euro. Davor auf der Straße eine Couch. Durchgesessen und durchnässt. Die Trostlosigkeit des Berliner Winters als Stillleben. Doch was zählt, sind die inneren Werte. Rein in die Kneipe gegenüber vom Tiefpunkt. Um die Theke herum eine Traube Ganztagstrinker mit Raucherfahrung. Prösterken, auf uns.
Die Kälte da draußen und die Angezündeten im Innern, getrennt nur durch eine Scheibe. Doch dann, für einen Moment, berühren sich beide Welten. Torsten, Schnitzelhände zur Nassrasur, regt sich auf. Urplötzlich, keiner weiß, warum. Er zetert, dann ein schlimmes F-Wort. Stille. Gaby, gerade noch Herzbardame, findet das nicht gut. Raus, brüllt sie. Torstens leerer Blick füllt sich mit Unverständnis. Das darf man doch wohl noch sagen. Der Unsatz des Jahres 2014. Es hilft nichts. Torsten muss weg, da sind sich alle einig. Er tritt vor den Stehtisch - ein Baum von einem Mann kurz vor der Rodung. Die Schnitzelhände jetzt vor dem Körper, zur Ruhe mahnend. Ein Geistesblitz durchzuckt den glasigen Blick. Okay, sagt Thorsten, dann sag ich eben Fötzchen. Stille, Blick auf Gaby. Die kippt Klares. Lacht. Och, sagt sie, das find ich jut. Prösterken, auf uns, diesen Moment. Mach ruhig noch einen Kurzen zum Bier. Gegen die Welt da draußen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 04.10.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
100 000 nackte Jungs

Sonntagvormittag, Neukölln, Reuterstraße. Das Grau des Eckhauses geht nahtlos in den Himmel über. Zu viel Beton, zu wenig Liebe. Es gibt Sonntage, an denen man lieber zu Hause bleiben sollte. Jetzt kämpft das verkaterte Gemüt gegen die Realität. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht eine Frau, Mitte 40 vielleicht, die kurzen Haare liegen schlaff auf dem Schädel. Sie steht an der Fußgängerampel, wartet wohl, dass es grün wird. Sie zieht ihren rechten Schuh aus, dann den Socken, steht da mit einem beschuhten Fuß und einem nackten. Die Ampel springt auf grün, doch die Frau geht nicht, sondern vollendet ihr Werk. Linken Schuh ausziehen, Socken hineinstecken. Es wird rot, es wird grün. Ich stehe einfach nur da, die Frau kommt auf mich zu, visiert mich an. Dann sagt sie: "Ich habe schon 100 000 Jungs nackt gesehen. Herzlichen Glückwunsch." Sie geht, nackte Füße auf nacktem Asphalt, an mir vorbei und weiter den Gehsteig entlang. Dabei habe ich noch so viele Fragen. Alles an diesen beiden Sätzen fasziniert mich. Allein die Zahl. 100 000! Wie viele Jungs sind das wohl pro Jahr? Rechnet man es aus, kommt man auf 2222. Sechs pro Tag, wenn man die Dame mit den nackten Füßen auf 45 Jahre schätzt. Was aber sollte das mit dem Glückwunsch? Bin ich einer von ihnen? Eine junge Frau kommt auf mich zu, schaut mich an - und lacht. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, dass mein Hosenstall offen steht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.08.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Capri-Sonne

Samstagabend in einem Späti auf der Karl-Marx-Straße. Der Laden stinkt, gestern Nacht hat einer vor die Theke gekotzt. "Hab schon gewischt", sagt der Besitzer, dauert jetzt ein paar Tage, war ziemlich viel, kann man nichts machen. Ein junger Mann kommt herein, barfuß, Wuschelkopf zum Flaumbart, er kauft Zigaretten und Bier. Sein Blick fällt auf die Capri-Sonne neben der Theke. Orange, der Klassiker. Er greift zu, der Verkäufer lacht. Was denn so witzig sei, fragt der Wuschelkopf. Nichts, sagt der Spätiverkäufer und schüttelt den Kopf. Als der Kunde gegangen ist, nimmt der Verkäufer eine Capri-Sonne in die Hand. "Früher haben die sich hier wahnsinnig gut verkauft. Das war das Einzige, mit dem man Tili runterspülen konnte." Tili, kurz für Tilidin, ist ein Schmerzmittel, das bei vielen jungen Türken in Neukölln sehr beliebt war. Es hieß, dass man davon aggressiv würde. Stimmt nicht, sagt der Verkäufer. Es war beliebt, weil es wenig kostete und man in Prügeleien keine Schmerzen mehr spürte, wenn einen die Faust des Gegners traf. Das einzige Problem war der Geschmack. Tilidin ist extrem bitter, wirklich widerlich. Aber in einem Päckchen Capri-Sonne sind sechseinhalb Stücke Würfelzucker enthalten, mehr als in Fanta. Genug, um den Geschmack von Tilidin zu mildern. Seit Anfang 2013 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz, der Straßenpreis ist in die Höhe geschossen. Und der Verkauf von Capri-Sonne abgesackt.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 31.05.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Landeier unter sich

U-Bahnhof Alexanderplatz, Mittwochabend, Warten auf die U5 Richtung Hönow. Auf dem Gleis gegenüber hält ein offener Wagen, Menschen mit gelben Helmen applaudieren. Endstation der Tour im U-Bahn-Cabrio durch Berlins Unterwelt.
Eine Gruppe Touristen jenseits der sechzig steigt aus, Helme ab. Drei Frauen in Steppjacke und kleinem Lederrucksack, die Männer passend in beige-grauem Altherren-Understatement. Die Frauen fragen: "Ist das hier richtig, Richtung Hönow?" Die abgeklärten Großstadtzwanziger am Gleis nicken. Die alten Herren sagen: "Hab ich doch gesagt." Szenen dreier Ehen. Alles klar also? Mitnichten. Eine will nicht. "Das ist falsch hier, das weiß ich, ich war mal hier." "Wenn du nicht mitkommst, Petra, dann bleibst du hier." Die Bahn fährt ein, Petra immer noch in Opposition: Nee, ist falsch. Drei Herren und zwei Damen in der Bahn, Petra davor, standhaft. Nein, nein, nein.
Die Gruppe wird nervös. Die Frage ans Abteil: "Ist das richtig hier, Richtung Hönow?" Gelächter, Überheblichkeit. Petra steigt ein, unter Protest. Die Stimme aus dem Off: "Richtung Hönow, bitte einsteigen." Erleichterung. Dann Petra an alle: "Entschuldigung, so ist das, wenn Landeier in der Großstadt sind." Das sitzt. Kein Gelächter mehr, die Köpfe werden eingezogen, ein paar sogar rot. Ein Abteil voller zugezogener Landeier aus Bottrop und Bielefeld, gerade noch so cool, schämt sich jetzt. Nur Petra lacht. Sehr laut.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.03.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Tok, tok, tok

Kottbusser Damm, an einem Sonntagvormittag. Erste Radtour nach dem Winter, der keiner war. Ein Krankenwagen drängt sich vorbei, reiht sich ein in eine Blaulichtkolonne, die am Kottbusser Tor unter einer Ampel endet. Fünf Meter darüber, auf einem Vorfahrtsschild, steht eine Frau, etwa dreißig, recht schlank und sehr nackt. Bekleidet nur mit einem Hammer in der Rechten. Ein Polizist, Kopf nach oben gereckt, in der Nackenfalte reflektiert der Schweißfilm. "Kommen Sie runter?", fragt er. Die Antwort von oben: Tok, tok, tok.
Mit dem Hammer schlägt sie auf die Ampel. Die Menschentraube hat die Smartphones justiert. Und wieder: Tok, tok, tok. Als wolle sie sagen: Die Ampel muss weg! Zwei Berufstrinker nicken anerkennend: "Nicht schlecht." Darauf ein Sterni.
Es kracht, ein Wohnmobil, Kennzeichen HSK, ist in einen Berliner Twingo gefahren. Die Beifahrerin, Mitte 60, schimpft mit dem Gatten. "Wo du wieder deine Augen hast." Von oben strahlt weiterhin der weiße Protest-Po. Wofür oder wogegen sich der Protest - um einen solchen handelt es sich doch wohl - richtet, bleibt unklar. Aber solange sie da oben steht, im Kreisverkehr, hat sie nicht verloren. Eine Art Viktoria, die Goldelse in Weiß, eine Kreuzberger Variante der Siegessäule. Die Nackte hämmert weiter auf die Ampel ein, dem Polizisten rinnt der Schweiß ins Hemd. Alle Fotos sind gemacht, das Bier ausgetrunken. Ein Sonntagvormittag am Kotti, der nackte Wahnsinn.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.02.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Sei Wedding!

Café Barrikade, Ecke Pankstraße. Aus den Boxen plärrt Punk, die Scheiben beschlagen. Trinker am Tresen, Studenten hinter der Süddeutschen. Im Hinterzimmer Kicker und Billard. Das Schild mit der durchgestrichenen Marihuanapflanze verschwindet im Kiffer-Qualm. Auf dem einzigen Stuhl sitzt einer, der mit Härterem zu kämpfen hat. Zittert, schwitzt und friert. Daneben steht sein Kollege mit Riesenjoint, erzählt, was falsch läuft in der Welt. Das Zittern des anderen scheint Bestätigung genug.
Am Kicker lehnt mein Freund, nennen wir ihn L. Er ist Weddinger und macht das öfter: lädt mich ein, um mir seine Welt zu erklären. Seine Welt: Wedding. Der Wedding bleibt hart, der Wedding bleibt rot. So geht das immer. Gerade hat L. Fahrt aufgenommen, da platzt der Riesenjoint in den Monolog. "Wollt ihr ein Handy kaufen? Hab’ ich über." Er zieht ein altes Sony Ericsson aus seiner Brusttasche. Wir verneinen. "Gebt ihr mir ein Bier aus?" Ich halte ihm meins hin, hoffe, dass er ablehnt. Er greift zu. Ob wir auch eine Zigarette hätten, fragt er. L. hält ihm den Tabak hin. Der Typ schaut auf das Bier in der einen Hand, den Joint in der anderen. L. dreht ihm eine. Das eben angebotene Handy klingelt. Der Typ geht ran, nimmt die Zigarette und geht ab. "Sorry Jungs." Am Tresen trinkt er mein Bier aus, raucht die Kippe von L. und brüllt Beleidigungen gegen Hertha und die Welt ins Handy. Wedding bleibt Wedding.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.12.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Endlich zuhause

Aus dem Hamburger Exil zurück in Berlin. Heimatgefühle, endlich wieder offene Pöbeleien statt hanseatischer Ignoranz. Ankunft am Südkreuz. Die Ringbahn natürlich verspätet, ich beschwere mich am Schalter. Auch noch am falschen, dem von der Deutschen Bahn. Sichere Nummer, bestimmt werde ich angeschnauzt, wie sonst im Bus, wenn ich eine Einzelfahrkarte mit einem Zwanziger bezahlen will. Der Mann am Schalter schaut auf, hebt die Hände und dann - Überraschung! Er entschuldigt sich. Was ist hier los? Soll ich ihn für das schlechte Wetter verantwortlich machen? Die Bahn kommt, ich lasse die anderen Fahrgäste nicht aussteigen, drängle mich als Erster hinein. Jetzt aber, denke ich, volle Berliner Breitseite, ich bin bereit. Doch nichts geschieht. Die Bahn ist voll, kaum ein Platz frei. Trotzdem stelle ich meine Tasche auf den Nachbarsitz. Ein Arbeiter steigt zu, sieht den fast freien Platz neben mir. Er bleibt stehen, kein Wort. Verdammt, denke ich, was soll ich denn noch machen? Einfahrt S-Bahnhof Sonnenallee. Aus dem Fenster sehe ich den Dönerladen, die S-Bahn-Klause. Die Türen gehen auf. Direkt vor mir ein schon ordentlich angezündeter Obdachloser. Als ich aussteige, glotzt er mich an, wie den Typen, der ihm das letzte Sterni vor der Nase weggekauft hat. Er holt tief Luft und brüllt los: "Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mir gerade noch gefehlt. Wichser!" Endlich, denke ich, endlich zuhause.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 12.10.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ungleicher Kampf

Alt-Neukölln gegen Neu-Neukölln vor den Arcaden an der Karl-Marx- Straße. Ein junger Mann, knapp zwei Meter lang - mit Hipster-Insignien: Tight-Jeans zu zu tief Ausgeschnittenem, Bart und Jutebeutel - steht an der Ampel. Ein Mann, etwa 40, Typ Malocher, verschwitzt, Filterlose im Mundwinkel, rennt auf ihn zu: "Verdammt, du Hurensohn, ich hab gesagt, geh da weg!" Der Akzent: osteuropäisch. Der Auslöser für den Streit: ungewiss. Gewiss nur, dass es hier gleich knallt, und zwar richtig. Der Alt-Neuköllner packt den Neu-Neuköllner am Kragen. Er muss hochschauen, zwei Kopflängen trennen die beiden Männer. Der Alte schlägt aufwärts, dem Jungen mit offener Hand ins Gesicht. Der Junge, perplex, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Nichts in seinem Leben in, sagen wir, der ostwestfälischen Provinz scheint ihn darauf vorbereitet zu haben, hier am helllichten Tag auf die Schnauze zu kriegen. Das hier ist keine Klopperei mit dem Jan-Lennart, damals, im Herforder Kindergarten, Ende der 80er. Keine Gewalt, das merkt er jetzt, während die Schellen auf ihn einprasseln, ist auch keine Lösung, zumindest nicht sofort. Aber er steht es durch, stoisch, bis der Alte von ihm ablässt. Der Neu-Neuköllner geht weg. Schaut sich noch einmal um. Ein paar Jahre noch, scheint sein Blick zu sagen, dann sind hier die letzten Wohnungen kernsaniert. Alt-Neukölln wird es dann nicht mehr geben.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.05.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zurückgeschissen

Mittwochabend, Neukölln, Rixdorf. "VoKü" steht mit Kreide auf der Tafel vor der linksalternativen Sperrmüllmöbelkneipe. Zwei Euro für eine warme Mahlzeit. Kartoffeln an Karotten-Paprika-Pampe. Die Bierbänke ächzen unter der Last der studentisch-alternativen Hinterteile. Platz findet lang nicht jeder. Die mampfende Masse säumt den Gehweg bis zur Galerie, die vor einiger Zeit zwei Häuser weiter aufgemacht hat. Im Fenster der Kneipe hängen Poster: "Homophobia kills", "Kein Ort für Nazis".
Gegenüber ein Seniorenheim. Rentner schauen durch gehäkelte Gardinen auf das junge Treiben. Eine alte Frau tritt heraus, den Dackel im Anschlag hinter sich herziehend. "Verdammt noch mal", brüllt sie, als sie sich an den Billig-Essern vorbeiquetscht, "wir müssen hier durch!"
Niemand rührt sich. Der Gesichtsausdruck der Frau rangiert irgendwo zwischen Verachtung und Hass, der Dackel schnappt nach einer Kartoffel. Sie gehen um die Ecke, ein paar Leute holen sich Nachschlag. Nach einigen Minuten kommt Frauchen samt Dackel zurück, gelassener jetzt, erleichtert, als sei ihr Plan aufgegangen. Ein Blick in die Straße, aus der sie kamen, und die Vorahnung wird Gewissheit: Ein frischer Haufen Hundescheiße thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Bürgersteig. Seit Mittwochabend, 21.30 Uhr, wird zurückgeschissen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.04.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Fenster zum Hof

Neukölln, vierter Stock, Vorderhaus, Blick nach hinten raus. Zwischen vier Häuserwänden - zu viel Beton, zu wenig drüber - erwacht das, was man nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Frühling. Ein Blick aufs Thermometer, neun Grad. Alles über null Grad ist Frühling. Berlin war lange eine geteilte Stadt, ist es noch heute. Nicht mehr durch eine Mauer, doch durch die Jahreszeiten. Im Winter ist alles DDR, Plattenbau und grau. Im Sommer supergeil, Party und Spree.
Also, Fenster auf, Frühling rein, Winterdepression raus. Die von gegenüber hatten die gleiche Idee. Musik ertönt. Bonnie Tylers "Total Eclipse of the Heart". Die aus dem zweiten Stockwerk schießen zurück. Drum and Bass. Zwischen zwei wummernden Basssalven schmalzt Bonnie Tyler: "And I need you now tonight / And I need you more than ever!" Irgendwo brüllt ein Kind. Im Hinterhof verliert eine Bierflasche den Kampf gegen die Betonwand.
"Schnauze", brüllt einer in den Soundteppich. Der Bonnie-Tyler-Fan schreit zurück. "Halt’s Maul!" Jetzt kommt mir allmählich die Erinnerung. Frühling in Berlin, das bedeutet Kampf. Kampf um den öffentlichen Raum. Kampf um die Musikhoheit im Hinterhof. Bonnie Tyler bäumt sich ein letztes Mal auf: "But now there’s only love in the dark / nothing I can say / a total eclipse of the heart." Ich schließe das Fenster, ziehe die Vorhänge zu. In sechs Monaten, denke ich, ist der Spuk wieder vorbei.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 23.02.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Total ausgerastet

Donnerstagmorgen, 9 Uhr, krachendes Erwachen. Trillerpfeife, Megafon, Sirene. Ein Blick aus dem Fenster - Kreuzberg: Lausitzer, Ecke Wiener Straße - und die Gewissheit: Demo. Auf beiden Seiten der Absperrung die Krieger für die Schlacht gerüstet. Und ich will nur nach Hause, nach Neukölln, Rixdorf. Vom Kottbusser Tor mit der U8 zum Hermannplatz, dann den 41er. Jetzt aber: Rein ins Getümmel.
Aus dem schwarzen Block hört man etwas von Scheiß-Gentrifizierung, Steine fliegen nicht, nur eine kleine Wodkaflasche. Angeheitert schmeißt sich’s besser. Die Passanten retten sich mit mir in die U-Bahn. Hermannplatz, Umsteigen. Zwei junge Studentinnen haben den gleichen Weg. Die eine zückt ihr Handy. "Ja, war krass", sagt sie ins Telefon. "Die Bullen sind total ausgerastet, ohne Grund, Tränengas und alles." Die Freundin nickt stumm. Bestätigung. Dass die Demo da gerade wirklich krass war. Und sie mittendrin.
"Hast du mich im Fernsehen gesehen?", fragt sie ins Handy. "Ich habe mich extra auf eine Säule gestellt." Nee? Na ja, schade. Themawechsel, irgendwie. Sie, die Freundin am Telefon, müsse unbedingt mal die neue Wohnung anschauen. Ein Zimmer, Nähe Weserstraße, nicht ganz billig, 400 Euro, aber "so, so schön". Mit abgezogenen Dielen. Total toll.
Schade eigentlich, denke ich, dass ich die Wodkaflasche nicht aufgehoben habe. Ich hätte jetzt so gerne etwas, um es zu schmeißen.

Dominik Drutschmann

Erschienen am: 18.04.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
VERDAMMTE GENÜGSAMKEIT

Im Saunabereich der Turngemeinde Berlin gelten zwei Regeln: Schnauze halten und nicht aufs Holz schwitzen. Auch schon vor Corona sollte jeder seine Ausdünstungen ins eigene Handtuch absondern. Die bestätigende Ausnahme kommt im Körper eines Ü80-Jährigen daher. Er steht auf der Saunabank, Schweiß tropft aus jeder Pore, das Holz unter ihm färbt sich dunkel. Niemand sagt etwas. Nach der Dusche sitzt der Alte in der Umkleide, die Lebenserfahrung tief ins Gesicht gezeichnet. Er schaut mich an, während er Körperlotion großflächig über seinen Kopf entleert. „Ich hab eine Wohnung verkauft. 90.000 Euro.“ Er hält inne, ein Blick wie eine Blutgrätsche, die Körperlotion läuft das welke Fleisch hinunter. „90.000 Euro und weißt du, was die Scheiße ist?“ Ich weiß es natürlich nicht. „Dass die Scheiß-Kohle jetzt so rumliegt.“ Er schüttelt den Kopf, greift in seine Sporttasche und holt eine Malerrolle heraus, Typ: filigrane Eckenarbeit. Er schaut mich weiter an, milder jetzt, vielleicht auch resigniert und beginnt, die Körperlotion mit der Malerrolle vom Kopf gen Süden zu verteilen. Renovierungsarbeiten am eigenen Körper. Dazu eine Lebensweisheit. „Das schlimmste am Alter ist die verdammte Genügsamkeit“, sagt er. Früher, da hätte er die Kohle nur so rausgehauen. Und jetzt? Jetzt wolle er nichts mehr. Auch, weil er nicht mehr könne. Er verreibt die letzten Überbleibsel der Lotion auf seinem Rücken. „Junge“, sagt er zum Abschied, „mach‘s gut.“ 
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.12.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
KEIN DÖNER LAND IN DIESER ZEIT

Neukölln an einem Donnerstagvormittag. Der Lidl an der Ecke Flughafenstraße hat sich hübsch gemacht. Wiedereröffnung. Sogar der Security-Typ strahlt. Einkaufen war dort auch früher ein Erlebnis. Vielleicht wird es jetzt ein erfreuliches. Also rein und staunen. Gut ausgeleuchtete Discounter-Südfrüchte, dazu vegetarische Burger-Pattys aus Eigenproduktion, hinten links die Deluxe-Produkte-Ecke. Von dort droht jetzt Ärger im neuen Einzelhandelsparadies. Eine Mutter, Hidschab und Hackenporsche, zerrt ihre Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, in Richtung Ausgang. Die aber stockt in ihrer Empörung. Sie packt den angefangenen Döner in die Alufolie, als ob sie versuchen würde, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Mutter zerrt, die Tochter klagt: „Seit wann darf man in Lidl kein Döner essen?“ Und dann: „Ist Lidl jetzt High Society oder was?“ Die Umstehenden: vereint im Lachen über die rechtschaffene Empörung, über die Absurdität des schönen Schein. Komik war immer schon das schärfste Schwert der Unterdrückten. Und auch im neuen Glanz des Lidl funktioniert es. „Ach komm“, sagt die Verkäuferin zum Mädchen, „iss deinen Döner“.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.09.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Erde so frisch

Dienstagnacht im Sandmann in Neukölln. Hinten ist schon das Licht aus. Das ist jetzt wirklich das letzte Glas. Zum Abschied holt die Bardame einen Flyer hervor, darauf der Hund, der immer im Eingangsbereich lag. Eine Traueranzeige. Der Hund ist tot. Vor der Kneipe, am Stamm der Weide, zwei in Plastikhüllen verpackte Fotos. Wieder der Hund, die Augen rot von Herrchens Fotoblitz.Irgendwer hat Blumen gepflanzt, die Erde ist noch frisch. Plötzlich steht eine Frau neben mir, Ende 50, lange Zigarette, Hund an der kurzen Leine. Bestürzung im faltigen Gesicht. „Das war doch der Spock“, sagt sie. „Wie bitte?“ „Das war der Hund von dem Mann, der da immer am Tresen saß. Und jetzt tot.“ Sie beginnt zu schluchzen, „schlimm ist das“. „Aber der Mann lebt noch“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ja“, sagt sie, die Tränen laufen, „aber das ist immer so: Erst Hund, dann Herrchen. Das dauert nicht mehr lange. Und dann ist der auch tot – schlimm ist das.“ Wie verweilen einen Augenblick, schauen stumm auf die Weide, auf die Fotos in den Plastikhüllen, die frischen Blumen. „Aber Ihrem Hund geht's gut?“, frage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und sagt nur ein Wort: „Krebs.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ordnungshüter

Ein Montagmittag an der Kreuzung Hermannplatz. Die Linksabbieger sind durch, die Autos auf der Hermannstraße stehen noch wenige Sekunden. Ein Mann um die vierzig, offener Mantel, fettiges Haar, überquert die Straße bei Rot. Was er nicht gesehen hat: dass hinter ihm ein Polizist in Hundertschaft-Kampfmontur steht. Dieser ruft ihm hinterher: Hallo! Keine Reaktion. Da überquert der Beamte nun ebenfalls die Straße, was er nicht gesehen hat: dass die Autos von der Hermannstraße jetzt Grün haben. Vollbremsung, Hupkonzert. Der Polizist hebt die Arme, als wolle er sagen: "Verdammt, ich mach hier nur meinen Job." Auf der anderen Straßenseite empfängt ihn eine junge Mutter mit Kinderwagen und Vorwürfen. "Sie sind ja ein tolles Vorbild." Ignorieren, weiter dem Rotgänger nach. Auf Höhe McDonald’s kann der Hüter der Ordnung ihn stellen. Er redet auf ihn ein, der ungewaschene Schopf nickt verständig. Was der Polizist dabei nicht sieht: dass er auf dem Radweg steht. Zwei Radfahrer halten auf ihn zu, klingeln und pöbeln. Der Polizist will hinterher, hat zu Fuß aber keine Chance, bricht nach wenigen Metern ab. Der Rotsünder hat sich indessen entfernt. Die Grünphase ist wieder vorbei, die Straße noch frei. Für einen Moment überlege ich, hinüberzugehen. Aber das will ich dem armen Mann nun wirklich nicht antun.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Imbisspolizei

Ein Mittwochnachmittag um halb fünf an der Hasenheide. Der verdammte Job hat länger gedauert, der Kollege und ich müssen jetzt dringend zu Mittag essen. Sonst ist die Laune im Keller. Bei Hamy, dem Vietnamesen, ist es übervoll, also zum Mitnehmen. "Können Sie bitte draußen warten?", fragt der Kellner. Eigentlich ungern, aber gut, jetzt nicht auch noch Streit anfangen. Stattdessen vor der Tür eine rauchen. Zwei Polizisten gehen an uns vorbei, direkt in den Imbiss. Die Zigarette ist noch nicht aufgeraucht, da kommen die beiden wieder heraus, in der Hand eine Plastiktüte mit Essen. "Entschuldigung", rufe ich ihnen hinterher, "aber haben Sie vorbestellt?" Nein, sagen sie, hätten sie nicht, das sei ganz schnell gegangen. Kippe aus und rein in den Laden. "Werden Bullen hier bevorzugt oder was?" Der Mitarbeiter schaut erst mich an, dann auf seinen Zettel - und wieder hoch. Ich will gerade erneut ansetzen, da rennt der Kellner an mir vorbei auf die Straße. Ich hinterher. Der Polizeiwagen ist gerade am Ausparken, der Kellner klopft an die Scheibe, die Tür öffnet sich, und er entwendet den Beamten das Essen. Lachend kommt er zurück und drückt mir die Tüte in die Hand. "So geht’s ja nicht", sagt er und geht wieder in seinen Laden. Das Polizeiauto passiert uns, die Gesichter im Innern sehen hungrig aus.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.03.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kann bassieren

Ein früher Dienstagnachmittag. Das Visum für Russland liegt zwar bereit, erfahre ich am Telefon, aber für heute hat die Pass- und Visastelle in Mitte schon geschlossen. Morgen wieder, werde ich vertröstet. Das Problem: Ich bin viel zu spät dran, wie immer. Und schon morgen geht mein Flug. Nach minutenlangem Bitten und Betteln kommt der kulante Vorschlag: "Na, dann kommen Sie ausnahmsweise heute um 15 Uhr vorbei." Da stehe ich also vor der Glasscheibe und versuche der Dame am Empfang den Sachverhalt zu erklären. "Ich möchte meinen Pass abholen und soll in Zimmer 0.3.05 gehen." "Ich darf Sie nicht alleine durchs Gebäude gehen lassen", lautet die Antwort hinter der Scheibe. "Na, dann stellen Sie mir jemanden zu Seite", schlage ich vor. "Der war gut", sagt die Empfangsmitarbeiterin. Sie lächelt nicht, greift aber zum Telefonhörer. Warten. Nach etwa zwei Minuten eilt eine Frau auf uns zu, den Pass in der Hand. "Was soll das denn? Ich habe für soetwas keine Zeit", ärgert sich die Frau mit meinem Pass an die Scheibe gewandt. "Warum haben Sie den Mann nicht hochgeschickt?" Schulterzucken. Die Frau übergibt mir den Pass und geht ab. Die Dame hinter der Scheibe setzt zur Entschuldigung an. "Das tut mir leid", sagt sie. "Ich habe Bass verstanden. Und mich schon gewundert, wer hier Bass spielt."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 10.02.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kopf in Wand

Samstagnachmittag, vierter Stock in einem Neuköllner Hinterhaus. Die zweite Halbzeit der Bundesligakonferenz läuft im Radio, da klingelt es an der Tür. Mutti hatte sich angekündigt. Aber jetzt schon? Wollte doch noch aufräumen, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen. Schon klingelt es erneut. Tür auf und herein kommt das Chaos im Blaumann. Wasserschaden, bei der Nachbarin im Zweiten. Die Stimme laut, der Ton duldet keinen Widerspruch. Dass die verdammte Heizung dem Klempner den Samstag verhagelt, steht zwei Furchen tief in sein Gesicht geschrieben. Zehn Sekunden später balanciert er auf meinem Badewannenrand, eine Säge in der Hand. "Was machen Sie da?", frage ich. Die dritte Furche meißelt sich in sein Gesicht. "Ein Loch." Sagt er und sägt ein Rechteck in den Rigips. Aber es ist zu klein: Beim Versuch, seinen Kopf in die Wand zu stecken, bleibt er hängen. Sein Gesicht jetzt eine einzige Furche. Fluchen, nachjustieren, Kopf in die Wand. Er redet weiter, doch der Rigips verschluckt seine Worte. Kopf raus, runter in den zweiten Stock, wieder zurück, Kopf in die Wand. So geht das eine ganze Weile. Keine Ahnung, sagt er schließlich und geht. Das Bad ein Schlachtfeld, durch das Loch blickt man auf Mauerwerk. Es klingelt. In der Tür steht Mutti. "Wie sieht’s hier denn aus? Da ist ja ein Loch in der Wand! Junge, muss ich mir Sorgen machen?"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.11.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Haarige Angelegenheit

In der U8 von Osloer Straße bis Hermannplatz. Je südlicher, desto bärtiger, ab Kotti sind die Glattrasierten in der Minderheit. Zwei Jungs, nicht älter als zwölf, unterhalten sich auf Türkisch. Keine Ahnung, worum es geht. Aber dringlich ist es, zumindest für den einen. Dessen Stimme wird lauter, der Freund versucht ihn zu beruhigen und bewirkt doch eher das Gegenteil: Wut spült erste Tränen in die Augen. Der Freund fasst ihm an die Schulter, aber auch diese Berührung hilft nicht. Was hat er bloß? Die beiden diskutieren weiter. Wenn das eskaliert, sage ich zu mir selbst, werde ich dazwischengehen. Und wenn ich dafür bis zur Endhaltestelle Hermannstraße fahren muss. Nächster Halt Schönleinstraße. Vom Türkischen geht es über in eine Melange aus Landes- und Muttersprache. Jetzt hat auch der Besonnene die Schnauze voll: "Was ist denn dein Problem?" Der Freund wischt sich die Tränen aus den Augen, funkelt seinen Kumpel an, kommt ihm näher und näher, deutet dabei immer wieder auf sein Gesicht, als wolle er dem Gegenüber zeigen, wohin er gleich schlagen werde. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der beiden Streitenden. "Oglum", ruft er da, "ich habe den miesesten Bartwuchs meiner Familie." Kurzes Schweigen. "Selbst meine Mutter hat mehr." Der Freund klopft ihm auf die Schulter: "Wird schon."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.10.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Brauchst du, Bruder?

Neukölln, Reuterstraße Ecke Karl-Marx-Straße, ein Sonntagabend. Die Tankstelle, sonntags zuverlässigste Adresse für Getränke-, Tabak- und sonstige Notversorgung, ist frisch renoviert, innen bestens ausgeleuchtet. Vor der Tür, abseits des Lichtkegels, der herausfällt, steht ein Mann, gepflegter Vollbart zu ausrasiertem Nacken, und betankt sein Auto. Aus dem Nichts erscheint ein weiterer, die Jacke flattert ein paar Nummern zu groß um seinen Körper. Er hat einen Karton unterm Arm. "Bruder, brauchst du Messer?" Vielleicht gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem das völlig normal ist, Fremde beim Tanken in einen Messerdeal verwickeln zu wollen. Dieser ist es nicht. "Ich will deine scheiß Messer nicht." Vielleicht ist der Mann aus der Dunkelheit Messerverkäufer, der diese Woche seine Quote nicht erreicht hat. Und jetzt noch diesen einen verdammten Karton verkaufen muss -
Messerset, zwölf Stück. Er zieht eines heraus. "Verpiss dich", sagt der andere und geht bezahlen. Der Verkäufer, das Messer noch in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet, schaut mich an. "Bruder, brauchst du Messer?" Ich muss lachen, fast hysterisch. Das erschreckt ihn so sehr, dass er zurückweicht. Instinktiv gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Lache noch immer. Da dreht sich der Mann um, elf Messer unterm Arm, eins in der Hand, und rennt davon.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.04.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Hund

Samstagabend in einer Neuköllner Eckkneipe. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber einige Gäste sind schon ordentlich angezündet. Im hinteren Teil feiert jemand Geburtstag, unangemeldet, die Kellner sind genervt. Im vorderen Teil tummeln sich ein paar Party-Touristen, die einmal zu oft aufs Klo gehen. Von all dem unbeeindruckt liegt in der Mitte des Raums ein Hund. Es heißt, dass sich Hunde in fremden Umgebungen immer den Platz aussuchen, von dem aus sie den besten Überblick haben. Ein Instinkt, der nicht totzuzüchten ist, offenbar steckt er selbst noch in diesem Exemplar Hund, einem Dackel mit Gewichtsproblemen, der wie eine Wurst aussieht, wenn auch eine sehr unförmige Wurst. Der Hund ruht unbewegt im Epizentrum des samstäglichen Kneipenerdbebens. Teilnahmslos auch dann noch, als ein Gast ihm beim Bierholen auf den Schwanz tritt. Hund zuckt nicht, Herrchen schon. Das ist mein Hund, sagt Herrchen. Der Treter ist perplex, nimmt den Dackel jetzt zum ersten Mal wahr, Ausfallschritt passend zur Ungläubigkeit. Sein Blick löst sich erst nach einigen Sekunden vom Hund, wandert hoch zum Herrchen, ein letztes Konzentrationsaufbegehren gegen das alkoholbedingte Wegdämmern, sein Mund formt Worte: "Was der Mensch aus dem Wolf gemacht hat", lallt er, "ist eine verdammte Tragödie!"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.01.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zigarettenlänge

An einem Freitagvormittag, Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Das Kind auf der anderen Straßenseite, nicht älter als vier, im Schneeanzug, ist gerade in sich zusammengefallen. Es kniet und schreit. Blick gen Himmel, die Nase läuft, Rotze droht an der Lippe festzufrieren. Der ganze Schmerz dieser Welt, vereint auf einem Meter Wohlstandsgör.
Was es hat? Man weiß es nicht. Was es sicher nicht bekommt: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Der sitzt 50 Meter weiter im Tramwartehäuschen und raucht. Typ Waldschrat in Funktionskleidung. Doch es ist das falsche Pflaster für derlei Sorglosigkeiten in der Kindererziehung. Auftritt der Mütter. Erst auf den Jungen eingeredet, dann den Vater ins Verhör genommen. Ist das Ihr Kind? Nicken. Wollen Sie sich nicht um den kümmern? Zug an der Zigarette, Kopfschütteln. Empörung am Retro-Kinderwagen. Jetzt gerät der rauchende Vater ins Rotorblatt der Helikoptererziehung, manikürte Finger fuchteln vor seiner Nase.
Irgendwann ist auch mal gut, und das ist jetzt. Kippe weggeschnippt, aufgestanden, Ansage: "Geht mir nicht auf den Sack. Kümmert euch um euren eigenen Scheiß." Stille, auch das Kind hält inne. Die Mütter sehen so aus, als wollten sie sich irgendwo beschweren. Bloß wo? Bevor das ganze Eskalationspotenzial dieser Szene zum Tragen kommt, schlichtet das Kind: Es ist aufgestanden. Papa, komm, sagt es. Und Papa kommt. Manchmal braucht es nur eine Zigarettenlänge.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 17.09.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Ratte

Ein Dienstag in Kreuzberg. Am Hermannplatz, hinter dem Karstadt, verbindet ein Parkplatz die Urbanstraße mit der Hasenheide. Radfahrer und Fußgänger benutzen ihn als Abkürzung, zum Ärger der Autofahrer. Hinter der Schranke hupt jetzt einer, wie zum Beweis. Vor ihm steht ein Fußgänger, Anfang 20, in der Hand ein Handy, zwischen Opel und Skoda auf der Jagd nach Pikachu. Er spielt Pokémon Go.
Ich verachte sie ja, diese nach dem Mauerfall Geborenen, die als Reminiszenz an ihre Jugend mit dem Handy ihre alten Gameboy-Helden in der realen Welt suchen; dieses Abkulten der eigenen Vergangenheit, obwohl die erst ein paar Jahre zurückliegt. Wie gönne ich es dem Typen, vom Fahrer des Autos angebrüllt zu werden, ehe der wütend weiterrast in Richtung Stellplätze.
Vor der Schranke auf dem Boden ein Gulli. Zwischen den Gitterstäben, durchnässt, die Augen aufgerissen, halb im Schacht, halb an der Oberfläche, eine tote Ratte. Und plötzlich liegt genau da auch eine Kindheitserinnerung für mich. Ich denke an Splinter, die Ratte aus den "Ninja Turtles". Sofort habe ich den Titelsong im Ohr, Frank Zander, die 80er: "Immer auf der Lauer - und immer etwas schlauer."
Ein Hupen reißt mich aus der Sentimentalität. Das Auto kommt auf der Ratte zum Halten. Entgeistert sehe ich den Fahrer an - und merke gar nicht, dass ich im Weg stehe. Vollidiot, sagt er und fährt davon, geradewegs zu auf den Typen, der sein Pokémon sucht.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.07.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Oma-Trick

An einem Samstagmorgen in Neukölln. Es ist kurz vor neun. Eine Frau mit Blumenkohlfrisur zieht ihren Hackenporsche in entgegengesetzter Richtung zu einem Pärchen, das sich wohl in der Nacht gefunden hat. Zumindest in der jungen Frau kommen aber jetzt offenkundig Zweifel auf, ob die Entscheidung im Licht noch standhält. Er sucht Nähe, sie Abstand. Davon unbeeindruckt steht zwischen Lidl und Bankfiliale ein Obdachloser und klirrt mit dem Becher.
Eigentlich ein guter Platz, doch der Mann ist schlecht drauf. Er schaut auf den Wahlkampfstand vor sich. Zwei Omis mit randlosen Brillen, die eine lila Haare, beide AfD. "Scheiße", sagt er, als ich ihm Kleingeld gebe, "was wollen die hier?" Es ist schlecht fürs Geschäft. Dazu noch diese miese Masche, mit freundlichen alten Damen aufzufahren. Da ist man als politischer Gegner gleich gehemmt. Alte Frauen anschreien, wie sieht das denn aus. Der Oma-Trick.
Der Schnorrer jedenfalls ist jetzt auf Betriebstemperatur. Sein Hund steigt mit ein. Ein zweistimmiges Bellen gegen rechts. "Ich werd mit den Linken nach Marzahn gehen und mich schön bei den Faschos vor die Tür setzen." - "Wuff!" Der Mann lacht auf, zwei Reihen reines Zahnfleisch. "Ich mach mit", sage ich, eine Spur zu übermütig. Das findet er so gut, dass er mir was vom Tetra-Wein anbietet. "Ein andermal", sage ich, "lass dir den Tag nicht versauen." Wieder das zahnloses Lächeln, schiefer Blick zum Stand. "Jedenfalls wird mir nicht langweilig."

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.05.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Happy Meal

Im Erdgeschoss der Neukölln Arcaden an einem Samstag. Die Schlangen vor Sparkassenautomaten und Postschalter haben sich ineinander verheddert. Eine 50-Personen-Polonaise mit einem Ursprung und zwei Enden.
Dahinter ein McDonald’s, am Schalter ein Familienverbund, drei Generationen Hunger. Der Junge, vielleicht zehn, im Jogger und grauem Sweatshirt. Darauf steht Bronx, geschrieben: BRNX. Mutti trägt eine dieser Frisuren aus ihrer Jugend, also den Achtzigern, die so aussehen, als hätte jemand den Cesar-Hund aus der Fernsehwerbung blond eingefärbt und ihr auf den Kopf gesetzt. Dazu stilsicher: Leopardenprint- Oberteil, passender Gürtel, weiße Lederhose. Stiefel über der Hose. Oma sitzt auf dem Rollator, regungslos, Honecker-Brille, kein Retromodell.
Mutti kommt vom Fast-Food-Schalter. Auf den Tüten in der Hand steht Happy Meal, in ihrem Gesicht das Gegenteil. Oma wollte nur Pommes, keine Bulette. Ihr Blick sagt: Was habe ich bloß falsch gemacht? Mutti lädt den Weltfrust generationsübergreifend auf den Jungen ab: Finger weg, gegessen wird zu Hause. Und da geht’s jetzt hin.
Mutti bodychecked eine Schneise in die Polonaise. Oma hinterher: Sehen Sie nicht, dass ich behindert bin? Der Bronx-Junge fingert am Happy Meal. Und Mutti hat die Schnauze voll. "Schluss jetzt. Sonst war’s das mit Happy Meal." Die Drohung wirkt. Der Junge schmollt. Und die Polonaise sortiert sich neu.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.04.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Rausschmeißer

Samstagabend im Sandmann, Reuterkiez. Vom Tisch rechts neben der Tür hat man den besten Blick auf diese Weltklassekneipe. Ein schöner Dreischritt: Vorne am Tresen das menschliche Thekeninventar über 60 neben ein paar normalen Stammgästen unter 60. Im Zwischenraum die Hipster. Und im Billard raum das in sich geschlossene Biotop aus Kiffern und Kneipensportlern.
Nur einer schwebt an diesem Abend durch die Zonen. Sein Auftreten: eine Mischung aus Jimmy Page und Jerry García mit einer Prise Rainer Langhans. Graue Mähne, Bart, viel zu weit aufgeknöpftes Hemd, Hippie- Amulett um den Hals. Er geistert durch die Räume, sucht Blickkontakt. Wer den zu lange erwidert, bekommt Lebensweisheiten.
Er wirkt selbst hier, wo die Zeit, so gut es geht, angehalten wird, wie aus ihr herausgefallen. Ein Guru ohne Gläubige. Ein Mann ohne Mission. Bis irgendeiner ausfällig wird. Die Bardame zetert, der Guru kommt ungefragt zur Hilfe. Besänftigt, streicht mit seinen Gitarristenhänden dem Aufgebrachten über die Schulter. Er nimmt den Mann, der ihn um ein paar Köpfe überragt, an die Hand und führt in aus der Kneipe. Ein paar Minuten später kommt er wieder rein, blickt sich um, sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat seine Bestimmung gefunden. Mit dem Belohnungs- Weizen mäandert er wieder im Raum zwischen Theke und Tischen. Der Guru hat seinen Platz gefunden. Er ist jetzt Rausschmeißer.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.03.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Finger in die Wunde

Freitagabend in den Sophiensälen. Im ersten Stock laufen auf Flatscreens Erfahrungsberichte von Menschen, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Es geht um Sex, Vitrinen, Blut. Eine ganz normale Kunstausstellung an einem beliebigen Freitag. So ganz habe ich den Sinn noch nicht erfasst, da finde ich mich schon auf einer Liege wieder. Die brüchige Decke anstarren, während mir eine Wunde an den Hals geschminkt wird und sich Performer mit grünen Haaren und John-Lennon-Gedächtnisbrillen über mich beugen. Eine Art Vorspiel zum Aliensex?
Was in den Wänden der Sophiensäle normal erscheint, ist ein paar Stunden später in der U 8 ab Weinmeisterstraße eine Attraktion. Nur habe ich durch den ganzen Kunstkram und anschließenden Biergenuss völlig verdrängt, dass ich den Hals offen habe. Der Platz neben mir bleibt frei. Besorgte Blicke, Getuschel. Hä, warum eigentlich? Unangenehm! Ausstieg am Hermannplatz. Vor mir teilt sich die hineindrängende Menschenmenge. Dann die Spiegelung in der Scheibe des U-Bahn- Bäckers. Verdammt, was ist das denn? Ich fasse in die Wunde, Kunstblut am Finger. Die Leute umkurven mich großräumig. "Guck dir den besoffenen Spasti an", sagt einer. "Das ist Kunst!", rufe ich, Blut an Hals und Finger, und sehe damit ziemlich genau so aus, wie der Typ gesagt hat, völlig am Ende. Kunst, denke ich, du bockiges Pferd der Uneindeutigkeit. Für dich ist kein Raum hier am Hermannplatz.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.09.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Angelo

Freitagabend, kurz nach elf, Neukölln. Vor der Haustür steht ein Pärchen. Ich nicke zum Gruß, schließe die Tür auf, da tritt der Mann an mich heran. "Angelo?" Nö, sage ich, will weiter. Seine Hand an meinem Arm. Wo wohnst du? Hinterhaus. Welcher Stock? Vierter. Kennst du den Mann aus dem dritten Stock? Nein. Das Pärchen schaut mich ungläubig an. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Von einem Rennrad, im Internet gekauft, das sich als Schrott entpuppte. Jetzt wollen sie ihr Geld zurück, die Spur führt in mein Haus, zu Angelo. Das tut mir zwar leid, nur helfen kann ich nicht. Abgang. Im Hinterhof schließe ich mein Rad ab, da steht das Pärchen plötzlich auch dort, hinter mir durch die Haustür geschlüpft. Sie lächeln mich an. Was macht ihr hier? Wir checken nur die Lichter. Welche Lichter? Deine. Ich bin nicht Angelo, verdammt, ich heiße Dominik. Vorbei an den beiden gehe ich ins Haus, hinter mir höre ich Schritte, ich schaue hinunter. Das Paar kommt mir nach. Ich bin nicht Angelo, rufe ich. Gehe schneller, nehme jetzt zwei Stufen auf einmal. Keine Antwort. Ich schwitze. Stoisch stampfen sie auf den Stufen unter mir. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Panik kommt mir lächerlich vor. Aus dem Fenster der Blick in den Innenhof. Das Pärchen geht, na endlich. Da kommt jemand. "Angelo?", höre ich die beiden fragen. "Ihr schon wieder", sagt der Nachbar, "verpisst euch endlich." Dann geht er ins Haus. Unter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Huphass

Dienstagmittag, Hermannstraße, Ecke Flughafenstraße. Mit dem Fahrtwind auf dem Rad ging es gerade noch, jetzt aber, an der Kreuzung stehend, sengt die Sonne das Hirn zu Brei. Es wird grün. Und es hupt. Quäkend, nervig, aggressiv. Je wärmer es wird, desto häufiger hupt es auf Berlins Straßen. Der Freundin neben mir schwillt die Ader, 47 Kilo Wut klingt nicht nach viel, kann sich aber zu einem Tsunami der Verachtung hochschaukeln. Die Welle rollt, ich surfe mit auf dem Hasskamm. Also los, in die Pedale treten, dem hupenden Rollerfahrer nach. An der nächsten Kreuzung Dampf ablassen. Die Freundin: "Ey, hup mich nicht an, klar?" Der Rollerfahrer: "Ihr könnt mich mal!" Ich: "Du kannst uns mal!" Es wird grün, der Roller ab, hupend. Eine Schweißperle rinnt durch die Hassstirnfalten der Freundin. Nächste Ampel, nächste Konfrontation. "Das ist so asozial, was du da machst!" Es wird grün. Zum Abschied Stinkefinger aller Beteiligten. Wir biegen links ab in die Reuterstraße, der Roller ebenfalls. Vor meinem Haus halten wir, alle drei. Der Rollerfahrer steigt ab, guckt. Lacht. Und kommt auf uns zu. "Hallo Nachbarn! Tschuldigung, bin eigentlich nicht so aggressiv. Und selbst auch Radfahrer." Die Anonymität der Großstadt, in der Nachbarschaft nur die unmittelbarste Möglichkeit der Ignoranz bedeutet, sie löst sich gerade in Wohlwollen auf. Händeschütteln statt Stinkefinger. Grinsen statt Fluchen. Die Schweißperle auf der Stirn meiner Freundin rollt von der Hassfalte in die Lachfalte.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Durst

Samstagmittag, Wannsee, heißester Tag seit immer. Vorbei am Stadtbad zum richtigen See, Natur, unberührt. Denkste! Überall Badetücher, auf den meisten Menschen mit Bier. Sonnenbrandmotive zum Tribal auf dem Arm. Nicht mal ins Wasser kann ich flüchten, habe meine Badehose vergessen, und FKK ist nichts für meine Mutti ihren Jungen. Spaziergang also, die Gegend erkunden. Jede Einbuchtung besetzt, Handtücher als Grenze. Nach einer halben Stunde merke ich: Ich habe meine Wasserflasche vergessen. Der Wannsee ist an diesem Tag dicht wie Berufstrinker am Tresen, ein Geschäft hat aber noch niemand daraus gemacht. Kein Verkaufsstand weit und breit. Dafür ein kleines Häuschen am Wald, DLRG-Headquarter, auf der Terrasse Menschen beim Grillen. Habt ihr vielleicht ein wenig Wasser für mich? Nö, sagt einer und trinkt einen Schluck. Aber am Segelklub gibt’s was. Ab zu den Booten, durch ein Eisentor mit der Aufschrift "Nur für Mitglieder" zu einem Hausboot. Der Mann hinterm Tresen ist überrascht, jemanden zu sehen, im Kühlschrank Getränke satt. Drei Flaschen unterm Arm durch die Bucht zurück, vorbei an tausenden Sonnenanbetern. Jeder zweite fragt, woher ich die Getränke habe. Ich deute aufs Hausboot. Am Ende der Bucht drehe ich mich um. Der Steg zum Tor bevölkert von einer Horde Durstiger. Eben noch wie tot auf dem Badetuch, bewegt sich die träge Masse jetzt auf das Hausboot zu. Die Zombies vom Wannsee.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.07.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
B-U-L-L-E

Donnerstagabend, Karl-Marx-Straße, vor dem Spätkauf "Night Shop 44". Zwei Polizisten in Hundertschaft-Montur, Feierabend, endlich. Die Haare verschwitzt, den Helm in der linken Hand, rechts eine Zigarette. Neben den Neuköllner Nachtaktiven in zu kurzen Hosen sehen die beiden aus wie Robocops. Sehr müde Robocops. Hundertschaft, Scheißjob, einer muss ihn ja machen. Auftritt schwarzer Benz, schönes Auto, will gehört und gesehen werden. Vor dem Späti alle Parkplätze besetzt. Zweite Reihe parken ist Berliner Gesetz. Warnblinker an, Beifahrer springt raus, an den Polizisten vorbei. Die Miene unter den verschwitzten Haaren des einen Polizisten verfinstert sich. Er beugt sich runter, schaut durchs Seitenfenster den Fahrer an: "Du kannst hier nicht parken." "Komm schon, Bruder, ich bin gleich wieder weg." Der Polizist türkischstämmig, der Zweite- Reihe-Parker ebenfalls. Tiefer Zug an der Zigarette, funkelnde Augen: "Verdammt, ich bin nicht dein Bruder, nur weil ich ein Schwarzkopf bin. Ich bin ein Bulle, checkst du das? B-U-L-L-E!" Der Fahrer duckt sich weg, der rauchende Robocop sieht ihm fest in die Augen. Zwei stumme Sekunden vergehen, dann hebt der Fahrer die Hand: "Entschuldige, kommt nicht wieder vor." Er legt den Gang ein und ab. Der Beifahrer kommt mit Cola und Kippen aus dem Späti, sucht das Auto, sein Blick bleibt an dem Polizisten hängen. "Ich bin Bulle, verdammt." Das musste raus. Feierabend, jetzt aber, endlich.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.06.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kaboom

Samstagabend, Schöneberg, auf ein Bier in die Möwe. Einmetersechzig holzvertäfelte Heimeligkeit. Drucke vom Hamburger Hafen. Eine Möwe, überlebensgroß, hängt von der Decke. Zum Bier gibt es den passenden Bierdeckel. Ein Platz zum Verweilen. Nur zum Rauchen muss man raus. Ich schlängele ich mich am Treseninventar vorbei in Richtung Ausgang. Schon leicht angezündet kann ich mein Feuer nicht finden. Vor der Tür eine kleine Menschentraube, da wird schon einer dabei sein. Der da mit dem Hut vielleicht. Wer Hut trägt, der raucht auch. Entschuldigung, hast du Feuer? Der Hut dreht sich um. Zuckt mit der Nase, sein ganzes Gesicht runzelt. Oh Gott! Helge Schneider! Jugendheld und Quatschvorbild. Neben ihm Sergej Gleithmann, der Pina Bausch des deutschen Jazztanzes, Riesenbart zur Halbglatze. Ich merke, wie sich mein Gesicht zu einer grenzdebilen Maske verzieht. Feu-er? Ich stottere. Helge greift in die Hosentasche, zieht seine Hand hervor und lässt den Daumen hochschnellen. "Kaboom", sagt er. Vor mir sein Finger, nur sein Finger. Tu es nicht, denke ich noch, als ich mich, Kippe im Mund, zu Helges imaginärem Feuerzeug hinabbeuge und an meiner Zigarette sauge. Es dauert ein paar Sekunden, bis Helge den Daumen zurückzieht. Bitte schön. Danke, Helge. Und dann verschwinden sie in die Nacht, er und Sergej. Ich schaue ihnen nach, dem Hut und dem Bart, die Zigarette unangezündet zwischen den Lippen. Jemand tippt mich an: Hast du mal Feuer?
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.03.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Laus Kinskis Katze

Freitagabend, 19 Uhr, Karl-Marx-Straße. Feierabendverkehr trifft auf Biervorratskäufer, Vorglüher auf Kleinfamiliengroßeinkäufer. Ein Pulverfass. Ich ziehe einen Koffer mit kaputten Rollen über das Kopfsteinpflaster, sehe also aus wie der Neu-Berliner/Tourist, der den Kiez kaputtmachen will. Die Neuköllner danken es mir mit Verachtung. Ganz anders die Reaktion auf meine Begleitung, Künstlername Laus Kinski, die mich davon überzeugt hat, ihr beim Umzug in ihr neues Atelier zu helfen. Mit der Bahn am Freitagabend. Ihre Katze Motte trägt sie wie ein Baby vor die Brust geschnallt. Alter, wie süß!
Mit der U7 runter zum Ring. Beim Ausstieg trifft der Rollkoffer versehentlich das Schienbein eines Schlechtgelaunten. Seine Fratze der rechtmäßigen Empörung verwandelt sich sofort in ein grenzdebiles Grinsen, als er Laus Kinski und Motte erblickt. Innehalten, Katze streicheln, Babylaute imitieren. Alles vergeben und vergessen. Mit der S46 nach Schöneweide. Jugendliche mit Ghettoblastern und Wodka- Energy-Mischungen. Hasserfüllte Blicke auf den Rollkoffer, früh gelernt. Dann miaut Motte. "Alter, wie süß!"
Diese Katze, da bin ich mir sicher, sollte bei den nächsten Verhandlungen im Ukraine-Konflikt um den Tisch streunen. Eine Schale Milch auf den Boden, schnurren lassen, fertig. Wer den Rollkoffer- Konflikt auf Berliner Straßen befrieden kann, der schafft alles.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 03.01.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
"Och ..."

Niemetzstraße Ecke Saalestraße, Neuköllner Diaspora nahe dem S- Bahnhof Sonnenallee. Die Kneipe an der Ecke mit Leuchtschriftzug: Tiefpunkt. Ein Schnaps: ein Euro. Davor auf der Straße eine Couch. Durchgesessen und durchnässt. Die Trostlosigkeit des Berliner Winters als Stillleben. Doch was zählt, sind die inneren Werte. Rein in die Kneipe gegenüber vom Tiefpunkt. Um die Theke herum eine Traube Ganztagstrinker mit Raucherfahrung. Prösterken, auf uns.
Die Kälte da draußen und die Angezündeten im Innern, getrennt nur durch eine Scheibe. Doch dann, für einen Moment, berühren sich beide Welten. Torsten, Schnitzelhände zur Nassrasur, regt sich auf. Urplötzlich, keiner weiß, warum. Er zetert, dann ein schlimmes F-Wort. Stille. Gaby, gerade noch Herzbardame, findet das nicht gut. Raus, brüllt sie. Torstens leerer Blick füllt sich mit Unverständnis. Das darf man doch wohl noch sagen. Der Unsatz des Jahres 2014. Es hilft nichts. Torsten muss weg, da sind sich alle einig. Er tritt vor den Stehtisch - ein Baum von einem Mann kurz vor der Rodung. Die Schnitzelhände jetzt vor dem Körper, zur Ruhe mahnend. Ein Geistesblitz durchzuckt den glasigen Blick. Okay, sagt Thorsten, dann sag ich eben Fötzchen. Stille, Blick auf Gaby. Die kippt Klares. Lacht. Och, sagt sie, das find ich jut. Prösterken, auf uns, diesen Moment. Mach ruhig noch einen Kurzen zum Bier. Gegen die Welt da draußen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 04.10.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
100 000 nackte Jungs

Sonntagvormittag, Neukölln, Reuterstraße. Das Grau des Eckhauses geht nahtlos in den Himmel über. Zu viel Beton, zu wenig Liebe. Es gibt Sonntage, an denen man lieber zu Hause bleiben sollte. Jetzt kämpft das verkaterte Gemüt gegen die Realität. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht eine Frau, Mitte 40 vielleicht, die kurzen Haare liegen schlaff auf dem Schädel. Sie steht an der Fußgängerampel, wartet wohl, dass es grün wird. Sie zieht ihren rechten Schuh aus, dann den Socken, steht da mit einem beschuhten Fuß und einem nackten. Die Ampel springt auf grün, doch die Frau geht nicht, sondern vollendet ihr Werk. Linken Schuh ausziehen, Socken hineinstecken. Es wird rot, es wird grün. Ich stehe einfach nur da, die Frau kommt auf mich zu, visiert mich an. Dann sagt sie: "Ich habe schon 100 000 Jungs nackt gesehen. Herzlichen Glückwunsch." Sie geht, nackte Füße auf nacktem Asphalt, an mir vorbei und weiter den Gehsteig entlang. Dabei habe ich noch so viele Fragen. Alles an diesen beiden Sätzen fasziniert mich. Allein die Zahl. 100 000! Wie viele Jungs sind das wohl pro Jahr? Rechnet man es aus, kommt man auf 2222. Sechs pro Tag, wenn man die Dame mit den nackten Füßen auf 45 Jahre schätzt. Was aber sollte das mit dem Glückwunsch? Bin ich einer von ihnen? Eine junge Frau kommt auf mich zu, schaut mich an - und lacht. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, dass mein Hosenstall offen steht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.08.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Capri-Sonne

Samstagabend in einem Späti auf der Karl-Marx-Straße. Der Laden stinkt, gestern Nacht hat einer vor die Theke gekotzt. "Hab schon gewischt", sagt der Besitzer, dauert jetzt ein paar Tage, war ziemlich viel, kann man nichts machen. Ein junger Mann kommt herein, barfuß, Wuschelkopf zum Flaumbart, er kauft Zigaretten und Bier. Sein Blick fällt auf die Capri-Sonne neben der Theke. Orange, der Klassiker. Er greift zu, der Verkäufer lacht. Was denn so witzig sei, fragt der Wuschelkopf. Nichts, sagt der Spätiverkäufer und schüttelt den Kopf. Als der Kunde gegangen ist, nimmt der Verkäufer eine Capri-Sonne in die Hand. "Früher haben die sich hier wahnsinnig gut verkauft. Das war das Einzige, mit dem man Tili runterspülen konnte." Tili, kurz für Tilidin, ist ein Schmerzmittel, das bei vielen jungen Türken in Neukölln sehr beliebt war. Es hieß, dass man davon aggressiv würde. Stimmt nicht, sagt der Verkäufer. Es war beliebt, weil es wenig kostete und man in Prügeleien keine Schmerzen mehr spürte, wenn einen die Faust des Gegners traf. Das einzige Problem war der Geschmack. Tilidin ist extrem bitter, wirklich widerlich. Aber in einem Päckchen Capri-Sonne sind sechseinhalb Stücke Würfelzucker enthalten, mehr als in Fanta. Genug, um den Geschmack von Tilidin zu mildern. Seit Anfang 2013 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz, der Straßenpreis ist in die Höhe geschossen. Und der Verkauf von Capri-Sonne abgesackt.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 31.05.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Landeier unter sich

U-Bahnhof Alexanderplatz, Mittwochabend, Warten auf die U5 Richtung Hönow. Auf dem Gleis gegenüber hält ein offener Wagen, Menschen mit gelben Helmen applaudieren. Endstation der Tour im U-Bahn-Cabrio durch Berlins Unterwelt.
Eine Gruppe Touristen jenseits der sechzig steigt aus, Helme ab. Drei Frauen in Steppjacke und kleinem Lederrucksack, die Männer passend in beige-grauem Altherren-Understatement. Die Frauen fragen: "Ist das hier richtig, Richtung Hönow?" Die abgeklärten Großstadtzwanziger am Gleis nicken. Die alten Herren sagen: "Hab ich doch gesagt." Szenen dreier Ehen. Alles klar also? Mitnichten. Eine will nicht. "Das ist falsch hier, das weiß ich, ich war mal hier." "Wenn du nicht mitkommst, Petra, dann bleibst du hier." Die Bahn fährt ein, Petra immer noch in Opposition: Nee, ist falsch. Drei Herren und zwei Damen in der Bahn, Petra davor, standhaft. Nein, nein, nein.
Die Gruppe wird nervös. Die Frage ans Abteil: "Ist das richtig hier, Richtung Hönow?" Gelächter, Überheblichkeit. Petra steigt ein, unter Protest. Die Stimme aus dem Off: "Richtung Hönow, bitte einsteigen." Erleichterung. Dann Petra an alle: "Entschuldigung, so ist das, wenn Landeier in der Großstadt sind." Das sitzt. Kein Gelächter mehr, die Köpfe werden eingezogen, ein paar sogar rot. Ein Abteil voller zugezogener Landeier aus Bottrop und Bielefeld, gerade noch so cool, schämt sich jetzt. Nur Petra lacht. Sehr laut.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.03.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Tok, tok, tok

Kottbusser Damm, an einem Sonntagvormittag. Erste Radtour nach dem Winter, der keiner war. Ein Krankenwagen drängt sich vorbei, reiht sich ein in eine Blaulichtkolonne, die am Kottbusser Tor unter einer Ampel endet. Fünf Meter darüber, auf einem Vorfahrtsschild, steht eine Frau, etwa dreißig, recht schlank und sehr nackt. Bekleidet nur mit einem Hammer in der Rechten. Ein Polizist, Kopf nach oben gereckt, in der Nackenfalte reflektiert der Schweißfilm. "Kommen Sie runter?", fragt er. Die Antwort von oben: Tok, tok, tok.
Mit dem Hammer schlägt sie auf die Ampel. Die Menschentraube hat die Smartphones justiert. Und wieder: Tok, tok, tok. Als wolle sie sagen: Die Ampel muss weg! Zwei Berufstrinker nicken anerkennend: "Nicht schlecht." Darauf ein Sterni.
Es kracht, ein Wohnmobil, Kennzeichen HSK, ist in einen Berliner Twingo gefahren. Die Beifahrerin, Mitte 60, schimpft mit dem Gatten. "Wo du wieder deine Augen hast." Von oben strahlt weiterhin der weiße Protest-Po. Wofür oder wogegen sich der Protest - um einen solchen handelt es sich doch wohl - richtet, bleibt unklar. Aber solange sie da oben steht, im Kreisverkehr, hat sie nicht verloren. Eine Art Viktoria, die Goldelse in Weiß, eine Kreuzberger Variante der Siegessäule. Die Nackte hämmert weiter auf die Ampel ein, dem Polizisten rinnt der Schweiß ins Hemd. Alle Fotos sind gemacht, das Bier ausgetrunken. Ein Sonntagvormittag am Kotti, der nackte Wahnsinn.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.02.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Sei Wedding!

Café Barrikade, Ecke Pankstraße. Aus den Boxen plärrt Punk, die Scheiben beschlagen. Trinker am Tresen, Studenten hinter der Süddeutschen. Im Hinterzimmer Kicker und Billard. Das Schild mit der durchgestrichenen Marihuanapflanze verschwindet im Kiffer-Qualm. Auf dem einzigen Stuhl sitzt einer, der mit Härterem zu kämpfen hat. Zittert, schwitzt und friert. Daneben steht sein Kollege mit Riesenjoint, erzählt, was falsch läuft in der Welt. Das Zittern des anderen scheint Bestätigung genug.
Am Kicker lehnt mein Freund, nennen wir ihn L. Er ist Weddinger und macht das öfter: lädt mich ein, um mir seine Welt zu erklären. Seine Welt: Wedding. Der Wedding bleibt hart, der Wedding bleibt rot. So geht das immer. Gerade hat L. Fahrt aufgenommen, da platzt der Riesenjoint in den Monolog. "Wollt ihr ein Handy kaufen? Hab’ ich über." Er zieht ein altes Sony Ericsson aus seiner Brusttasche. Wir verneinen. "Gebt ihr mir ein Bier aus?" Ich halte ihm meins hin, hoffe, dass er ablehnt. Er greift zu. Ob wir auch eine Zigarette hätten, fragt er. L. hält ihm den Tabak hin. Der Typ schaut auf das Bier in der einen Hand, den Joint in der anderen. L. dreht ihm eine. Das eben angebotene Handy klingelt. Der Typ geht ran, nimmt die Zigarette und geht ab. "Sorry Jungs." Am Tresen trinkt er mein Bier aus, raucht die Kippe von L. und brüllt Beleidigungen gegen Hertha und die Welt ins Handy. Wedding bleibt Wedding.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.12.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Endlich zuhause

Aus dem Hamburger Exil zurück in Berlin. Heimatgefühle, endlich wieder offene Pöbeleien statt hanseatischer Ignoranz. Ankunft am Südkreuz. Die Ringbahn natürlich verspätet, ich beschwere mich am Schalter. Auch noch am falschen, dem von der Deutschen Bahn. Sichere Nummer, bestimmt werde ich angeschnauzt, wie sonst im Bus, wenn ich eine Einzelfahrkarte mit einem Zwanziger bezahlen will. Der Mann am Schalter schaut auf, hebt die Hände und dann - Überraschung! Er entschuldigt sich. Was ist hier los? Soll ich ihn für das schlechte Wetter verantwortlich machen? Die Bahn kommt, ich lasse die anderen Fahrgäste nicht aussteigen, drängle mich als Erster hinein. Jetzt aber, denke ich, volle Berliner Breitseite, ich bin bereit. Doch nichts geschieht. Die Bahn ist voll, kaum ein Platz frei. Trotzdem stelle ich meine Tasche auf den Nachbarsitz. Ein Arbeiter steigt zu, sieht den fast freien Platz neben mir. Er bleibt stehen, kein Wort. Verdammt, denke ich, was soll ich denn noch machen? Einfahrt S-Bahnhof Sonnenallee. Aus dem Fenster sehe ich den Dönerladen, die S-Bahn-Klause. Die Türen gehen auf. Direkt vor mir ein schon ordentlich angezündeter Obdachloser. Als ich aussteige, glotzt er mich an, wie den Typen, der ihm das letzte Sterni vor der Nase weggekauft hat. Er holt tief Luft und brüllt los: "Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mir gerade noch gefehlt. Wichser!" Endlich, denke ich, endlich zuhause.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 12.10.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ungleicher Kampf

Alt-Neukölln gegen Neu-Neukölln vor den Arcaden an der Karl-Marx- Straße. Ein junger Mann, knapp zwei Meter lang - mit Hipster-Insignien: Tight-Jeans zu zu tief Ausgeschnittenem, Bart und Jutebeutel - steht an der Ampel. Ein Mann, etwa 40, Typ Malocher, verschwitzt, Filterlose im Mundwinkel, rennt auf ihn zu: "Verdammt, du Hurensohn, ich hab gesagt, geh da weg!" Der Akzent: osteuropäisch. Der Auslöser für den Streit: ungewiss. Gewiss nur, dass es hier gleich knallt, und zwar richtig. Der Alt-Neuköllner packt den Neu-Neuköllner am Kragen. Er muss hochschauen, zwei Kopflängen trennen die beiden Männer. Der Alte schlägt aufwärts, dem Jungen mit offener Hand ins Gesicht. Der Junge, perplex, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Nichts in seinem Leben in, sagen wir, der ostwestfälischen Provinz scheint ihn darauf vorbereitet zu haben, hier am helllichten Tag auf die Schnauze zu kriegen. Das hier ist keine Klopperei mit dem Jan-Lennart, damals, im Herforder Kindergarten, Ende der 80er. Keine Gewalt, das merkt er jetzt, während die Schellen auf ihn einprasseln, ist auch keine Lösung, zumindest nicht sofort. Aber er steht es durch, stoisch, bis der Alte von ihm ablässt. Der Neu-Neuköllner geht weg. Schaut sich noch einmal um. Ein paar Jahre noch, scheint sein Blick zu sagen, dann sind hier die letzten Wohnungen kernsaniert. Alt-Neukölln wird es dann nicht mehr geben.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.05.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zurückgeschissen

Mittwochabend, Neukölln, Rixdorf. "VoKü" steht mit Kreide auf der Tafel vor der linksalternativen Sperrmüllmöbelkneipe. Zwei Euro für eine warme Mahlzeit. Kartoffeln an Karotten-Paprika-Pampe. Die Bierbänke ächzen unter der Last der studentisch-alternativen Hinterteile. Platz findet lang nicht jeder. Die mampfende Masse säumt den Gehweg bis zur Galerie, die vor einiger Zeit zwei Häuser weiter aufgemacht hat. Im Fenster der Kneipe hängen Poster: "Homophobia kills", "Kein Ort für Nazis".
Gegenüber ein Seniorenheim. Rentner schauen durch gehäkelte Gardinen auf das junge Treiben. Eine alte Frau tritt heraus, den Dackel im Anschlag hinter sich herziehend. "Verdammt noch mal", brüllt sie, als sie sich an den Billig-Essern vorbeiquetscht, "wir müssen hier durch!"
Niemand rührt sich. Der Gesichtsausdruck der Frau rangiert irgendwo zwischen Verachtung und Hass, der Dackel schnappt nach einer Kartoffel. Sie gehen um die Ecke, ein paar Leute holen sich Nachschlag. Nach einigen Minuten kommt Frauchen samt Dackel zurück, gelassener jetzt, erleichtert, als sei ihr Plan aufgegangen. Ein Blick in die Straße, aus der sie kamen, und die Vorahnung wird Gewissheit: Ein frischer Haufen Hundescheiße thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Bürgersteig. Seit Mittwochabend, 21.30 Uhr, wird zurückgeschissen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.04.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Fenster zum Hof

Neukölln, vierter Stock, Vorderhaus, Blick nach hinten raus. Zwischen vier Häuserwänden - zu viel Beton, zu wenig drüber - erwacht das, was man nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Frühling. Ein Blick aufs Thermometer, neun Grad. Alles über null Grad ist Frühling. Berlin war lange eine geteilte Stadt, ist es noch heute. Nicht mehr durch eine Mauer, doch durch die Jahreszeiten. Im Winter ist alles DDR, Plattenbau und grau. Im Sommer supergeil, Party und Spree.
Also, Fenster auf, Frühling rein, Winterdepression raus. Die von gegenüber hatten die gleiche Idee. Musik ertönt. Bonnie Tylers "Total Eclipse of the Heart". Die aus dem zweiten Stockwerk schießen zurück. Drum and Bass. Zwischen zwei wummernden Basssalven schmalzt Bonnie Tyler: "And I need you now tonight / And I need you more than ever!" Irgendwo brüllt ein Kind. Im Hinterhof verliert eine Bierflasche den Kampf gegen die Betonwand.
"Schnauze", brüllt einer in den Soundteppich. Der Bonnie-Tyler-Fan schreit zurück. "Halt’s Maul!" Jetzt kommt mir allmählich die Erinnerung. Frühling in Berlin, das bedeutet Kampf. Kampf um den öffentlichen Raum. Kampf um die Musikhoheit im Hinterhof. Bonnie Tyler bäumt sich ein letztes Mal auf: "But now there’s only love in the dark / nothing I can say / a total eclipse of the heart." Ich schließe das Fenster, ziehe die Vorhänge zu. In sechs Monaten, denke ich, ist der Spuk wieder vorbei.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 23.02.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Total ausgerastet

Donnerstagmorgen, 9 Uhr, krachendes Erwachen. Trillerpfeife, Megafon, Sirene. Ein Blick aus dem Fenster - Kreuzberg: Lausitzer, Ecke Wiener Straße - und die Gewissheit: Demo. Auf beiden Seiten der Absperrung die Krieger für die Schlacht gerüstet. Und ich will nur nach Hause, nach Neukölln, Rixdorf. Vom Kottbusser Tor mit der U8 zum Hermannplatz, dann den 41er. Jetzt aber: Rein ins Getümmel.
Aus dem schwarzen Block hört man etwas von Scheiß-Gentrifizierung, Steine fliegen nicht, nur eine kleine Wodkaflasche. Angeheitert schmeißt sich’s besser. Die Passanten retten sich mit mir in die U-Bahn. Hermannplatz, Umsteigen. Zwei junge Studentinnen haben den gleichen Weg. Die eine zückt ihr Handy. "Ja, war krass", sagt sie ins Telefon. "Die Bullen sind total ausgerastet, ohne Grund, Tränengas und alles." Die Freundin nickt stumm. Bestätigung. Dass die Demo da gerade wirklich krass war. Und sie mittendrin.
"Hast du mich im Fernsehen gesehen?", fragt sie ins Handy. "Ich habe mich extra auf eine Säule gestellt." Nee? Na ja, schade. Themawechsel, irgendwie. Sie, die Freundin am Telefon, müsse unbedingt mal die neue Wohnung anschauen. Ein Zimmer, Nähe Weserstraße, nicht ganz billig, 400 Euro, aber "so, so schön". Mit abgezogenen Dielen. Total toll.
Schade eigentlich, denke ich, dass ich die Wodkaflasche nicht aufgehoben habe. Ich hätte jetzt so gerne etwas, um es zu schmeißen.

Dominik Drutschmann

Erschienen am: 18.04.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
VERDAMMTE GENÜGSAMKEIT

Im Saunabereich der Turngemeinde Berlin gelten zwei Regeln: Schnauze halten und nicht aufs Holz schwitzen. Auch schon vor Corona sollte jeder seine Ausdünstungen ins eigene Handtuch absondern. Die bestätigende Ausnahme kommt im Körper eines Ü80-Jährigen daher. Er steht auf der Saunabank, Schweiß tropft aus jeder Pore, das Holz unter ihm färbt sich dunkel. Niemand sagt etwas. Nach der Dusche sitzt der Alte in der Umkleide, die Lebenserfahrung tief ins Gesicht gezeichnet. Er schaut mich an, während er Körperlotion großflächig über seinen Kopf entleert. „Ich hab eine Wohnung verkauft. 90.000 Euro.“ Er hält inne, ein Blick wie eine Blutgrätsche, die Körperlotion läuft das welke Fleisch hinunter. „90.000 Euro und weißt du, was die Scheiße ist?“ Ich weiß es natürlich nicht. „Dass die Scheiß-Kohle jetzt so rumliegt.“ Er schüttelt den Kopf, greift in seine Sporttasche und holt eine Malerrolle heraus, Typ: filigrane Eckenarbeit. Er schaut mich weiter an, milder jetzt, vielleicht auch resigniert und beginnt, die Körperlotion mit der Malerrolle vom Kopf gen Süden zu verteilen. Renovierungsarbeiten am eigenen Körper. Dazu eine Lebensweisheit. „Das schlimmste am Alter ist die verdammte Genügsamkeit“, sagt er. Früher, da hätte er die Kohle nur so rausgehauen. Und jetzt? Jetzt wolle er nichts mehr. Auch, weil er nicht mehr könne. Er verreibt die letzten Überbleibsel der Lotion auf seinem Rücken. „Junge“, sagt er zum Abschied, „mach‘s gut.“ 
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.12.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
KEIN DÖNER LAND IN DIESER ZEIT

Neukölln an einem Donnerstagvormittag. Der Lidl an der Ecke Flughafenstraße hat sich hübsch gemacht. Wiedereröffnung. Sogar der Security-Typ strahlt. Einkaufen war dort auch früher ein Erlebnis. Vielleicht wird es jetzt ein erfreuliches. Also rein und staunen. Gut ausgeleuchtete Discounter-Südfrüchte, dazu vegetarische Burger-Pattys aus Eigenproduktion, hinten links die Deluxe-Produkte-Ecke. Von dort droht jetzt Ärger im neuen Einzelhandelsparadies. Eine Mutter, Hidschab und Hackenporsche, zerrt ihre Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, in Richtung Ausgang. Die aber stockt in ihrer Empörung. Sie packt den angefangenen Döner in die Alufolie, als ob sie versuchen würde, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Mutter zerrt, die Tochter klagt: „Seit wann darf man in Lidl kein Döner essen?“ Und dann: „Ist Lidl jetzt High Society oder was?“ Die Umstehenden: vereint im Lachen über die rechtschaffene Empörung, über die Absurdität des schönen Schein. Komik war immer schon das schärfste Schwert der Unterdrückten. Und auch im neuen Glanz des Lidl funktioniert es. „Ach komm“, sagt die Verkäuferin zum Mädchen, „iss deinen Döner“.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.09.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Erde so frisch

Dienstagnacht im Sandmann in Neukölln. Hinten ist schon das Licht aus. Das ist jetzt wirklich das letzte Glas. Zum Abschied holt die Bardame einen Flyer hervor, darauf der Hund, der immer im Eingangsbereich lag. Eine Traueranzeige. Der Hund ist tot. Vor der Kneipe, am Stamm der Weide, zwei in Plastikhüllen verpackte Fotos. Wieder der Hund, die Augen rot von Herrchens Fotoblitz.Irgendwer hat Blumen gepflanzt, die Erde ist noch frisch. Plötzlich steht eine Frau neben mir, Ende 50, lange Zigarette, Hund an der kurzen Leine. Bestürzung im faltigen Gesicht. „Das war doch der Spock“, sagt sie. „Wie bitte?“ „Das war der Hund von dem Mann, der da immer am Tresen saß. Und jetzt tot.“ Sie beginnt zu schluchzen, „schlimm ist das“. „Aber der Mann lebt noch“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ja“, sagt sie, die Tränen laufen, „aber das ist immer so: Erst Hund, dann Herrchen. Das dauert nicht mehr lange. Und dann ist der auch tot – schlimm ist das.“ Wie verweilen einen Augenblick, schauen stumm auf die Weide, auf die Fotos in den Plastikhüllen, die frischen Blumen. „Aber Ihrem Hund geht's gut?“, frage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und sagt nur ein Wort: „Krebs.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ordnungshüter

Ein Montagmittag an der Kreuzung Hermannplatz. Die Linksabbieger sind durch, die Autos auf der Hermannstraße stehen noch wenige Sekunden. Ein Mann um die vierzig, offener Mantel, fettiges Haar, überquert die Straße bei Rot. Was er nicht gesehen hat: dass hinter ihm ein Polizist in Hundertschaft-Kampfmontur steht. Dieser ruft ihm hinterher: Hallo! Keine Reaktion. Da überquert der Beamte nun ebenfalls die Straße, was er nicht gesehen hat: dass die Autos von der Hermannstraße jetzt Grün haben. Vollbremsung, Hupkonzert. Der Polizist hebt die Arme, als wolle er sagen: "Verdammt, ich mach hier nur meinen Job." Auf der anderen Straßenseite empfängt ihn eine junge Mutter mit Kinderwagen und Vorwürfen. "Sie sind ja ein tolles Vorbild." Ignorieren, weiter dem Rotgänger nach. Auf Höhe McDonald’s kann der Hüter der Ordnung ihn stellen. Er redet auf ihn ein, der ungewaschene Schopf nickt verständig. Was der Polizist dabei nicht sieht: dass er auf dem Radweg steht. Zwei Radfahrer halten auf ihn zu, klingeln und pöbeln. Der Polizist will hinterher, hat zu Fuß aber keine Chance, bricht nach wenigen Metern ab. Der Rotsünder hat sich indessen entfernt. Die Grünphase ist wieder vorbei, die Straße noch frei. Für einen Moment überlege ich, hinüberzugehen. Aber das will ich dem armen Mann nun wirklich nicht antun.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Imbisspolizei

Ein Mittwochnachmittag um halb fünf an der Hasenheide. Der verdammte Job hat länger gedauert, der Kollege und ich müssen jetzt dringend zu Mittag essen. Sonst ist die Laune im Keller. Bei Hamy, dem Vietnamesen, ist es übervoll, also zum Mitnehmen. "Können Sie bitte draußen warten?", fragt der Kellner. Eigentlich ungern, aber gut, jetzt nicht auch noch Streit anfangen. Stattdessen vor der Tür eine rauchen. Zwei Polizisten gehen an uns vorbei, direkt in den Imbiss. Die Zigarette ist noch nicht aufgeraucht, da kommen die beiden wieder heraus, in der Hand eine Plastiktüte mit Essen. "Entschuldigung", rufe ich ihnen hinterher, "aber haben Sie vorbestellt?" Nein, sagen sie, hätten sie nicht, das sei ganz schnell gegangen. Kippe aus und rein in den Laden. "Werden Bullen hier bevorzugt oder was?" Der Mitarbeiter schaut erst mich an, dann auf seinen Zettel - und wieder hoch. Ich will gerade erneut ansetzen, da rennt der Kellner an mir vorbei auf die Straße. Ich hinterher. Der Polizeiwagen ist gerade am Ausparken, der Kellner klopft an die Scheibe, die Tür öffnet sich, und er entwendet den Beamten das Essen. Lachend kommt er zurück und drückt mir die Tüte in die Hand. "So geht’s ja nicht", sagt er und geht wieder in seinen Laden. Das Polizeiauto passiert uns, die Gesichter im Innern sehen hungrig aus.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.03.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kann bassieren

Ein früher Dienstagnachmittag. Das Visum für Russland liegt zwar bereit, erfahre ich am Telefon, aber für heute hat die Pass- und Visastelle in Mitte schon geschlossen. Morgen wieder, werde ich vertröstet. Das Problem: Ich bin viel zu spät dran, wie immer. Und schon morgen geht mein Flug. Nach minutenlangem Bitten und Betteln kommt der kulante Vorschlag: "Na, dann kommen Sie ausnahmsweise heute um 15 Uhr vorbei." Da stehe ich also vor der Glasscheibe und versuche der Dame am Empfang den Sachverhalt zu erklären. "Ich möchte meinen Pass abholen und soll in Zimmer 0.3.05 gehen." "Ich darf Sie nicht alleine durchs Gebäude gehen lassen", lautet die Antwort hinter der Scheibe. "Na, dann stellen Sie mir jemanden zu Seite", schlage ich vor. "Der war gut", sagt die Empfangsmitarbeiterin. Sie lächelt nicht, greift aber zum Telefonhörer. Warten. Nach etwa zwei Minuten eilt eine Frau auf uns zu, den Pass in der Hand. "Was soll das denn? Ich habe für soetwas keine Zeit", ärgert sich die Frau mit meinem Pass an die Scheibe gewandt. "Warum haben Sie den Mann nicht hochgeschickt?" Schulterzucken. Die Frau übergibt mir den Pass und geht ab. Die Dame hinter der Scheibe setzt zur Entschuldigung an. "Das tut mir leid", sagt sie. "Ich habe Bass verstanden. Und mich schon gewundert, wer hier Bass spielt."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 10.02.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kopf in Wand

Samstagnachmittag, vierter Stock in einem Neuköllner Hinterhaus. Die zweite Halbzeit der Bundesligakonferenz läuft im Radio, da klingelt es an der Tür. Mutti hatte sich angekündigt. Aber jetzt schon? Wollte doch noch aufräumen, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen. Schon klingelt es erneut. Tür auf und herein kommt das Chaos im Blaumann. Wasserschaden, bei der Nachbarin im Zweiten. Die Stimme laut, der Ton duldet keinen Widerspruch. Dass die verdammte Heizung dem Klempner den Samstag verhagelt, steht zwei Furchen tief in sein Gesicht geschrieben. Zehn Sekunden später balanciert er auf meinem Badewannenrand, eine Säge in der Hand. "Was machen Sie da?", frage ich. Die dritte Furche meißelt sich in sein Gesicht. "Ein Loch." Sagt er und sägt ein Rechteck in den Rigips. Aber es ist zu klein: Beim Versuch, seinen Kopf in die Wand zu stecken, bleibt er hängen. Sein Gesicht jetzt eine einzige Furche. Fluchen, nachjustieren, Kopf in die Wand. Er redet weiter, doch der Rigips verschluckt seine Worte. Kopf raus, runter in den zweiten Stock, wieder zurück, Kopf in die Wand. So geht das eine ganze Weile. Keine Ahnung, sagt er schließlich und geht. Das Bad ein Schlachtfeld, durch das Loch blickt man auf Mauerwerk. Es klingelt. In der Tür steht Mutti. "Wie sieht’s hier denn aus? Da ist ja ein Loch in der Wand! Junge, muss ich mir Sorgen machen?"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.11.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Haarige Angelegenheit

In der U8 von Osloer Straße bis Hermannplatz. Je südlicher, desto bärtiger, ab Kotti sind die Glattrasierten in der Minderheit. Zwei Jungs, nicht älter als zwölf, unterhalten sich auf Türkisch. Keine Ahnung, worum es geht. Aber dringlich ist es, zumindest für den einen. Dessen Stimme wird lauter, der Freund versucht ihn zu beruhigen und bewirkt doch eher das Gegenteil: Wut spült erste Tränen in die Augen. Der Freund fasst ihm an die Schulter, aber auch diese Berührung hilft nicht. Was hat er bloß? Die beiden diskutieren weiter. Wenn das eskaliert, sage ich zu mir selbst, werde ich dazwischengehen. Und wenn ich dafür bis zur Endhaltestelle Hermannstraße fahren muss. Nächster Halt Schönleinstraße. Vom Türkischen geht es über in eine Melange aus Landes- und Muttersprache. Jetzt hat auch der Besonnene die Schnauze voll: "Was ist denn dein Problem?" Der Freund wischt sich die Tränen aus den Augen, funkelt seinen Kumpel an, kommt ihm näher und näher, deutet dabei immer wieder auf sein Gesicht, als wolle er dem Gegenüber zeigen, wohin er gleich schlagen werde. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der beiden Streitenden. "Oglum", ruft er da, "ich habe den miesesten Bartwuchs meiner Familie." Kurzes Schweigen. "Selbst meine Mutter hat mehr." Der Freund klopft ihm auf die Schulter: "Wird schon."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.10.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Brauchst du, Bruder?

Neukölln, Reuterstraße Ecke Karl-Marx-Straße, ein Sonntagabend. Die Tankstelle, sonntags zuverlässigste Adresse für Getränke-, Tabak- und sonstige Notversorgung, ist frisch renoviert, innen bestens ausgeleuchtet. Vor der Tür, abseits des Lichtkegels, der herausfällt, steht ein Mann, gepflegter Vollbart zu ausrasiertem Nacken, und betankt sein Auto. Aus dem Nichts erscheint ein weiterer, die Jacke flattert ein paar Nummern zu groß um seinen Körper. Er hat einen Karton unterm Arm. "Bruder, brauchst du Messer?" Vielleicht gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem das völlig normal ist, Fremde beim Tanken in einen Messerdeal verwickeln zu wollen. Dieser ist es nicht. "Ich will deine scheiß Messer nicht." Vielleicht ist der Mann aus der Dunkelheit Messerverkäufer, der diese Woche seine Quote nicht erreicht hat. Und jetzt noch diesen einen verdammten Karton verkaufen muss -
Messerset, zwölf Stück. Er zieht eines heraus. "Verpiss dich", sagt der andere und geht bezahlen. Der Verkäufer, das Messer noch in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet, schaut mich an. "Bruder, brauchst du Messer?" Ich muss lachen, fast hysterisch. Das erschreckt ihn so sehr, dass er zurückweicht. Instinktiv gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Lache noch immer. Da dreht sich der Mann um, elf Messer unterm Arm, eins in der Hand, und rennt davon.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.04.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Hund

Samstagabend in einer Neuköllner Eckkneipe. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber einige Gäste sind schon ordentlich angezündet. Im hinteren Teil feiert jemand Geburtstag, unangemeldet, die Kellner sind genervt. Im vorderen Teil tummeln sich ein paar Party-Touristen, die einmal zu oft aufs Klo gehen. Von all dem unbeeindruckt liegt in der Mitte des Raums ein Hund. Es heißt, dass sich Hunde in fremden Umgebungen immer den Platz aussuchen, von dem aus sie den besten Überblick haben. Ein Instinkt, der nicht totzuzüchten ist, offenbar steckt er selbst noch in diesem Exemplar Hund, einem Dackel mit Gewichtsproblemen, der wie eine Wurst aussieht, wenn auch eine sehr unförmige Wurst. Der Hund ruht unbewegt im Epizentrum des samstäglichen Kneipenerdbebens. Teilnahmslos auch dann noch, als ein Gast ihm beim Bierholen auf den Schwanz tritt. Hund zuckt nicht, Herrchen schon. Das ist mein Hund, sagt Herrchen. Der Treter ist perplex, nimmt den Dackel jetzt zum ersten Mal wahr, Ausfallschritt passend zur Ungläubigkeit. Sein Blick löst sich erst nach einigen Sekunden vom Hund, wandert hoch zum Herrchen, ein letztes Konzentrationsaufbegehren gegen das alkoholbedingte Wegdämmern, sein Mund formt Worte: "Was der Mensch aus dem Wolf gemacht hat", lallt er, "ist eine verdammte Tragödie!"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.01.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zigarettenlänge

An einem Freitagvormittag, Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Das Kind auf der anderen Straßenseite, nicht älter als vier, im Schneeanzug, ist gerade in sich zusammengefallen. Es kniet und schreit. Blick gen Himmel, die Nase läuft, Rotze droht an der Lippe festzufrieren. Der ganze Schmerz dieser Welt, vereint auf einem Meter Wohlstandsgör.
Was es hat? Man weiß es nicht. Was es sicher nicht bekommt: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Der sitzt 50 Meter weiter im Tramwartehäuschen und raucht. Typ Waldschrat in Funktionskleidung. Doch es ist das falsche Pflaster für derlei Sorglosigkeiten in der Kindererziehung. Auftritt der Mütter. Erst auf den Jungen eingeredet, dann den Vater ins Verhör genommen. Ist das Ihr Kind? Nicken. Wollen Sie sich nicht um den kümmern? Zug an der Zigarette, Kopfschütteln. Empörung am Retro-Kinderwagen. Jetzt gerät der rauchende Vater ins Rotorblatt der Helikoptererziehung, manikürte Finger fuchteln vor seiner Nase.
Irgendwann ist auch mal gut, und das ist jetzt. Kippe weggeschnippt, aufgestanden, Ansage: "Geht mir nicht auf den Sack. Kümmert euch um euren eigenen Scheiß." Stille, auch das Kind hält inne. Die Mütter sehen so aus, als wollten sie sich irgendwo beschweren. Bloß wo? Bevor das ganze Eskalationspotenzial dieser Szene zum Tragen kommt, schlichtet das Kind: Es ist aufgestanden. Papa, komm, sagt es. Und Papa kommt. Manchmal braucht es nur eine Zigarettenlänge.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 17.09.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Ratte

Ein Dienstag in Kreuzberg. Am Hermannplatz, hinter dem Karstadt, verbindet ein Parkplatz die Urbanstraße mit der Hasenheide. Radfahrer und Fußgänger benutzen ihn als Abkürzung, zum Ärger der Autofahrer. Hinter der Schranke hupt jetzt einer, wie zum Beweis. Vor ihm steht ein Fußgänger, Anfang 20, in der Hand ein Handy, zwischen Opel und Skoda auf der Jagd nach Pikachu. Er spielt Pokémon Go.
Ich verachte sie ja, diese nach dem Mauerfall Geborenen, die als Reminiszenz an ihre Jugend mit dem Handy ihre alten Gameboy-Helden in der realen Welt suchen; dieses Abkulten der eigenen Vergangenheit, obwohl die erst ein paar Jahre zurückliegt. Wie gönne ich es dem Typen, vom Fahrer des Autos angebrüllt zu werden, ehe der wütend weiterrast in Richtung Stellplätze.
Vor der Schranke auf dem Boden ein Gulli. Zwischen den Gitterstäben, durchnässt, die Augen aufgerissen, halb im Schacht, halb an der Oberfläche, eine tote Ratte. Und plötzlich liegt genau da auch eine Kindheitserinnerung für mich. Ich denke an Splinter, die Ratte aus den "Ninja Turtles". Sofort habe ich den Titelsong im Ohr, Frank Zander, die 80er: "Immer auf der Lauer - und immer etwas schlauer."
Ein Hupen reißt mich aus der Sentimentalität. Das Auto kommt auf der Ratte zum Halten. Entgeistert sehe ich den Fahrer an - und merke gar nicht, dass ich im Weg stehe. Vollidiot, sagt er und fährt davon, geradewegs zu auf den Typen, der sein Pokémon sucht.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.07.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Oma-Trick

An einem Samstagmorgen in Neukölln. Es ist kurz vor neun. Eine Frau mit Blumenkohlfrisur zieht ihren Hackenporsche in entgegengesetzter Richtung zu einem Pärchen, das sich wohl in der Nacht gefunden hat. Zumindest in der jungen Frau kommen aber jetzt offenkundig Zweifel auf, ob die Entscheidung im Licht noch standhält. Er sucht Nähe, sie Abstand. Davon unbeeindruckt steht zwischen Lidl und Bankfiliale ein Obdachloser und klirrt mit dem Becher.
Eigentlich ein guter Platz, doch der Mann ist schlecht drauf. Er schaut auf den Wahlkampfstand vor sich. Zwei Omis mit randlosen Brillen, die eine lila Haare, beide AfD. "Scheiße", sagt er, als ich ihm Kleingeld gebe, "was wollen die hier?" Es ist schlecht fürs Geschäft. Dazu noch diese miese Masche, mit freundlichen alten Damen aufzufahren. Da ist man als politischer Gegner gleich gehemmt. Alte Frauen anschreien, wie sieht das denn aus. Der Oma-Trick.
Der Schnorrer jedenfalls ist jetzt auf Betriebstemperatur. Sein Hund steigt mit ein. Ein zweistimmiges Bellen gegen rechts. "Ich werd mit den Linken nach Marzahn gehen und mich schön bei den Faschos vor die Tür setzen." - "Wuff!" Der Mann lacht auf, zwei Reihen reines Zahnfleisch. "Ich mach mit", sage ich, eine Spur zu übermütig. Das findet er so gut, dass er mir was vom Tetra-Wein anbietet. "Ein andermal", sage ich, "lass dir den Tag nicht versauen." Wieder das zahnloses Lächeln, schiefer Blick zum Stand. "Jedenfalls wird mir nicht langweilig."

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.05.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Happy Meal

Im Erdgeschoss der Neukölln Arcaden an einem Samstag. Die Schlangen vor Sparkassenautomaten und Postschalter haben sich ineinander verheddert. Eine 50-Personen-Polonaise mit einem Ursprung und zwei Enden.
Dahinter ein McDonald’s, am Schalter ein Familienverbund, drei Generationen Hunger. Der Junge, vielleicht zehn, im Jogger und grauem Sweatshirt. Darauf steht Bronx, geschrieben: BRNX. Mutti trägt eine dieser Frisuren aus ihrer Jugend, also den Achtzigern, die so aussehen, als hätte jemand den Cesar-Hund aus der Fernsehwerbung blond eingefärbt und ihr auf den Kopf gesetzt. Dazu stilsicher: Leopardenprint- Oberteil, passender Gürtel, weiße Lederhose. Stiefel über der Hose. Oma sitzt auf dem Rollator, regungslos, Honecker-Brille, kein Retromodell.
Mutti kommt vom Fast-Food-Schalter. Auf den Tüten in der Hand steht Happy Meal, in ihrem Gesicht das Gegenteil. Oma wollte nur Pommes, keine Bulette. Ihr Blick sagt: Was habe ich bloß falsch gemacht? Mutti lädt den Weltfrust generationsübergreifend auf den Jungen ab: Finger weg, gegessen wird zu Hause. Und da geht’s jetzt hin.
Mutti bodychecked eine Schneise in die Polonaise. Oma hinterher: Sehen Sie nicht, dass ich behindert bin? Der Bronx-Junge fingert am Happy Meal. Und Mutti hat die Schnauze voll. "Schluss jetzt. Sonst war’s das mit Happy Meal." Die Drohung wirkt. Der Junge schmollt. Und die Polonaise sortiert sich neu.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.04.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Rausschmeißer

Samstagabend im Sandmann, Reuterkiez. Vom Tisch rechts neben der Tür hat man den besten Blick auf diese Weltklassekneipe. Ein schöner Dreischritt: Vorne am Tresen das menschliche Thekeninventar über 60 neben ein paar normalen Stammgästen unter 60. Im Zwischenraum die Hipster. Und im Billard raum das in sich geschlossene Biotop aus Kiffern und Kneipensportlern.
Nur einer schwebt an diesem Abend durch die Zonen. Sein Auftreten: eine Mischung aus Jimmy Page und Jerry García mit einer Prise Rainer Langhans. Graue Mähne, Bart, viel zu weit aufgeknöpftes Hemd, Hippie- Amulett um den Hals. Er geistert durch die Räume, sucht Blickkontakt. Wer den zu lange erwidert, bekommt Lebensweisheiten.
Er wirkt selbst hier, wo die Zeit, so gut es geht, angehalten wird, wie aus ihr herausgefallen. Ein Guru ohne Gläubige. Ein Mann ohne Mission. Bis irgendeiner ausfällig wird. Die Bardame zetert, der Guru kommt ungefragt zur Hilfe. Besänftigt, streicht mit seinen Gitarristenhänden dem Aufgebrachten über die Schulter. Er nimmt den Mann, der ihn um ein paar Köpfe überragt, an die Hand und führt in aus der Kneipe. Ein paar Minuten später kommt er wieder rein, blickt sich um, sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat seine Bestimmung gefunden. Mit dem Belohnungs- Weizen mäandert er wieder im Raum zwischen Theke und Tischen. Der Guru hat seinen Platz gefunden. Er ist jetzt Rausschmeißer.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.03.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Finger in die Wunde

Freitagabend in den Sophiensälen. Im ersten Stock laufen auf Flatscreens Erfahrungsberichte von Menschen, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Es geht um Sex, Vitrinen, Blut. Eine ganz normale Kunstausstellung an einem beliebigen Freitag. So ganz habe ich den Sinn noch nicht erfasst, da finde ich mich schon auf einer Liege wieder. Die brüchige Decke anstarren, während mir eine Wunde an den Hals geschminkt wird und sich Performer mit grünen Haaren und John-Lennon-Gedächtnisbrillen über mich beugen. Eine Art Vorspiel zum Aliensex?
Was in den Wänden der Sophiensäle normal erscheint, ist ein paar Stunden später in der U 8 ab Weinmeisterstraße eine Attraktion. Nur habe ich durch den ganzen Kunstkram und anschließenden Biergenuss völlig verdrängt, dass ich den Hals offen habe. Der Platz neben mir bleibt frei. Besorgte Blicke, Getuschel. Hä, warum eigentlich? Unangenehm! Ausstieg am Hermannplatz. Vor mir teilt sich die hineindrängende Menschenmenge. Dann die Spiegelung in der Scheibe des U-Bahn- Bäckers. Verdammt, was ist das denn? Ich fasse in die Wunde, Kunstblut am Finger. Die Leute umkurven mich großräumig. "Guck dir den besoffenen Spasti an", sagt einer. "Das ist Kunst!", rufe ich, Blut an Hals und Finger, und sehe damit ziemlich genau so aus, wie der Typ gesagt hat, völlig am Ende. Kunst, denke ich, du bockiges Pferd der Uneindeutigkeit. Für dich ist kein Raum hier am Hermannplatz.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.09.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Angelo

Freitagabend, kurz nach elf, Neukölln. Vor der Haustür steht ein Pärchen. Ich nicke zum Gruß, schließe die Tür auf, da tritt der Mann an mich heran. "Angelo?" Nö, sage ich, will weiter. Seine Hand an meinem Arm. Wo wohnst du? Hinterhaus. Welcher Stock? Vierter. Kennst du den Mann aus dem dritten Stock? Nein. Das Pärchen schaut mich ungläubig an. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Von einem Rennrad, im Internet gekauft, das sich als Schrott entpuppte. Jetzt wollen sie ihr Geld zurück, die Spur führt in mein Haus, zu Angelo. Das tut mir zwar leid, nur helfen kann ich nicht. Abgang. Im Hinterhof schließe ich mein Rad ab, da steht das Pärchen plötzlich auch dort, hinter mir durch die Haustür geschlüpft. Sie lächeln mich an. Was macht ihr hier? Wir checken nur die Lichter. Welche Lichter? Deine. Ich bin nicht Angelo, verdammt, ich heiße Dominik. Vorbei an den beiden gehe ich ins Haus, hinter mir höre ich Schritte, ich schaue hinunter. Das Paar kommt mir nach. Ich bin nicht Angelo, rufe ich. Gehe schneller, nehme jetzt zwei Stufen auf einmal. Keine Antwort. Ich schwitze. Stoisch stampfen sie auf den Stufen unter mir. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Panik kommt mir lächerlich vor. Aus dem Fenster der Blick in den Innenhof. Das Pärchen geht, na endlich. Da kommt jemand. "Angelo?", höre ich die beiden fragen. "Ihr schon wieder", sagt der Nachbar, "verpisst euch endlich." Dann geht er ins Haus. Unter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Huphass

Dienstagmittag, Hermannstraße, Ecke Flughafenstraße. Mit dem Fahrtwind auf dem Rad ging es gerade noch, jetzt aber, an der Kreuzung stehend, sengt die Sonne das Hirn zu Brei. Es wird grün. Und es hupt. Quäkend, nervig, aggressiv. Je wärmer es wird, desto häufiger hupt es auf Berlins Straßen. Der Freundin neben mir schwillt die Ader, 47 Kilo Wut klingt nicht nach viel, kann sich aber zu einem Tsunami der Verachtung hochschaukeln. Die Welle rollt, ich surfe mit auf dem Hasskamm. Also los, in die Pedale treten, dem hupenden Rollerfahrer nach. An der nächsten Kreuzung Dampf ablassen. Die Freundin: "Ey, hup mich nicht an, klar?" Der Rollerfahrer: "Ihr könnt mich mal!" Ich: "Du kannst uns mal!" Es wird grün, der Roller ab, hupend. Eine Schweißperle rinnt durch die Hassstirnfalten der Freundin. Nächste Ampel, nächste Konfrontation. "Das ist so asozial, was du da machst!" Es wird grün. Zum Abschied Stinkefinger aller Beteiligten. Wir biegen links ab in die Reuterstraße, der Roller ebenfalls. Vor meinem Haus halten wir, alle drei. Der Rollerfahrer steigt ab, guckt. Lacht. Und kommt auf uns zu. "Hallo Nachbarn! Tschuldigung, bin eigentlich nicht so aggressiv. Und selbst auch Radfahrer." Die Anonymität der Großstadt, in der Nachbarschaft nur die unmittelbarste Möglichkeit der Ignoranz bedeutet, sie löst sich gerade in Wohlwollen auf. Händeschütteln statt Stinkefinger. Grinsen statt Fluchen. Die Schweißperle auf der Stirn meiner Freundin rollt von der Hassfalte in die Lachfalte.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Durst

Samstagmittag, Wannsee, heißester Tag seit immer. Vorbei am Stadtbad zum richtigen See, Natur, unberührt. Denkste! Überall Badetücher, auf den meisten Menschen mit Bier. Sonnenbrandmotive zum Tribal auf dem Arm. Nicht mal ins Wasser kann ich flüchten, habe meine Badehose vergessen, und FKK ist nichts für meine Mutti ihren Jungen. Spaziergang also, die Gegend erkunden. Jede Einbuchtung besetzt, Handtücher als Grenze. Nach einer halben Stunde merke ich: Ich habe meine Wasserflasche vergessen. Der Wannsee ist an diesem Tag dicht wie Berufstrinker am Tresen, ein Geschäft hat aber noch niemand daraus gemacht. Kein Verkaufsstand weit und breit. Dafür ein kleines Häuschen am Wald, DLRG-Headquarter, auf der Terrasse Menschen beim Grillen. Habt ihr vielleicht ein wenig Wasser für mich? Nö, sagt einer und trinkt einen Schluck. Aber am Segelklub gibt’s was. Ab zu den Booten, durch ein Eisentor mit der Aufschrift "Nur für Mitglieder" zu einem Hausboot. Der Mann hinterm Tresen ist überrascht, jemanden zu sehen, im Kühlschrank Getränke satt. Drei Flaschen unterm Arm durch die Bucht zurück, vorbei an tausenden Sonnenanbetern. Jeder zweite fragt, woher ich die Getränke habe. Ich deute aufs Hausboot. Am Ende der Bucht drehe ich mich um. Der Steg zum Tor bevölkert von einer Horde Durstiger. Eben noch wie tot auf dem Badetuch, bewegt sich die träge Masse jetzt auf das Hausboot zu. Die Zombies vom Wannsee.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.07.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
B-U-L-L-E

Donnerstagabend, Karl-Marx-Straße, vor dem Spätkauf "Night Shop 44". Zwei Polizisten in Hundertschaft-Montur, Feierabend, endlich. Die Haare verschwitzt, den Helm in der linken Hand, rechts eine Zigarette. Neben den Neuköllner Nachtaktiven in zu kurzen Hosen sehen die beiden aus wie Robocops. Sehr müde Robocops. Hundertschaft, Scheißjob, einer muss ihn ja machen. Auftritt schwarzer Benz, schönes Auto, will gehört und gesehen werden. Vor dem Späti alle Parkplätze besetzt. Zweite Reihe parken ist Berliner Gesetz. Warnblinker an, Beifahrer springt raus, an den Polizisten vorbei. Die Miene unter den verschwitzten Haaren des einen Polizisten verfinstert sich. Er beugt sich runter, schaut durchs Seitenfenster den Fahrer an: "Du kannst hier nicht parken." "Komm schon, Bruder, ich bin gleich wieder weg." Der Polizist türkischstämmig, der Zweite- Reihe-Parker ebenfalls. Tiefer Zug an der Zigarette, funkelnde Augen: "Verdammt, ich bin nicht dein Bruder, nur weil ich ein Schwarzkopf bin. Ich bin ein Bulle, checkst du das? B-U-L-L-E!" Der Fahrer duckt sich weg, der rauchende Robocop sieht ihm fest in die Augen. Zwei stumme Sekunden vergehen, dann hebt der Fahrer die Hand: "Entschuldige, kommt nicht wieder vor." Er legt den Gang ein und ab. Der Beifahrer kommt mit Cola und Kippen aus dem Späti, sucht das Auto, sein Blick bleibt an dem Polizisten hängen. "Ich bin Bulle, verdammt." Das musste raus. Feierabend, jetzt aber, endlich.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.06.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kaboom

Samstagabend, Schöneberg, auf ein Bier in die Möwe. Einmetersechzig holzvertäfelte Heimeligkeit. Drucke vom Hamburger Hafen. Eine Möwe, überlebensgroß, hängt von der Decke. Zum Bier gibt es den passenden Bierdeckel. Ein Platz zum Verweilen. Nur zum Rauchen muss man raus. Ich schlängele ich mich am Treseninventar vorbei in Richtung Ausgang. Schon leicht angezündet kann ich mein Feuer nicht finden. Vor der Tür eine kleine Menschentraube, da wird schon einer dabei sein. Der da mit dem Hut vielleicht. Wer Hut trägt, der raucht auch. Entschuldigung, hast du Feuer? Der Hut dreht sich um. Zuckt mit der Nase, sein ganzes Gesicht runzelt. Oh Gott! Helge Schneider! Jugendheld und Quatschvorbild. Neben ihm Sergej Gleithmann, der Pina Bausch des deutschen Jazztanzes, Riesenbart zur Halbglatze. Ich merke, wie sich mein Gesicht zu einer grenzdebilen Maske verzieht. Feu-er? Ich stottere. Helge greift in die Hosentasche, zieht seine Hand hervor und lässt den Daumen hochschnellen. "Kaboom", sagt er. Vor mir sein Finger, nur sein Finger. Tu es nicht, denke ich noch, als ich mich, Kippe im Mund, zu Helges imaginärem Feuerzeug hinabbeuge und an meiner Zigarette sauge. Es dauert ein paar Sekunden, bis Helge den Daumen zurückzieht. Bitte schön. Danke, Helge. Und dann verschwinden sie in die Nacht, er und Sergej. Ich schaue ihnen nach, dem Hut und dem Bart, die Zigarette unangezündet zwischen den Lippen. Jemand tippt mich an: Hast du mal Feuer?
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.03.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Laus Kinskis Katze

Freitagabend, 19 Uhr, Karl-Marx-Straße. Feierabendverkehr trifft auf Biervorratskäufer, Vorglüher auf Kleinfamiliengroßeinkäufer. Ein Pulverfass. Ich ziehe einen Koffer mit kaputten Rollen über das Kopfsteinpflaster, sehe also aus wie der Neu-Berliner/Tourist, der den Kiez kaputtmachen will. Die Neuköllner danken es mir mit Verachtung. Ganz anders die Reaktion auf meine Begleitung, Künstlername Laus Kinski, die mich davon überzeugt hat, ihr beim Umzug in ihr neues Atelier zu helfen. Mit der Bahn am Freitagabend. Ihre Katze Motte trägt sie wie ein Baby vor die Brust geschnallt. Alter, wie süß!
Mit der U7 runter zum Ring. Beim Ausstieg trifft der Rollkoffer versehentlich das Schienbein eines Schlechtgelaunten. Seine Fratze der rechtmäßigen Empörung verwandelt sich sofort in ein grenzdebiles Grinsen, als er Laus Kinski und Motte erblickt. Innehalten, Katze streicheln, Babylaute imitieren. Alles vergeben und vergessen. Mit der S46 nach Schöneweide. Jugendliche mit Ghettoblastern und Wodka- Energy-Mischungen. Hasserfüllte Blicke auf den Rollkoffer, früh gelernt. Dann miaut Motte. "Alter, wie süß!"
Diese Katze, da bin ich mir sicher, sollte bei den nächsten Verhandlungen im Ukraine-Konflikt um den Tisch streunen. Eine Schale Milch auf den Boden, schnurren lassen, fertig. Wer den Rollkoffer- Konflikt auf Berliner Straßen befrieden kann, der schafft alles.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 03.01.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
"Och ..."

Niemetzstraße Ecke Saalestraße, Neuköllner Diaspora nahe dem S- Bahnhof Sonnenallee. Die Kneipe an der Ecke mit Leuchtschriftzug: Tiefpunkt. Ein Schnaps: ein Euro. Davor auf der Straße eine Couch. Durchgesessen und durchnässt. Die Trostlosigkeit des Berliner Winters als Stillleben. Doch was zählt, sind die inneren Werte. Rein in die Kneipe gegenüber vom Tiefpunkt. Um die Theke herum eine Traube Ganztagstrinker mit Raucherfahrung. Prösterken, auf uns.
Die Kälte da draußen und die Angezündeten im Innern, getrennt nur durch eine Scheibe. Doch dann, für einen Moment, berühren sich beide Welten. Torsten, Schnitzelhände zur Nassrasur, regt sich auf. Urplötzlich, keiner weiß, warum. Er zetert, dann ein schlimmes F-Wort. Stille. Gaby, gerade noch Herzbardame, findet das nicht gut. Raus, brüllt sie. Torstens leerer Blick füllt sich mit Unverständnis. Das darf man doch wohl noch sagen. Der Unsatz des Jahres 2014. Es hilft nichts. Torsten muss weg, da sind sich alle einig. Er tritt vor den Stehtisch - ein Baum von einem Mann kurz vor der Rodung. Die Schnitzelhände jetzt vor dem Körper, zur Ruhe mahnend. Ein Geistesblitz durchzuckt den glasigen Blick. Okay, sagt Thorsten, dann sag ich eben Fötzchen. Stille, Blick auf Gaby. Die kippt Klares. Lacht. Och, sagt sie, das find ich jut. Prösterken, auf uns, diesen Moment. Mach ruhig noch einen Kurzen zum Bier. Gegen die Welt da draußen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 04.10.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
100 000 nackte Jungs

Sonntagvormittag, Neukölln, Reuterstraße. Das Grau des Eckhauses geht nahtlos in den Himmel über. Zu viel Beton, zu wenig Liebe. Es gibt Sonntage, an denen man lieber zu Hause bleiben sollte. Jetzt kämpft das verkaterte Gemüt gegen die Realität. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht eine Frau, Mitte 40 vielleicht, die kurzen Haare liegen schlaff auf dem Schädel. Sie steht an der Fußgängerampel, wartet wohl, dass es grün wird. Sie zieht ihren rechten Schuh aus, dann den Socken, steht da mit einem beschuhten Fuß und einem nackten. Die Ampel springt auf grün, doch die Frau geht nicht, sondern vollendet ihr Werk. Linken Schuh ausziehen, Socken hineinstecken. Es wird rot, es wird grün. Ich stehe einfach nur da, die Frau kommt auf mich zu, visiert mich an. Dann sagt sie: "Ich habe schon 100 000 Jungs nackt gesehen. Herzlichen Glückwunsch." Sie geht, nackte Füße auf nacktem Asphalt, an mir vorbei und weiter den Gehsteig entlang. Dabei habe ich noch so viele Fragen. Alles an diesen beiden Sätzen fasziniert mich. Allein die Zahl. 100 000! Wie viele Jungs sind das wohl pro Jahr? Rechnet man es aus, kommt man auf 2222. Sechs pro Tag, wenn man die Dame mit den nackten Füßen auf 45 Jahre schätzt. Was aber sollte das mit dem Glückwunsch? Bin ich einer von ihnen? Eine junge Frau kommt auf mich zu, schaut mich an - und lacht. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, dass mein Hosenstall offen steht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.08.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Capri-Sonne

Samstagabend in einem Späti auf der Karl-Marx-Straße. Der Laden stinkt, gestern Nacht hat einer vor die Theke gekotzt. "Hab schon gewischt", sagt der Besitzer, dauert jetzt ein paar Tage, war ziemlich viel, kann man nichts machen. Ein junger Mann kommt herein, barfuß, Wuschelkopf zum Flaumbart, er kauft Zigaretten und Bier. Sein Blick fällt auf die Capri-Sonne neben der Theke. Orange, der Klassiker. Er greift zu, der Verkäufer lacht. Was denn so witzig sei, fragt der Wuschelkopf. Nichts, sagt der Spätiverkäufer und schüttelt den Kopf. Als der Kunde gegangen ist, nimmt der Verkäufer eine Capri-Sonne in die Hand. "Früher haben die sich hier wahnsinnig gut verkauft. Das war das Einzige, mit dem man Tili runterspülen konnte." Tili, kurz für Tilidin, ist ein Schmerzmittel, das bei vielen jungen Türken in Neukölln sehr beliebt war. Es hieß, dass man davon aggressiv würde. Stimmt nicht, sagt der Verkäufer. Es war beliebt, weil es wenig kostete und man in Prügeleien keine Schmerzen mehr spürte, wenn einen die Faust des Gegners traf. Das einzige Problem war der Geschmack. Tilidin ist extrem bitter, wirklich widerlich. Aber in einem Päckchen Capri-Sonne sind sechseinhalb Stücke Würfelzucker enthalten, mehr als in Fanta. Genug, um den Geschmack von Tilidin zu mildern. Seit Anfang 2013 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz, der Straßenpreis ist in die Höhe geschossen. Und der Verkauf von Capri-Sonne abgesackt.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 31.05.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Landeier unter sich

U-Bahnhof Alexanderplatz, Mittwochabend, Warten auf die U5 Richtung Hönow. Auf dem Gleis gegenüber hält ein offener Wagen, Menschen mit gelben Helmen applaudieren. Endstation der Tour im U-Bahn-Cabrio durch Berlins Unterwelt.
Eine Gruppe Touristen jenseits der sechzig steigt aus, Helme ab. Drei Frauen in Steppjacke und kleinem Lederrucksack, die Männer passend in beige-grauem Altherren-Understatement. Die Frauen fragen: "Ist das hier richtig, Richtung Hönow?" Die abgeklärten Großstadtzwanziger am Gleis nicken. Die alten Herren sagen: "Hab ich doch gesagt." Szenen dreier Ehen. Alles klar also? Mitnichten. Eine will nicht. "Das ist falsch hier, das weiß ich, ich war mal hier." "Wenn du nicht mitkommst, Petra, dann bleibst du hier." Die Bahn fährt ein, Petra immer noch in Opposition: Nee, ist falsch. Drei Herren und zwei Damen in der Bahn, Petra davor, standhaft. Nein, nein, nein.
Die Gruppe wird nervös. Die Frage ans Abteil: "Ist das richtig hier, Richtung Hönow?" Gelächter, Überheblichkeit. Petra steigt ein, unter Protest. Die Stimme aus dem Off: "Richtung Hönow, bitte einsteigen." Erleichterung. Dann Petra an alle: "Entschuldigung, so ist das, wenn Landeier in der Großstadt sind." Das sitzt. Kein Gelächter mehr, die Köpfe werden eingezogen, ein paar sogar rot. Ein Abteil voller zugezogener Landeier aus Bottrop und Bielefeld, gerade noch so cool, schämt sich jetzt. Nur Petra lacht. Sehr laut.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.03.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Tok, tok, tok

Kottbusser Damm, an einem Sonntagvormittag. Erste Radtour nach dem Winter, der keiner war. Ein Krankenwagen drängt sich vorbei, reiht sich ein in eine Blaulichtkolonne, die am Kottbusser Tor unter einer Ampel endet. Fünf Meter darüber, auf einem Vorfahrtsschild, steht eine Frau, etwa dreißig, recht schlank und sehr nackt. Bekleidet nur mit einem Hammer in der Rechten. Ein Polizist, Kopf nach oben gereckt, in der Nackenfalte reflektiert der Schweißfilm. "Kommen Sie runter?", fragt er. Die Antwort von oben: Tok, tok, tok.
Mit dem Hammer schlägt sie auf die Ampel. Die Menschentraube hat die Smartphones justiert. Und wieder: Tok, tok, tok. Als wolle sie sagen: Die Ampel muss weg! Zwei Berufstrinker nicken anerkennend: "Nicht schlecht." Darauf ein Sterni.
Es kracht, ein Wohnmobil, Kennzeichen HSK, ist in einen Berliner Twingo gefahren. Die Beifahrerin, Mitte 60, schimpft mit dem Gatten. "Wo du wieder deine Augen hast." Von oben strahlt weiterhin der weiße Protest-Po. Wofür oder wogegen sich der Protest - um einen solchen handelt es sich doch wohl - richtet, bleibt unklar. Aber solange sie da oben steht, im Kreisverkehr, hat sie nicht verloren. Eine Art Viktoria, die Goldelse in Weiß, eine Kreuzberger Variante der Siegessäule. Die Nackte hämmert weiter auf die Ampel ein, dem Polizisten rinnt der Schweiß ins Hemd. Alle Fotos sind gemacht, das Bier ausgetrunken. Ein Sonntagvormittag am Kotti, der nackte Wahnsinn.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.02.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Sei Wedding!

Café Barrikade, Ecke Pankstraße. Aus den Boxen plärrt Punk, die Scheiben beschlagen. Trinker am Tresen, Studenten hinter der Süddeutschen. Im Hinterzimmer Kicker und Billard. Das Schild mit der durchgestrichenen Marihuanapflanze verschwindet im Kiffer-Qualm. Auf dem einzigen Stuhl sitzt einer, der mit Härterem zu kämpfen hat. Zittert, schwitzt und friert. Daneben steht sein Kollege mit Riesenjoint, erzählt, was falsch läuft in der Welt. Das Zittern des anderen scheint Bestätigung genug.
Am Kicker lehnt mein Freund, nennen wir ihn L. Er ist Weddinger und macht das öfter: lädt mich ein, um mir seine Welt zu erklären. Seine Welt: Wedding. Der Wedding bleibt hart, der Wedding bleibt rot. So geht das immer. Gerade hat L. Fahrt aufgenommen, da platzt der Riesenjoint in den Monolog. "Wollt ihr ein Handy kaufen? Hab’ ich über." Er zieht ein altes Sony Ericsson aus seiner Brusttasche. Wir verneinen. "Gebt ihr mir ein Bier aus?" Ich halte ihm meins hin, hoffe, dass er ablehnt. Er greift zu. Ob wir auch eine Zigarette hätten, fragt er. L. hält ihm den Tabak hin. Der Typ schaut auf das Bier in der einen Hand, den Joint in der anderen. L. dreht ihm eine. Das eben angebotene Handy klingelt. Der Typ geht ran, nimmt die Zigarette und geht ab. "Sorry Jungs." Am Tresen trinkt er mein Bier aus, raucht die Kippe von L. und brüllt Beleidigungen gegen Hertha und die Welt ins Handy. Wedding bleibt Wedding.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.12.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Endlich zuhause

Aus dem Hamburger Exil zurück in Berlin. Heimatgefühle, endlich wieder offene Pöbeleien statt hanseatischer Ignoranz. Ankunft am Südkreuz. Die Ringbahn natürlich verspätet, ich beschwere mich am Schalter. Auch noch am falschen, dem von der Deutschen Bahn. Sichere Nummer, bestimmt werde ich angeschnauzt, wie sonst im Bus, wenn ich eine Einzelfahrkarte mit einem Zwanziger bezahlen will. Der Mann am Schalter schaut auf, hebt die Hände und dann - Überraschung! Er entschuldigt sich. Was ist hier los? Soll ich ihn für das schlechte Wetter verantwortlich machen? Die Bahn kommt, ich lasse die anderen Fahrgäste nicht aussteigen, drängle mich als Erster hinein. Jetzt aber, denke ich, volle Berliner Breitseite, ich bin bereit. Doch nichts geschieht. Die Bahn ist voll, kaum ein Platz frei. Trotzdem stelle ich meine Tasche auf den Nachbarsitz. Ein Arbeiter steigt zu, sieht den fast freien Platz neben mir. Er bleibt stehen, kein Wort. Verdammt, denke ich, was soll ich denn noch machen? Einfahrt S-Bahnhof Sonnenallee. Aus dem Fenster sehe ich den Dönerladen, die S-Bahn-Klause. Die Türen gehen auf. Direkt vor mir ein schon ordentlich angezündeter Obdachloser. Als ich aussteige, glotzt er mich an, wie den Typen, der ihm das letzte Sterni vor der Nase weggekauft hat. Er holt tief Luft und brüllt los: "Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mir gerade noch gefehlt. Wichser!" Endlich, denke ich, endlich zuhause.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 12.10.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ungleicher Kampf

Alt-Neukölln gegen Neu-Neukölln vor den Arcaden an der Karl-Marx- Straße. Ein junger Mann, knapp zwei Meter lang - mit Hipster-Insignien: Tight-Jeans zu zu tief Ausgeschnittenem, Bart und Jutebeutel - steht an der Ampel. Ein Mann, etwa 40, Typ Malocher, verschwitzt, Filterlose im Mundwinkel, rennt auf ihn zu: "Verdammt, du Hurensohn, ich hab gesagt, geh da weg!" Der Akzent: osteuropäisch. Der Auslöser für den Streit: ungewiss. Gewiss nur, dass es hier gleich knallt, und zwar richtig. Der Alt-Neuköllner packt den Neu-Neuköllner am Kragen. Er muss hochschauen, zwei Kopflängen trennen die beiden Männer. Der Alte schlägt aufwärts, dem Jungen mit offener Hand ins Gesicht. Der Junge, perplex, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Nichts in seinem Leben in, sagen wir, der ostwestfälischen Provinz scheint ihn darauf vorbereitet zu haben, hier am helllichten Tag auf die Schnauze zu kriegen. Das hier ist keine Klopperei mit dem Jan-Lennart, damals, im Herforder Kindergarten, Ende der 80er. Keine Gewalt, das merkt er jetzt, während die Schellen auf ihn einprasseln, ist auch keine Lösung, zumindest nicht sofort. Aber er steht es durch, stoisch, bis der Alte von ihm ablässt. Der Neu-Neuköllner geht weg. Schaut sich noch einmal um. Ein paar Jahre noch, scheint sein Blick zu sagen, dann sind hier die letzten Wohnungen kernsaniert. Alt-Neukölln wird es dann nicht mehr geben.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.05.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zurückgeschissen

Mittwochabend, Neukölln, Rixdorf. "VoKü" steht mit Kreide auf der Tafel vor der linksalternativen Sperrmüllmöbelkneipe. Zwei Euro für eine warme Mahlzeit. Kartoffeln an Karotten-Paprika-Pampe. Die Bierbänke ächzen unter der Last der studentisch-alternativen Hinterteile. Platz findet lang nicht jeder. Die mampfende Masse säumt den Gehweg bis zur Galerie, die vor einiger Zeit zwei Häuser weiter aufgemacht hat. Im Fenster der Kneipe hängen Poster: "Homophobia kills", "Kein Ort für Nazis".
Gegenüber ein Seniorenheim. Rentner schauen durch gehäkelte Gardinen auf das junge Treiben. Eine alte Frau tritt heraus, den Dackel im Anschlag hinter sich herziehend. "Verdammt noch mal", brüllt sie, als sie sich an den Billig-Essern vorbeiquetscht, "wir müssen hier durch!"
Niemand rührt sich. Der Gesichtsausdruck der Frau rangiert irgendwo zwischen Verachtung und Hass, der Dackel schnappt nach einer Kartoffel. Sie gehen um die Ecke, ein paar Leute holen sich Nachschlag. Nach einigen Minuten kommt Frauchen samt Dackel zurück, gelassener jetzt, erleichtert, als sei ihr Plan aufgegangen. Ein Blick in die Straße, aus der sie kamen, und die Vorahnung wird Gewissheit: Ein frischer Haufen Hundescheiße thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Bürgersteig. Seit Mittwochabend, 21.30 Uhr, wird zurückgeschissen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.04.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Fenster zum Hof

Neukölln, vierter Stock, Vorderhaus, Blick nach hinten raus. Zwischen vier Häuserwänden - zu viel Beton, zu wenig drüber - erwacht das, was man nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Frühling. Ein Blick aufs Thermometer, neun Grad. Alles über null Grad ist Frühling. Berlin war lange eine geteilte Stadt, ist es noch heute. Nicht mehr durch eine Mauer, doch durch die Jahreszeiten. Im Winter ist alles DDR, Plattenbau und grau. Im Sommer supergeil, Party und Spree.
Also, Fenster auf, Frühling rein, Winterdepression raus. Die von gegenüber hatten die gleiche Idee. Musik ertönt. Bonnie Tylers "Total Eclipse of the Heart". Die aus dem zweiten Stockwerk schießen zurück. Drum and Bass. Zwischen zwei wummernden Basssalven schmalzt Bonnie Tyler: "And I need you now tonight / And I need you more than ever!" Irgendwo brüllt ein Kind. Im Hinterhof verliert eine Bierflasche den Kampf gegen die Betonwand.
"Schnauze", brüllt einer in den Soundteppich. Der Bonnie-Tyler-Fan schreit zurück. "Halt’s Maul!" Jetzt kommt mir allmählich die Erinnerung. Frühling in Berlin, das bedeutet Kampf. Kampf um den öffentlichen Raum. Kampf um die Musikhoheit im Hinterhof. Bonnie Tyler bäumt sich ein letztes Mal auf: "But now there’s only love in the dark / nothing I can say / a total eclipse of the heart." Ich schließe das Fenster, ziehe die Vorhänge zu. In sechs Monaten, denke ich, ist der Spuk wieder vorbei.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 23.02.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Total ausgerastet

Donnerstagmorgen, 9 Uhr, krachendes Erwachen. Trillerpfeife, Megafon, Sirene. Ein Blick aus dem Fenster - Kreuzberg: Lausitzer, Ecke Wiener Straße - und die Gewissheit: Demo. Auf beiden Seiten der Absperrung die Krieger für die Schlacht gerüstet. Und ich will nur nach Hause, nach Neukölln, Rixdorf. Vom Kottbusser Tor mit der U8 zum Hermannplatz, dann den 41er. Jetzt aber: Rein ins Getümmel.
Aus dem schwarzen Block hört man etwas von Scheiß-Gentrifizierung, Steine fliegen nicht, nur eine kleine Wodkaflasche. Angeheitert schmeißt sich’s besser. Die Passanten retten sich mit mir in die U-Bahn. Hermannplatz, Umsteigen. Zwei junge Studentinnen haben den gleichen Weg. Die eine zückt ihr Handy. "Ja, war krass", sagt sie ins Telefon. "Die Bullen sind total ausgerastet, ohne Grund, Tränengas und alles." Die Freundin nickt stumm. Bestätigung. Dass die Demo da gerade wirklich krass war. Und sie mittendrin.
"Hast du mich im Fernsehen gesehen?", fragt sie ins Handy. "Ich habe mich extra auf eine Säule gestellt." Nee? Na ja, schade. Themawechsel, irgendwie. Sie, die Freundin am Telefon, müsse unbedingt mal die neue Wohnung anschauen. Ein Zimmer, Nähe Weserstraße, nicht ganz billig, 400 Euro, aber "so, so schön". Mit abgezogenen Dielen. Total toll.
Schade eigentlich, denke ich, dass ich die Wodkaflasche nicht aufgehoben habe. Ich hätte jetzt so gerne etwas, um es zu schmeißen.

Dominik Drutschmann

Erschienen am: 18.04.2020 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
VERDAMMTE GENÜGSAMKEIT

Im Saunabereich der Turngemeinde Berlin gelten zwei Regeln: Schnauze halten und nicht aufs Holz schwitzen. Auch schon vor Corona sollte jeder seine Ausdünstungen ins eigene Handtuch absondern. Die bestätigende Ausnahme kommt im Körper eines Ü80-Jährigen daher. Er steht auf der Saunabank, Schweiß tropft aus jeder Pore, das Holz unter ihm färbt sich dunkel. Niemand sagt etwas. Nach der Dusche sitzt der Alte in der Umkleide, die Lebenserfahrung tief ins Gesicht gezeichnet. Er schaut mich an, während er Körperlotion großflächig über seinen Kopf entleert. „Ich hab eine Wohnung verkauft. 90.000 Euro.“ Er hält inne, ein Blick wie eine Blutgrätsche, die Körperlotion läuft das welke Fleisch hinunter. „90.000 Euro und weißt du, was die Scheiße ist?“ Ich weiß es natürlich nicht. „Dass die Scheiß-Kohle jetzt so rumliegt.“ Er schüttelt den Kopf, greift in seine Sporttasche und holt eine Malerrolle heraus, Typ: filigrane Eckenarbeit. Er schaut mich weiter an, milder jetzt, vielleicht auch resigniert und beginnt, die Körperlotion mit der Malerrolle vom Kopf gen Süden zu verteilen. Renovierungsarbeiten am eigenen Körper. Dazu eine Lebensweisheit. „Das schlimmste am Alter ist die verdammte Genügsamkeit“, sagt er. Früher, da hätte er die Kohle nur so rausgehauen. Und jetzt? Jetzt wolle er nichts mehr. Auch, weil er nicht mehr könne. Er verreibt die letzten Überbleibsel der Lotion auf seinem Rücken. „Junge“, sagt er zum Abschied, „mach‘s gut.“ 
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.12.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
KEIN DÖNER LAND IN DIESER ZEIT

Neukölln an einem Donnerstagvormittag. Der Lidl an der Ecke Flughafenstraße hat sich hübsch gemacht. Wiedereröffnung. Sogar der Security-Typ strahlt. Einkaufen war dort auch früher ein Erlebnis. Vielleicht wird es jetzt ein erfreuliches. Also rein und staunen. Gut ausgeleuchtete Discounter-Südfrüchte, dazu vegetarische Burger-Pattys aus Eigenproduktion, hinten links die Deluxe-Produkte-Ecke. Von dort droht jetzt Ärger im neuen Einzelhandelsparadies. Eine Mutter, Hidschab und Hackenporsche, zerrt ihre Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, in Richtung Ausgang. Die aber stockt in ihrer Empörung. Sie packt den angefangenen Döner in die Alufolie, als ob sie versuchen würde, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Mutter zerrt, die Tochter klagt: „Seit wann darf man in Lidl kein Döner essen?“ Und dann: „Ist Lidl jetzt High Society oder was?“ Die Umstehenden: vereint im Lachen über die rechtschaffene Empörung, über die Absurdität des schönen Schein. Komik war immer schon das schärfste Schwert der Unterdrückten. Und auch im neuen Glanz des Lidl funktioniert es. „Ach komm“, sagt die Verkäuferin zum Mädchen, „iss deinen Döner“.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.09.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Erde so frisch

Dienstagnacht im Sandmann in Neukölln. Hinten ist schon das Licht aus. Das ist jetzt wirklich das letzte Glas. Zum Abschied holt die Bardame einen Flyer hervor, darauf der Hund, der immer im Eingangsbereich lag. Eine Traueranzeige. Der Hund ist tot. Vor der Kneipe, am Stamm der Weide, zwei in Plastikhüllen verpackte Fotos. Wieder der Hund, die Augen rot von Herrchens Fotoblitz.Irgendwer hat Blumen gepflanzt, die Erde ist noch frisch. Plötzlich steht eine Frau neben mir, Ende 50, lange Zigarette, Hund an der kurzen Leine. Bestürzung im faltigen Gesicht. „Das war doch der Spock“, sagt sie. „Wie bitte?“ „Das war der Hund von dem Mann, der da immer am Tresen saß. Und jetzt tot.“ Sie beginnt zu schluchzen, „schlimm ist das“. „Aber der Mann lebt noch“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ja“, sagt sie, die Tränen laufen, „aber das ist immer so: Erst Hund, dann Herrchen. Das dauert nicht mehr lange. Und dann ist der auch tot – schlimm ist das.“ Wie verweilen einen Augenblick, schauen stumm auf die Weide, auf die Fotos in den Plastikhüllen, die frischen Blumen. „Aber Ihrem Hund geht's gut?“, frage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und sagt nur ein Wort: „Krebs.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ordnungshüter

Ein Montagmittag an der Kreuzung Hermannplatz. Die Linksabbieger sind durch, die Autos auf der Hermannstraße stehen noch wenige Sekunden. Ein Mann um die vierzig, offener Mantel, fettiges Haar, überquert die Straße bei Rot. Was er nicht gesehen hat: dass hinter ihm ein Polizist in Hundertschaft-Kampfmontur steht. Dieser ruft ihm hinterher: Hallo! Keine Reaktion. Da überquert der Beamte nun ebenfalls die Straße, was er nicht gesehen hat: dass die Autos von der Hermannstraße jetzt Grün haben. Vollbremsung, Hupkonzert. Der Polizist hebt die Arme, als wolle er sagen: "Verdammt, ich mach hier nur meinen Job." Auf der anderen Straßenseite empfängt ihn eine junge Mutter mit Kinderwagen und Vorwürfen. "Sie sind ja ein tolles Vorbild." Ignorieren, weiter dem Rotgänger nach. Auf Höhe McDonald’s kann der Hüter der Ordnung ihn stellen. Er redet auf ihn ein, der ungewaschene Schopf nickt verständig. Was der Polizist dabei nicht sieht: dass er auf dem Radweg steht. Zwei Radfahrer halten auf ihn zu, klingeln und pöbeln. Der Polizist will hinterher, hat zu Fuß aber keine Chance, bricht nach wenigen Metern ab. Der Rotsünder hat sich indessen entfernt. Die Grünphase ist wieder vorbei, die Straße noch frei. Für einen Moment überlege ich, hinüberzugehen. Aber das will ich dem armen Mann nun wirklich nicht antun.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Imbisspolizei

Ein Mittwochnachmittag um halb fünf an der Hasenheide. Der verdammte Job hat länger gedauert, der Kollege und ich müssen jetzt dringend zu Mittag essen. Sonst ist die Laune im Keller. Bei Hamy, dem Vietnamesen, ist es übervoll, also zum Mitnehmen. "Können Sie bitte draußen warten?", fragt der Kellner. Eigentlich ungern, aber gut, jetzt nicht auch noch Streit anfangen. Stattdessen vor der Tür eine rauchen. Zwei Polizisten gehen an uns vorbei, direkt in den Imbiss. Die Zigarette ist noch nicht aufgeraucht, da kommen die beiden wieder heraus, in der Hand eine Plastiktüte mit Essen. "Entschuldigung", rufe ich ihnen hinterher, "aber haben Sie vorbestellt?" Nein, sagen sie, hätten sie nicht, das sei ganz schnell gegangen. Kippe aus und rein in den Laden. "Werden Bullen hier bevorzugt oder was?" Der Mitarbeiter schaut erst mich an, dann auf seinen Zettel - und wieder hoch. Ich will gerade erneut ansetzen, da rennt der Kellner an mir vorbei auf die Straße. Ich hinterher. Der Polizeiwagen ist gerade am Ausparken, der Kellner klopft an die Scheibe, die Tür öffnet sich, und er entwendet den Beamten das Essen. Lachend kommt er zurück und drückt mir die Tüte in die Hand. "So geht’s ja nicht", sagt er und geht wieder in seinen Laden. Das Polizeiauto passiert uns, die Gesichter im Innern sehen hungrig aus.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.03.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kann bassieren

Ein früher Dienstagnachmittag. Das Visum für Russland liegt zwar bereit, erfahre ich am Telefon, aber für heute hat die Pass- und Visastelle in Mitte schon geschlossen. Morgen wieder, werde ich vertröstet. Das Problem: Ich bin viel zu spät dran, wie immer. Und schon morgen geht mein Flug. Nach minutenlangem Bitten und Betteln kommt der kulante Vorschlag: "Na, dann kommen Sie ausnahmsweise heute um 15 Uhr vorbei." Da stehe ich also vor der Glasscheibe und versuche der Dame am Empfang den Sachverhalt zu erklären. "Ich möchte meinen Pass abholen und soll in Zimmer 0.3.05 gehen." "Ich darf Sie nicht alleine durchs Gebäude gehen lassen", lautet die Antwort hinter der Scheibe. "Na, dann stellen Sie mir jemanden zu Seite", schlage ich vor. "Der war gut", sagt die Empfangsmitarbeiterin. Sie lächelt nicht, greift aber zum Telefonhörer. Warten. Nach etwa zwei Minuten eilt eine Frau auf uns zu, den Pass in der Hand. "Was soll das denn? Ich habe für soetwas keine Zeit", ärgert sich die Frau mit meinem Pass an die Scheibe gewandt. "Warum haben Sie den Mann nicht hochgeschickt?" Schulterzucken. Die Frau übergibt mir den Pass und geht ab. Die Dame hinter der Scheibe setzt zur Entschuldigung an. "Das tut mir leid", sagt sie. "Ich habe Bass verstanden. Und mich schon gewundert, wer hier Bass spielt."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 10.02.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kopf in Wand

Samstagnachmittag, vierter Stock in einem Neuköllner Hinterhaus. Die zweite Halbzeit der Bundesligakonferenz läuft im Radio, da klingelt es an der Tür. Mutti hatte sich angekündigt. Aber jetzt schon? Wollte doch noch aufräumen, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen. Schon klingelt es erneut. Tür auf und herein kommt das Chaos im Blaumann. Wasserschaden, bei der Nachbarin im Zweiten. Die Stimme laut, der Ton duldet keinen Widerspruch. Dass die verdammte Heizung dem Klempner den Samstag verhagelt, steht zwei Furchen tief in sein Gesicht geschrieben. Zehn Sekunden später balanciert er auf meinem Badewannenrand, eine Säge in der Hand. "Was machen Sie da?", frage ich. Die dritte Furche meißelt sich in sein Gesicht. "Ein Loch." Sagt er und sägt ein Rechteck in den Rigips. Aber es ist zu klein: Beim Versuch, seinen Kopf in die Wand zu stecken, bleibt er hängen. Sein Gesicht jetzt eine einzige Furche. Fluchen, nachjustieren, Kopf in die Wand. Er redet weiter, doch der Rigips verschluckt seine Worte. Kopf raus, runter in den zweiten Stock, wieder zurück, Kopf in die Wand. So geht das eine ganze Weile. Keine Ahnung, sagt er schließlich und geht. Das Bad ein Schlachtfeld, durch das Loch blickt man auf Mauerwerk. Es klingelt. In der Tür steht Mutti. "Wie sieht’s hier denn aus? Da ist ja ein Loch in der Wand! Junge, muss ich mir Sorgen machen?"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.11.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Haarige Angelegenheit

In der U8 von Osloer Straße bis Hermannplatz. Je südlicher, desto bärtiger, ab Kotti sind die Glattrasierten in der Minderheit. Zwei Jungs, nicht älter als zwölf, unterhalten sich auf Türkisch. Keine Ahnung, worum es geht. Aber dringlich ist es, zumindest für den einen. Dessen Stimme wird lauter, der Freund versucht ihn zu beruhigen und bewirkt doch eher das Gegenteil: Wut spült erste Tränen in die Augen. Der Freund fasst ihm an die Schulter, aber auch diese Berührung hilft nicht. Was hat er bloß? Die beiden diskutieren weiter. Wenn das eskaliert, sage ich zu mir selbst, werde ich dazwischengehen. Und wenn ich dafür bis zur Endhaltestelle Hermannstraße fahren muss. Nächster Halt Schönleinstraße. Vom Türkischen geht es über in eine Melange aus Landes- und Muttersprache. Jetzt hat auch der Besonnene die Schnauze voll: "Was ist denn dein Problem?" Der Freund wischt sich die Tränen aus den Augen, funkelt seinen Kumpel an, kommt ihm näher und näher, deutet dabei immer wieder auf sein Gesicht, als wolle er dem Gegenüber zeigen, wohin er gleich schlagen werde. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der beiden Streitenden. "Oglum", ruft er da, "ich habe den miesesten Bartwuchs meiner Familie." Kurzes Schweigen. "Selbst meine Mutter hat mehr." Der Freund klopft ihm auf die Schulter: "Wird schon."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.10.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Brauchst du, Bruder?

Neukölln, Reuterstraße Ecke Karl-Marx-Straße, ein Sonntagabend. Die Tankstelle, sonntags zuverlässigste Adresse für Getränke-, Tabak- und sonstige Notversorgung, ist frisch renoviert, innen bestens ausgeleuchtet. Vor der Tür, abseits des Lichtkegels, der herausfällt, steht ein Mann, gepflegter Vollbart zu ausrasiertem Nacken, und betankt sein Auto. Aus dem Nichts erscheint ein weiterer, die Jacke flattert ein paar Nummern zu groß um seinen Körper. Er hat einen Karton unterm Arm. "Bruder, brauchst du Messer?" Vielleicht gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem das völlig normal ist, Fremde beim Tanken in einen Messerdeal verwickeln zu wollen. Dieser ist es nicht. "Ich will deine scheiß Messer nicht." Vielleicht ist der Mann aus der Dunkelheit Messerverkäufer, der diese Woche seine Quote nicht erreicht hat. Und jetzt noch diesen einen verdammten Karton verkaufen muss -
Messerset, zwölf Stück. Er zieht eines heraus. "Verpiss dich", sagt der andere und geht bezahlen. Der Verkäufer, das Messer noch in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet, schaut mich an. "Bruder, brauchst du Messer?" Ich muss lachen, fast hysterisch. Das erschreckt ihn so sehr, dass er zurückweicht. Instinktiv gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Lache noch immer. Da dreht sich der Mann um, elf Messer unterm Arm, eins in der Hand, und rennt davon.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.04.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Hund

Samstagabend in einer Neuköllner Eckkneipe. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber einige Gäste sind schon ordentlich angezündet. Im hinteren Teil feiert jemand Geburtstag, unangemeldet, die Kellner sind genervt. Im vorderen Teil tummeln sich ein paar Party-Touristen, die einmal zu oft aufs Klo gehen. Von all dem unbeeindruckt liegt in der Mitte des Raums ein Hund. Es heißt, dass sich Hunde in fremden Umgebungen immer den Platz aussuchen, von dem aus sie den besten Überblick haben. Ein Instinkt, der nicht totzuzüchten ist, offenbar steckt er selbst noch in diesem Exemplar Hund, einem Dackel mit Gewichtsproblemen, der wie eine Wurst aussieht, wenn auch eine sehr unförmige Wurst. Der Hund ruht unbewegt im Epizentrum des samstäglichen Kneipenerdbebens. Teilnahmslos auch dann noch, als ein Gast ihm beim Bierholen auf den Schwanz tritt. Hund zuckt nicht, Herrchen schon. Das ist mein Hund, sagt Herrchen. Der Treter ist perplex, nimmt den Dackel jetzt zum ersten Mal wahr, Ausfallschritt passend zur Ungläubigkeit. Sein Blick löst sich erst nach einigen Sekunden vom Hund, wandert hoch zum Herrchen, ein letztes Konzentrationsaufbegehren gegen das alkoholbedingte Wegdämmern, sein Mund formt Worte: "Was der Mensch aus dem Wolf gemacht hat", lallt er, "ist eine verdammte Tragödie!"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.01.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zigarettenlänge

An einem Freitagvormittag, Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Das Kind auf der anderen Straßenseite, nicht älter als vier, im Schneeanzug, ist gerade in sich zusammengefallen. Es kniet und schreit. Blick gen Himmel, die Nase läuft, Rotze droht an der Lippe festzufrieren. Der ganze Schmerz dieser Welt, vereint auf einem Meter Wohlstandsgör.
Was es hat? Man weiß es nicht. Was es sicher nicht bekommt: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Der sitzt 50 Meter weiter im Tramwartehäuschen und raucht. Typ Waldschrat in Funktionskleidung. Doch es ist das falsche Pflaster für derlei Sorglosigkeiten in der Kindererziehung. Auftritt der Mütter. Erst auf den Jungen eingeredet, dann den Vater ins Verhör genommen. Ist das Ihr Kind? Nicken. Wollen Sie sich nicht um den kümmern? Zug an der Zigarette, Kopfschütteln. Empörung am Retro-Kinderwagen. Jetzt gerät der rauchende Vater ins Rotorblatt der Helikoptererziehung, manikürte Finger fuchteln vor seiner Nase.
Irgendwann ist auch mal gut, und das ist jetzt. Kippe weggeschnippt, aufgestanden, Ansage: "Geht mir nicht auf den Sack. Kümmert euch um euren eigenen Scheiß." Stille, auch das Kind hält inne. Die Mütter sehen so aus, als wollten sie sich irgendwo beschweren. Bloß wo? Bevor das ganze Eskalationspotenzial dieser Szene zum Tragen kommt, schlichtet das Kind: Es ist aufgestanden. Papa, komm, sagt es. Und Papa kommt. Manchmal braucht es nur eine Zigarettenlänge.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 17.09.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Ratte

Ein Dienstag in Kreuzberg. Am Hermannplatz, hinter dem Karstadt, verbindet ein Parkplatz die Urbanstraße mit der Hasenheide. Radfahrer und Fußgänger benutzen ihn als Abkürzung, zum Ärger der Autofahrer. Hinter der Schranke hupt jetzt einer, wie zum Beweis. Vor ihm steht ein Fußgänger, Anfang 20, in der Hand ein Handy, zwischen Opel und Skoda auf der Jagd nach Pikachu. Er spielt Pokémon Go.
Ich verachte sie ja, diese nach dem Mauerfall Geborenen, die als Reminiszenz an ihre Jugend mit dem Handy ihre alten Gameboy-Helden in der realen Welt suchen; dieses Abkulten der eigenen Vergangenheit, obwohl die erst ein paar Jahre zurückliegt. Wie gönne ich es dem Typen, vom Fahrer des Autos angebrüllt zu werden, ehe der wütend weiterrast in Richtung Stellplätze.
Vor der Schranke auf dem Boden ein Gulli. Zwischen den Gitterstäben, durchnässt, die Augen aufgerissen, halb im Schacht, halb an der Oberfläche, eine tote Ratte. Und plötzlich liegt genau da auch eine Kindheitserinnerung für mich. Ich denke an Splinter, die Ratte aus den "Ninja Turtles". Sofort habe ich den Titelsong im Ohr, Frank Zander, die 80er: "Immer auf der Lauer - und immer etwas schlauer."
Ein Hupen reißt mich aus der Sentimentalität. Das Auto kommt auf der Ratte zum Halten. Entgeistert sehe ich den Fahrer an - und merke gar nicht, dass ich im Weg stehe. Vollidiot, sagt er und fährt davon, geradewegs zu auf den Typen, der sein Pokémon sucht.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.07.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Oma-Trick

An einem Samstagmorgen in Neukölln. Es ist kurz vor neun. Eine Frau mit Blumenkohlfrisur zieht ihren Hackenporsche in entgegengesetzter Richtung zu einem Pärchen, das sich wohl in der Nacht gefunden hat. Zumindest in der jungen Frau kommen aber jetzt offenkundig Zweifel auf, ob die Entscheidung im Licht noch standhält. Er sucht Nähe, sie Abstand. Davon unbeeindruckt steht zwischen Lidl und Bankfiliale ein Obdachloser und klirrt mit dem Becher.
Eigentlich ein guter Platz, doch der Mann ist schlecht drauf. Er schaut auf den Wahlkampfstand vor sich. Zwei Omis mit randlosen Brillen, die eine lila Haare, beide AfD. "Scheiße", sagt er, als ich ihm Kleingeld gebe, "was wollen die hier?" Es ist schlecht fürs Geschäft. Dazu noch diese miese Masche, mit freundlichen alten Damen aufzufahren. Da ist man als politischer Gegner gleich gehemmt. Alte Frauen anschreien, wie sieht das denn aus. Der Oma-Trick.
Der Schnorrer jedenfalls ist jetzt auf Betriebstemperatur. Sein Hund steigt mit ein. Ein zweistimmiges Bellen gegen rechts. "Ich werd mit den Linken nach Marzahn gehen und mich schön bei den Faschos vor die Tür setzen." - "Wuff!" Der Mann lacht auf, zwei Reihen reines Zahnfleisch. "Ich mach mit", sage ich, eine Spur zu übermütig. Das findet er so gut, dass er mir was vom Tetra-Wein anbietet. "Ein andermal", sage ich, "lass dir den Tag nicht versauen." Wieder das zahnloses Lächeln, schiefer Blick zum Stand. "Jedenfalls wird mir nicht langweilig."

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.05.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Happy Meal

Im Erdgeschoss der Neukölln Arcaden an einem Samstag. Die Schlangen vor Sparkassenautomaten und Postschalter haben sich ineinander verheddert. Eine 50-Personen-Polonaise mit einem Ursprung und zwei Enden.
Dahinter ein McDonald’s, am Schalter ein Familienverbund, drei Generationen Hunger. Der Junge, vielleicht zehn, im Jogger und grauem Sweatshirt. Darauf steht Bronx, geschrieben: BRNX. Mutti trägt eine dieser Frisuren aus ihrer Jugend, also den Achtzigern, die so aussehen, als hätte jemand den Cesar-Hund aus der Fernsehwerbung blond eingefärbt und ihr auf den Kopf gesetzt. Dazu stilsicher: Leopardenprint- Oberteil, passender Gürtel, weiße Lederhose. Stiefel über der Hose. Oma sitzt auf dem Rollator, regungslos, Honecker-Brille, kein Retromodell.
Mutti kommt vom Fast-Food-Schalter. Auf den Tüten in der Hand steht Happy Meal, in ihrem Gesicht das Gegenteil. Oma wollte nur Pommes, keine Bulette. Ihr Blick sagt: Was habe ich bloß falsch gemacht? Mutti lädt den Weltfrust generationsübergreifend auf den Jungen ab: Finger weg, gegessen wird zu Hause. Und da geht’s jetzt hin.
Mutti bodychecked eine Schneise in die Polonaise. Oma hinterher: Sehen Sie nicht, dass ich behindert bin? Der Bronx-Junge fingert am Happy Meal. Und Mutti hat die Schnauze voll. "Schluss jetzt. Sonst war’s das mit Happy Meal." Die Drohung wirkt. Der Junge schmollt. Und die Polonaise sortiert sich neu.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.04.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Rausschmeißer

Samstagabend im Sandmann, Reuterkiez. Vom Tisch rechts neben der Tür hat man den besten Blick auf diese Weltklassekneipe. Ein schöner Dreischritt: Vorne am Tresen das menschliche Thekeninventar über 60 neben ein paar normalen Stammgästen unter 60. Im Zwischenraum die Hipster. Und im Billard raum das in sich geschlossene Biotop aus Kiffern und Kneipensportlern.
Nur einer schwebt an diesem Abend durch die Zonen. Sein Auftreten: eine Mischung aus Jimmy Page und Jerry García mit einer Prise Rainer Langhans. Graue Mähne, Bart, viel zu weit aufgeknöpftes Hemd, Hippie- Amulett um den Hals. Er geistert durch die Räume, sucht Blickkontakt. Wer den zu lange erwidert, bekommt Lebensweisheiten.
Er wirkt selbst hier, wo die Zeit, so gut es geht, angehalten wird, wie aus ihr herausgefallen. Ein Guru ohne Gläubige. Ein Mann ohne Mission. Bis irgendeiner ausfällig wird. Die Bardame zetert, der Guru kommt ungefragt zur Hilfe. Besänftigt, streicht mit seinen Gitarristenhänden dem Aufgebrachten über die Schulter. Er nimmt den Mann, der ihn um ein paar Köpfe überragt, an die Hand und führt in aus der Kneipe. Ein paar Minuten später kommt er wieder rein, blickt sich um, sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat seine Bestimmung gefunden. Mit dem Belohnungs- Weizen mäandert er wieder im Raum zwischen Theke und Tischen. Der Guru hat seinen Platz gefunden. Er ist jetzt Rausschmeißer.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.03.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Finger in die Wunde

Freitagabend in den Sophiensälen. Im ersten Stock laufen auf Flatscreens Erfahrungsberichte von Menschen, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Es geht um Sex, Vitrinen, Blut. Eine ganz normale Kunstausstellung an einem beliebigen Freitag. So ganz habe ich den Sinn noch nicht erfasst, da finde ich mich schon auf einer Liege wieder. Die brüchige Decke anstarren, während mir eine Wunde an den Hals geschminkt wird und sich Performer mit grünen Haaren und John-Lennon-Gedächtnisbrillen über mich beugen. Eine Art Vorspiel zum Aliensex?
Was in den Wänden der Sophiensäle normal erscheint, ist ein paar Stunden später in der U 8 ab Weinmeisterstraße eine Attraktion. Nur habe ich durch den ganzen Kunstkram und anschließenden Biergenuss völlig verdrängt, dass ich den Hals offen habe. Der Platz neben mir bleibt frei. Besorgte Blicke, Getuschel. Hä, warum eigentlich? Unangenehm! Ausstieg am Hermannplatz. Vor mir teilt sich die hineindrängende Menschenmenge. Dann die Spiegelung in der Scheibe des U-Bahn- Bäckers. Verdammt, was ist das denn? Ich fasse in die Wunde, Kunstblut am Finger. Die Leute umkurven mich großräumig. "Guck dir den besoffenen Spasti an", sagt einer. "Das ist Kunst!", rufe ich, Blut an Hals und Finger, und sehe damit ziemlich genau so aus, wie der Typ gesagt hat, völlig am Ende. Kunst, denke ich, du bockiges Pferd der Uneindeutigkeit. Für dich ist kein Raum hier am Hermannplatz.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.09.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Angelo

Freitagabend, kurz nach elf, Neukölln. Vor der Haustür steht ein Pärchen. Ich nicke zum Gruß, schließe die Tür auf, da tritt der Mann an mich heran. "Angelo?" Nö, sage ich, will weiter. Seine Hand an meinem Arm. Wo wohnst du? Hinterhaus. Welcher Stock? Vierter. Kennst du den Mann aus dem dritten Stock? Nein. Das Pärchen schaut mich ungläubig an. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Von einem Rennrad, im Internet gekauft, das sich als Schrott entpuppte. Jetzt wollen sie ihr Geld zurück, die Spur führt in mein Haus, zu Angelo. Das tut mir zwar leid, nur helfen kann ich nicht. Abgang. Im Hinterhof schließe ich mein Rad ab, da steht das Pärchen plötzlich auch dort, hinter mir durch die Haustür geschlüpft. Sie lächeln mich an. Was macht ihr hier? Wir checken nur die Lichter. Welche Lichter? Deine. Ich bin nicht Angelo, verdammt, ich heiße Dominik. Vorbei an den beiden gehe ich ins Haus, hinter mir höre ich Schritte, ich schaue hinunter. Das Paar kommt mir nach. Ich bin nicht Angelo, rufe ich. Gehe schneller, nehme jetzt zwei Stufen auf einmal. Keine Antwort. Ich schwitze. Stoisch stampfen sie auf den Stufen unter mir. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Panik kommt mir lächerlich vor. Aus dem Fenster der Blick in den Innenhof. Das Pärchen geht, na endlich. Da kommt jemand. "Angelo?", höre ich die beiden fragen. "Ihr schon wieder", sagt der Nachbar, "verpisst euch endlich." Dann geht er ins Haus. Unter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Huphass

Dienstagmittag, Hermannstraße, Ecke Flughafenstraße. Mit dem Fahrtwind auf dem Rad ging es gerade noch, jetzt aber, an der Kreuzung stehend, sengt die Sonne das Hirn zu Brei. Es wird grün. Und es hupt. Quäkend, nervig, aggressiv. Je wärmer es wird, desto häufiger hupt es auf Berlins Straßen. Der Freundin neben mir schwillt die Ader, 47 Kilo Wut klingt nicht nach viel, kann sich aber zu einem Tsunami der Verachtung hochschaukeln. Die Welle rollt, ich surfe mit auf dem Hasskamm. Also los, in die Pedale treten, dem hupenden Rollerfahrer nach. An der nächsten Kreuzung Dampf ablassen. Die Freundin: "Ey, hup mich nicht an, klar?" Der Rollerfahrer: "Ihr könnt mich mal!" Ich: "Du kannst uns mal!" Es wird grün, der Roller ab, hupend. Eine Schweißperle rinnt durch die Hassstirnfalten der Freundin. Nächste Ampel, nächste Konfrontation. "Das ist so asozial, was du da machst!" Es wird grün. Zum Abschied Stinkefinger aller Beteiligten. Wir biegen links ab in die Reuterstraße, der Roller ebenfalls. Vor meinem Haus halten wir, alle drei. Der Rollerfahrer steigt ab, guckt. Lacht. Und kommt auf uns zu. "Hallo Nachbarn! Tschuldigung, bin eigentlich nicht so aggressiv. Und selbst auch Radfahrer." Die Anonymität der Großstadt, in der Nachbarschaft nur die unmittelbarste Möglichkeit der Ignoranz bedeutet, sie löst sich gerade in Wohlwollen auf. Händeschütteln statt Stinkefinger. Grinsen statt Fluchen. Die Schweißperle auf der Stirn meiner Freundin rollt von der Hassfalte in die Lachfalte.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Durst

Samstagmittag, Wannsee, heißester Tag seit immer. Vorbei am Stadtbad zum richtigen See, Natur, unberührt. Denkste! Überall Badetücher, auf den meisten Menschen mit Bier. Sonnenbrandmotive zum Tribal auf dem Arm. Nicht mal ins Wasser kann ich flüchten, habe meine Badehose vergessen, und FKK ist nichts für meine Mutti ihren Jungen. Spaziergang also, die Gegend erkunden. Jede Einbuchtung besetzt, Handtücher als Grenze. Nach einer halben Stunde merke ich: Ich habe meine Wasserflasche vergessen. Der Wannsee ist an diesem Tag dicht wie Berufstrinker am Tresen, ein Geschäft hat aber noch niemand daraus gemacht. Kein Verkaufsstand weit und breit. Dafür ein kleines Häuschen am Wald, DLRG-Headquarter, auf der Terrasse Menschen beim Grillen. Habt ihr vielleicht ein wenig Wasser für mich? Nö, sagt einer und trinkt einen Schluck. Aber am Segelklub gibt’s was. Ab zu den Booten, durch ein Eisentor mit der Aufschrift "Nur für Mitglieder" zu einem Hausboot. Der Mann hinterm Tresen ist überrascht, jemanden zu sehen, im Kühlschrank Getränke satt. Drei Flaschen unterm Arm durch die Bucht zurück, vorbei an tausenden Sonnenanbetern. Jeder zweite fragt, woher ich die Getränke habe. Ich deute aufs Hausboot. Am Ende der Bucht drehe ich mich um. Der Steg zum Tor bevölkert von einer Horde Durstiger. Eben noch wie tot auf dem Badetuch, bewegt sich die träge Masse jetzt auf das Hausboot zu. Die Zombies vom Wannsee.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.07.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
B-U-L-L-E

Donnerstagabend, Karl-Marx-Straße, vor dem Spätkauf "Night Shop 44". Zwei Polizisten in Hundertschaft-Montur, Feierabend, endlich. Die Haare verschwitzt, den Helm in der linken Hand, rechts eine Zigarette. Neben den Neuköllner Nachtaktiven in zu kurzen Hosen sehen die beiden aus wie Robocops. Sehr müde Robocops. Hundertschaft, Scheißjob, einer muss ihn ja machen. Auftritt schwarzer Benz, schönes Auto, will gehört und gesehen werden. Vor dem Späti alle Parkplätze besetzt. Zweite Reihe parken ist Berliner Gesetz. Warnblinker an, Beifahrer springt raus, an den Polizisten vorbei. Die Miene unter den verschwitzten Haaren des einen Polizisten verfinstert sich. Er beugt sich runter, schaut durchs Seitenfenster den Fahrer an: "Du kannst hier nicht parken." "Komm schon, Bruder, ich bin gleich wieder weg." Der Polizist türkischstämmig, der Zweite- Reihe-Parker ebenfalls. Tiefer Zug an der Zigarette, funkelnde Augen: "Verdammt, ich bin nicht dein Bruder, nur weil ich ein Schwarzkopf bin. Ich bin ein Bulle, checkst du das? B-U-L-L-E!" Der Fahrer duckt sich weg, der rauchende Robocop sieht ihm fest in die Augen. Zwei stumme Sekunden vergehen, dann hebt der Fahrer die Hand: "Entschuldige, kommt nicht wieder vor." Er legt den Gang ein und ab. Der Beifahrer kommt mit Cola und Kippen aus dem Späti, sucht das Auto, sein Blick bleibt an dem Polizisten hängen. "Ich bin Bulle, verdammt." Das musste raus. Feierabend, jetzt aber, endlich.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.06.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kaboom

Samstagabend, Schöneberg, auf ein Bier in die Möwe. Einmetersechzig holzvertäfelte Heimeligkeit. Drucke vom Hamburger Hafen. Eine Möwe, überlebensgroß, hängt von der Decke. Zum Bier gibt es den passenden Bierdeckel. Ein Platz zum Verweilen. Nur zum Rauchen muss man raus. Ich schlängele ich mich am Treseninventar vorbei in Richtung Ausgang. Schon leicht angezündet kann ich mein Feuer nicht finden. Vor der Tür eine kleine Menschentraube, da wird schon einer dabei sein. Der da mit dem Hut vielleicht. Wer Hut trägt, der raucht auch. Entschuldigung, hast du Feuer? Der Hut dreht sich um. Zuckt mit der Nase, sein ganzes Gesicht runzelt. Oh Gott! Helge Schneider! Jugendheld und Quatschvorbild. Neben ihm Sergej Gleithmann, der Pina Bausch des deutschen Jazztanzes, Riesenbart zur Halbglatze. Ich merke, wie sich mein Gesicht zu einer grenzdebilen Maske verzieht. Feu-er? Ich stottere. Helge greift in die Hosentasche, zieht seine Hand hervor und lässt den Daumen hochschnellen. "Kaboom", sagt er. Vor mir sein Finger, nur sein Finger. Tu es nicht, denke ich noch, als ich mich, Kippe im Mund, zu Helges imaginärem Feuerzeug hinabbeuge und an meiner Zigarette sauge. Es dauert ein paar Sekunden, bis Helge den Daumen zurückzieht. Bitte schön. Danke, Helge. Und dann verschwinden sie in die Nacht, er und Sergej. Ich schaue ihnen nach, dem Hut und dem Bart, die Zigarette unangezündet zwischen den Lippen. Jemand tippt mich an: Hast du mal Feuer?
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.03.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Laus Kinskis Katze

Freitagabend, 19 Uhr, Karl-Marx-Straße. Feierabendverkehr trifft auf Biervorratskäufer, Vorglüher auf Kleinfamiliengroßeinkäufer. Ein Pulverfass. Ich ziehe einen Koffer mit kaputten Rollen über das Kopfsteinpflaster, sehe also aus wie der Neu-Berliner/Tourist, der den Kiez kaputtmachen will. Die Neuköllner danken es mir mit Verachtung. Ganz anders die Reaktion auf meine Begleitung, Künstlername Laus Kinski, die mich davon überzeugt hat, ihr beim Umzug in ihr neues Atelier zu helfen. Mit der Bahn am Freitagabend. Ihre Katze Motte trägt sie wie ein Baby vor die Brust geschnallt. Alter, wie süß!
Mit der U7 runter zum Ring. Beim Ausstieg trifft der Rollkoffer versehentlich das Schienbein eines Schlechtgelaunten. Seine Fratze der rechtmäßigen Empörung verwandelt sich sofort in ein grenzdebiles Grinsen, als er Laus Kinski und Motte erblickt. Innehalten, Katze streicheln, Babylaute imitieren. Alles vergeben und vergessen. Mit der S46 nach Schöneweide. Jugendliche mit Ghettoblastern und Wodka- Energy-Mischungen. Hasserfüllte Blicke auf den Rollkoffer, früh gelernt. Dann miaut Motte. "Alter, wie süß!"
Diese Katze, da bin ich mir sicher, sollte bei den nächsten Verhandlungen im Ukraine-Konflikt um den Tisch streunen. Eine Schale Milch auf den Boden, schnurren lassen, fertig. Wer den Rollkoffer- Konflikt auf Berliner Straßen befrieden kann, der schafft alles.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 03.01.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
"Och ..."

Niemetzstraße Ecke Saalestraße, Neuköllner Diaspora nahe dem S- Bahnhof Sonnenallee. Die Kneipe an der Ecke mit Leuchtschriftzug: Tiefpunkt. Ein Schnaps: ein Euro. Davor auf der Straße eine Couch. Durchgesessen und durchnässt. Die Trostlosigkeit des Berliner Winters als Stillleben. Doch was zählt, sind die inneren Werte. Rein in die Kneipe gegenüber vom Tiefpunkt. Um die Theke herum eine Traube Ganztagstrinker mit Raucherfahrung. Prösterken, auf uns.
Die Kälte da draußen und die Angezündeten im Innern, getrennt nur durch eine Scheibe. Doch dann, für einen Moment, berühren sich beide Welten. Torsten, Schnitzelhände zur Nassrasur, regt sich auf. Urplötzlich, keiner weiß, warum. Er zetert, dann ein schlimmes F-Wort. Stille. Gaby, gerade noch Herzbardame, findet das nicht gut. Raus, brüllt sie. Torstens leerer Blick füllt sich mit Unverständnis. Das darf man doch wohl noch sagen. Der Unsatz des Jahres 2014. Es hilft nichts. Torsten muss weg, da sind sich alle einig. Er tritt vor den Stehtisch - ein Baum von einem Mann kurz vor der Rodung. Die Schnitzelhände jetzt vor dem Körper, zur Ruhe mahnend. Ein Geistesblitz durchzuckt den glasigen Blick. Okay, sagt Thorsten, dann sag ich eben Fötzchen. Stille, Blick auf Gaby. Die kippt Klares. Lacht. Och, sagt sie, das find ich jut. Prösterken, auf uns, diesen Moment. Mach ruhig noch einen Kurzen zum Bier. Gegen die Welt da draußen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 04.10.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
100 000 nackte Jungs

Sonntagvormittag, Neukölln, Reuterstraße. Das Grau des Eckhauses geht nahtlos in den Himmel über. Zu viel Beton, zu wenig Liebe. Es gibt Sonntage, an denen man lieber zu Hause bleiben sollte. Jetzt kämpft das verkaterte Gemüt gegen die Realität. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht eine Frau, Mitte 40 vielleicht, die kurzen Haare liegen schlaff auf dem Schädel. Sie steht an der Fußgängerampel, wartet wohl, dass es grün wird. Sie zieht ihren rechten Schuh aus, dann den Socken, steht da mit einem beschuhten Fuß und einem nackten. Die Ampel springt auf grün, doch die Frau geht nicht, sondern vollendet ihr Werk. Linken Schuh ausziehen, Socken hineinstecken. Es wird rot, es wird grün. Ich stehe einfach nur da, die Frau kommt auf mich zu, visiert mich an. Dann sagt sie: "Ich habe schon 100 000 Jungs nackt gesehen. Herzlichen Glückwunsch." Sie geht, nackte Füße auf nacktem Asphalt, an mir vorbei und weiter den Gehsteig entlang. Dabei habe ich noch so viele Fragen. Alles an diesen beiden Sätzen fasziniert mich. Allein die Zahl. 100 000! Wie viele Jungs sind das wohl pro Jahr? Rechnet man es aus, kommt man auf 2222. Sechs pro Tag, wenn man die Dame mit den nackten Füßen auf 45 Jahre schätzt. Was aber sollte das mit dem Glückwunsch? Bin ich einer von ihnen? Eine junge Frau kommt auf mich zu, schaut mich an - und lacht. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, dass mein Hosenstall offen steht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.08.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Capri-Sonne

Samstagabend in einem Späti auf der Karl-Marx-Straße. Der Laden stinkt, gestern Nacht hat einer vor die Theke gekotzt. "Hab schon gewischt", sagt der Besitzer, dauert jetzt ein paar Tage, war ziemlich viel, kann man nichts machen. Ein junger Mann kommt herein, barfuß, Wuschelkopf zum Flaumbart, er kauft Zigaretten und Bier. Sein Blick fällt auf die Capri-Sonne neben der Theke. Orange, der Klassiker. Er greift zu, der Verkäufer lacht. Was denn so witzig sei, fragt der Wuschelkopf. Nichts, sagt der Spätiverkäufer und schüttelt den Kopf. Als der Kunde gegangen ist, nimmt der Verkäufer eine Capri-Sonne in die Hand. "Früher haben die sich hier wahnsinnig gut verkauft. Das war das Einzige, mit dem man Tili runterspülen konnte." Tili, kurz für Tilidin, ist ein Schmerzmittel, das bei vielen jungen Türken in Neukölln sehr beliebt war. Es hieß, dass man davon aggressiv würde. Stimmt nicht, sagt der Verkäufer. Es war beliebt, weil es wenig kostete und man in Prügeleien keine Schmerzen mehr spürte, wenn einen die Faust des Gegners traf. Das einzige Problem war der Geschmack. Tilidin ist extrem bitter, wirklich widerlich. Aber in einem Päckchen Capri-Sonne sind sechseinhalb Stücke Würfelzucker enthalten, mehr als in Fanta. Genug, um den Geschmack von Tilidin zu mildern. Seit Anfang 2013 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz, der Straßenpreis ist in die Höhe geschossen. Und der Verkauf von Capri-Sonne abgesackt.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 31.05.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Landeier unter sich

U-Bahnhof Alexanderplatz, Mittwochabend, Warten auf die U5 Richtung Hönow. Auf dem Gleis gegenüber hält ein offener Wagen, Menschen mit gelben Helmen applaudieren. Endstation der Tour im U-Bahn-Cabrio durch Berlins Unterwelt.
Eine Gruppe Touristen jenseits der sechzig steigt aus, Helme ab. Drei Frauen in Steppjacke und kleinem Lederrucksack, die Männer passend in beige-grauem Altherren-Understatement. Die Frauen fragen: "Ist das hier richtig, Richtung Hönow?" Die abgeklärten Großstadtzwanziger am Gleis nicken. Die alten Herren sagen: "Hab ich doch gesagt." Szenen dreier Ehen. Alles klar also? Mitnichten. Eine will nicht. "Das ist falsch hier, das weiß ich, ich war mal hier." "Wenn du nicht mitkommst, Petra, dann bleibst du hier." Die Bahn fährt ein, Petra immer noch in Opposition: Nee, ist falsch. Drei Herren und zwei Damen in der Bahn, Petra davor, standhaft. Nein, nein, nein.
Die Gruppe wird nervös. Die Frage ans Abteil: "Ist das richtig hier, Richtung Hönow?" Gelächter, Überheblichkeit. Petra steigt ein, unter Protest. Die Stimme aus dem Off: "Richtung Hönow, bitte einsteigen." Erleichterung. Dann Petra an alle: "Entschuldigung, so ist das, wenn Landeier in der Großstadt sind." Das sitzt. Kein Gelächter mehr, die Köpfe werden eingezogen, ein paar sogar rot. Ein Abteil voller zugezogener Landeier aus Bottrop und Bielefeld, gerade noch so cool, schämt sich jetzt. Nur Petra lacht. Sehr laut.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.03.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Tok, tok, tok

Kottbusser Damm, an einem Sonntagvormittag. Erste Radtour nach dem Winter, der keiner war. Ein Krankenwagen drängt sich vorbei, reiht sich ein in eine Blaulichtkolonne, die am Kottbusser Tor unter einer Ampel endet. Fünf Meter darüber, auf einem Vorfahrtsschild, steht eine Frau, etwa dreißig, recht schlank und sehr nackt. Bekleidet nur mit einem Hammer in der Rechten. Ein Polizist, Kopf nach oben gereckt, in der Nackenfalte reflektiert der Schweißfilm. "Kommen Sie runter?", fragt er. Die Antwort von oben: Tok, tok, tok.
Mit dem Hammer schlägt sie auf die Ampel. Die Menschentraube hat die Smartphones justiert. Und wieder: Tok, tok, tok. Als wolle sie sagen: Die Ampel muss weg! Zwei Berufstrinker nicken anerkennend: "Nicht schlecht." Darauf ein Sterni.
Es kracht, ein Wohnmobil, Kennzeichen HSK, ist in einen Berliner Twingo gefahren. Die Beifahrerin, Mitte 60, schimpft mit dem Gatten. "Wo du wieder deine Augen hast." Von oben strahlt weiterhin der weiße Protest-Po. Wofür oder wogegen sich der Protest - um einen solchen handelt es sich doch wohl - richtet, bleibt unklar. Aber solange sie da oben steht, im Kreisverkehr, hat sie nicht verloren. Eine Art Viktoria, die Goldelse in Weiß, eine Kreuzberger Variante der Siegessäule. Die Nackte hämmert weiter auf die Ampel ein, dem Polizisten rinnt der Schweiß ins Hemd. Alle Fotos sind gemacht, das Bier ausgetrunken. Ein Sonntagvormittag am Kotti, der nackte Wahnsinn.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.02.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Sei Wedding!

Café Barrikade, Ecke Pankstraße. Aus den Boxen plärrt Punk, die Scheiben beschlagen. Trinker am Tresen, Studenten hinter der Süddeutschen. Im Hinterzimmer Kicker und Billard. Das Schild mit der durchgestrichenen Marihuanapflanze verschwindet im Kiffer-Qualm. Auf dem einzigen Stuhl sitzt einer, der mit Härterem zu kämpfen hat. Zittert, schwitzt und friert. Daneben steht sein Kollege mit Riesenjoint, erzählt, was falsch läuft in der Welt. Das Zittern des anderen scheint Bestätigung genug.
Am Kicker lehnt mein Freund, nennen wir ihn L. Er ist Weddinger und macht das öfter: lädt mich ein, um mir seine Welt zu erklären. Seine Welt: Wedding. Der Wedding bleibt hart, der Wedding bleibt rot. So geht das immer. Gerade hat L. Fahrt aufgenommen, da platzt der Riesenjoint in den Monolog. "Wollt ihr ein Handy kaufen? Hab’ ich über." Er zieht ein altes Sony Ericsson aus seiner Brusttasche. Wir verneinen. "Gebt ihr mir ein Bier aus?" Ich halte ihm meins hin, hoffe, dass er ablehnt. Er greift zu. Ob wir auch eine Zigarette hätten, fragt er. L. hält ihm den Tabak hin. Der Typ schaut auf das Bier in der einen Hand, den Joint in der anderen. L. dreht ihm eine. Das eben angebotene Handy klingelt. Der Typ geht ran, nimmt die Zigarette und geht ab. "Sorry Jungs." Am Tresen trinkt er mein Bier aus, raucht die Kippe von L. und brüllt Beleidigungen gegen Hertha und die Welt ins Handy. Wedding bleibt Wedding.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.12.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Endlich zuhause

Aus dem Hamburger Exil zurück in Berlin. Heimatgefühle, endlich wieder offene Pöbeleien statt hanseatischer Ignoranz. Ankunft am Südkreuz. Die Ringbahn natürlich verspätet, ich beschwere mich am Schalter. Auch noch am falschen, dem von der Deutschen Bahn. Sichere Nummer, bestimmt werde ich angeschnauzt, wie sonst im Bus, wenn ich eine Einzelfahrkarte mit einem Zwanziger bezahlen will. Der Mann am Schalter schaut auf, hebt die Hände und dann - Überraschung! Er entschuldigt sich. Was ist hier los? Soll ich ihn für das schlechte Wetter verantwortlich machen? Die Bahn kommt, ich lasse die anderen Fahrgäste nicht aussteigen, drängle mich als Erster hinein. Jetzt aber, denke ich, volle Berliner Breitseite, ich bin bereit. Doch nichts geschieht. Die Bahn ist voll, kaum ein Platz frei. Trotzdem stelle ich meine Tasche auf den Nachbarsitz. Ein Arbeiter steigt zu, sieht den fast freien Platz neben mir. Er bleibt stehen, kein Wort. Verdammt, denke ich, was soll ich denn noch machen? Einfahrt S-Bahnhof Sonnenallee. Aus dem Fenster sehe ich den Dönerladen, die S-Bahn-Klause. Die Türen gehen auf. Direkt vor mir ein schon ordentlich angezündeter Obdachloser. Als ich aussteige, glotzt er mich an, wie den Typen, der ihm das letzte Sterni vor der Nase weggekauft hat. Er holt tief Luft und brüllt los: "Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mir gerade noch gefehlt. Wichser!" Endlich, denke ich, endlich zuhause.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 12.10.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ungleicher Kampf

Alt-Neukölln gegen Neu-Neukölln vor den Arcaden an der Karl-Marx- Straße. Ein junger Mann, knapp zwei Meter lang - mit Hipster-Insignien: Tight-Jeans zu zu tief Ausgeschnittenem, Bart und Jutebeutel - steht an der Ampel. Ein Mann, etwa 40, Typ Malocher, verschwitzt, Filterlose im Mundwinkel, rennt auf ihn zu: "Verdammt, du Hurensohn, ich hab gesagt, geh da weg!" Der Akzent: osteuropäisch. Der Auslöser für den Streit: ungewiss. Gewiss nur, dass es hier gleich knallt, und zwar richtig. Der Alt-Neuköllner packt den Neu-Neuköllner am Kragen. Er muss hochschauen, zwei Kopflängen trennen die beiden Männer. Der Alte schlägt aufwärts, dem Jungen mit offener Hand ins Gesicht. Der Junge, perplex, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Nichts in seinem Leben in, sagen wir, der ostwestfälischen Provinz scheint ihn darauf vorbereitet zu haben, hier am helllichten Tag auf die Schnauze zu kriegen. Das hier ist keine Klopperei mit dem Jan-Lennart, damals, im Herforder Kindergarten, Ende der 80er. Keine Gewalt, das merkt er jetzt, während die Schellen auf ihn einprasseln, ist auch keine Lösung, zumindest nicht sofort. Aber er steht es durch, stoisch, bis der Alte von ihm ablässt. Der Neu-Neuköllner geht weg. Schaut sich noch einmal um. Ein paar Jahre noch, scheint sein Blick zu sagen, dann sind hier die letzten Wohnungen kernsaniert. Alt-Neukölln wird es dann nicht mehr geben.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.05.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zurückgeschissen

Mittwochabend, Neukölln, Rixdorf. "VoKü" steht mit Kreide auf der Tafel vor der linksalternativen Sperrmüllmöbelkneipe. Zwei Euro für eine warme Mahlzeit. Kartoffeln an Karotten-Paprika-Pampe. Die Bierbänke ächzen unter der Last der studentisch-alternativen Hinterteile. Platz findet lang nicht jeder. Die mampfende Masse säumt den Gehweg bis zur Galerie, die vor einiger Zeit zwei Häuser weiter aufgemacht hat. Im Fenster der Kneipe hängen Poster: "Homophobia kills", "Kein Ort für Nazis".
Gegenüber ein Seniorenheim. Rentner schauen durch gehäkelte Gardinen auf das junge Treiben. Eine alte Frau tritt heraus, den Dackel im Anschlag hinter sich herziehend. "Verdammt noch mal", brüllt sie, als sie sich an den Billig-Essern vorbeiquetscht, "wir müssen hier durch!"
Niemand rührt sich. Der Gesichtsausdruck der Frau rangiert irgendwo zwischen Verachtung und Hass, der Dackel schnappt nach einer Kartoffel. Sie gehen um die Ecke, ein paar Leute holen sich Nachschlag. Nach einigen Minuten kommt Frauchen samt Dackel zurück, gelassener jetzt, erleichtert, als sei ihr Plan aufgegangen. Ein Blick in die Straße, aus der sie kamen, und die Vorahnung wird Gewissheit: Ein frischer Haufen Hundescheiße thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Bürgersteig. Seit Mittwochabend, 21.30 Uhr, wird zurückgeschissen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.04.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Fenster zum Hof

Neukölln, vierter Stock, Vorderhaus, Blick nach hinten raus. Zwischen vier Häuserwänden - zu viel Beton, zu wenig drüber - erwacht das, was man nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Frühling. Ein Blick aufs Thermometer, neun Grad. Alles über null Grad ist Frühling. Berlin war lange eine geteilte Stadt, ist es noch heute. Nicht mehr durch eine Mauer, doch durch die Jahreszeiten. Im Winter ist alles DDR, Plattenbau und grau. Im Sommer supergeil, Party und Spree.
Also, Fenster auf, Frühling rein, Winterdepression raus. Die von gegenüber hatten die gleiche Idee. Musik ertönt. Bonnie Tylers "Total Eclipse of the Heart". Die aus dem zweiten Stockwerk schießen zurück. Drum and Bass. Zwischen zwei wummernden Basssalven schmalzt Bonnie Tyler: "And I need you now tonight / And I need you more than ever!" Irgendwo brüllt ein Kind. Im Hinterhof verliert eine Bierflasche den Kampf gegen die Betonwand.
"Schnauze", brüllt einer in den Soundteppich. Der Bonnie-Tyler-Fan schreit zurück. "Halt’s Maul!" Jetzt kommt mir allmählich die Erinnerung. Frühling in Berlin, das bedeutet Kampf. Kampf um den öffentlichen Raum. Kampf um die Musikhoheit im Hinterhof. Bonnie Tyler bäumt sich ein letztes Mal auf: "But now there’s only love in the dark / nothing I can say / a total eclipse of the heart." Ich schließe das Fenster, ziehe die Vorhänge zu. In sechs Monaten, denke ich, ist der Spuk wieder vorbei.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 23.02.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Total ausgerastet

Donnerstagmorgen, 9 Uhr, krachendes Erwachen. Trillerpfeife, Megafon, Sirene. Ein Blick aus dem Fenster - Kreuzberg: Lausitzer, Ecke Wiener Straße - und die Gewissheit: Demo. Auf beiden Seiten der Absperrung die Krieger für die Schlacht gerüstet. Und ich will nur nach Hause, nach Neukölln, Rixdorf. Vom Kottbusser Tor mit der U8 zum Hermannplatz, dann den 41er. Jetzt aber: Rein ins Getümmel.
Aus dem schwarzen Block hört man etwas von Scheiß-Gentrifizierung, Steine fliegen nicht, nur eine kleine Wodkaflasche. Angeheitert schmeißt sich’s besser. Die Passanten retten sich mit mir in die U-Bahn. Hermannplatz, Umsteigen. Zwei junge Studentinnen haben den gleichen Weg. Die eine zückt ihr Handy. "Ja, war krass", sagt sie ins Telefon. "Die Bullen sind total ausgerastet, ohne Grund, Tränengas und alles." Die Freundin nickt stumm. Bestätigung. Dass die Demo da gerade wirklich krass war. Und sie mittendrin.
"Hast du mich im Fernsehen gesehen?", fragt sie ins Handy. "Ich habe mich extra auf eine Säule gestellt." Nee? Na ja, schade. Themawechsel, irgendwie. Sie, die Freundin am Telefon, müsse unbedingt mal die neue Wohnung anschauen. Ein Zimmer, Nähe Weserstraße, nicht ganz billig, 400 Euro, aber "so, so schön". Mit abgezogenen Dielen. Total toll.
Schade eigentlich, denke ich, dass ich die Wodkaflasche nicht aufgehoben habe. Ich hätte jetzt so gerne etwas, um es zu schmeißen.

Dominik Drutschmann

Erschienen am: 14.12.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
KEIN DÖNER LAND IN DIESER ZEIT

Neukölln an einem Donnerstagvormittag. Der Lidl an der Ecke Flughafenstraße hat sich hübsch gemacht. Wiedereröffnung. Sogar der Security-Typ strahlt. Einkaufen war dort auch früher ein Erlebnis. Vielleicht wird es jetzt ein erfreuliches. Also rein und staunen. Gut ausgeleuchtete Discounter-Südfrüchte, dazu vegetarische Burger-Pattys aus Eigenproduktion, hinten links die Deluxe-Produkte-Ecke. Von dort droht jetzt Ärger im neuen Einzelhandelsparadies. Eine Mutter, Hidschab und Hackenporsche, zerrt ihre Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, in Richtung Ausgang. Die aber stockt in ihrer Empörung. Sie packt den angefangenen Döner in die Alufolie, als ob sie versuchen würde, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Mutter zerrt, die Tochter klagt: „Seit wann darf man in Lidl kein Döner essen?“ Und dann: „Ist Lidl jetzt High Society oder was?“ Die Umstehenden: vereint im Lachen über die rechtschaffene Empörung, über die Absurdität des schönen Schein. Komik war immer schon das schärfste Schwert der Unterdrückten. Und auch im neuen Glanz des Lidl funktioniert es. „Ach komm“, sagt die Verkäuferin zum Mädchen, „iss deinen Döner“.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.09.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Erde so frisch

Dienstagnacht im Sandmann in Neukölln. Hinten ist schon das Licht aus. Das ist jetzt wirklich das letzte Glas. Zum Abschied holt die Bardame einen Flyer hervor, darauf der Hund, der immer im Eingangsbereich lag. Eine Traueranzeige. Der Hund ist tot. Vor der Kneipe, am Stamm der Weide, zwei in Plastikhüllen verpackte Fotos. Wieder der Hund, die Augen rot von Herrchens Fotoblitz.Irgendwer hat Blumen gepflanzt, die Erde ist noch frisch. Plötzlich steht eine Frau neben mir, Ende 50, lange Zigarette, Hund an der kurzen Leine. Bestürzung im faltigen Gesicht. „Das war doch der Spock“, sagt sie. „Wie bitte?“ „Das war der Hund von dem Mann, der da immer am Tresen saß. Und jetzt tot.“ Sie beginnt zu schluchzen, „schlimm ist das“. „Aber der Mann lebt noch“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ja“, sagt sie, die Tränen laufen, „aber das ist immer so: Erst Hund, dann Herrchen. Das dauert nicht mehr lange. Und dann ist der auch tot – schlimm ist das.“ Wie verweilen einen Augenblick, schauen stumm auf die Weide, auf die Fotos in den Plastikhüllen, die frischen Blumen. „Aber Ihrem Hund geht's gut?“, frage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und sagt nur ein Wort: „Krebs.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ordnungshüter

Ein Montagmittag an der Kreuzung Hermannplatz. Die Linksabbieger sind durch, die Autos auf der Hermannstraße stehen noch wenige Sekunden. Ein Mann um die vierzig, offener Mantel, fettiges Haar, überquert die Straße bei Rot. Was er nicht gesehen hat: dass hinter ihm ein Polizist in Hundertschaft-Kampfmontur steht. Dieser ruft ihm hinterher: Hallo! Keine Reaktion. Da überquert der Beamte nun ebenfalls die Straße, was er nicht gesehen hat: dass die Autos von der Hermannstraße jetzt Grün haben. Vollbremsung, Hupkonzert. Der Polizist hebt die Arme, als wolle er sagen: "Verdammt, ich mach hier nur meinen Job." Auf der anderen Straßenseite empfängt ihn eine junge Mutter mit Kinderwagen und Vorwürfen. "Sie sind ja ein tolles Vorbild." Ignorieren, weiter dem Rotgänger nach. Auf Höhe McDonald’s kann der Hüter der Ordnung ihn stellen. Er redet auf ihn ein, der ungewaschene Schopf nickt verständig. Was der Polizist dabei nicht sieht: dass er auf dem Radweg steht. Zwei Radfahrer halten auf ihn zu, klingeln und pöbeln. Der Polizist will hinterher, hat zu Fuß aber keine Chance, bricht nach wenigen Metern ab. Der Rotsünder hat sich indessen entfernt. Die Grünphase ist wieder vorbei, die Straße noch frei. Für einen Moment überlege ich, hinüberzugehen. Aber das will ich dem armen Mann nun wirklich nicht antun.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Imbisspolizei

Ein Mittwochnachmittag um halb fünf an der Hasenheide. Der verdammte Job hat länger gedauert, der Kollege und ich müssen jetzt dringend zu Mittag essen. Sonst ist die Laune im Keller. Bei Hamy, dem Vietnamesen, ist es übervoll, also zum Mitnehmen. "Können Sie bitte draußen warten?", fragt der Kellner. Eigentlich ungern, aber gut, jetzt nicht auch noch Streit anfangen. Stattdessen vor der Tür eine rauchen. Zwei Polizisten gehen an uns vorbei, direkt in den Imbiss. Die Zigarette ist noch nicht aufgeraucht, da kommen die beiden wieder heraus, in der Hand eine Plastiktüte mit Essen. "Entschuldigung", rufe ich ihnen hinterher, "aber haben Sie vorbestellt?" Nein, sagen sie, hätten sie nicht, das sei ganz schnell gegangen. Kippe aus und rein in den Laden. "Werden Bullen hier bevorzugt oder was?" Der Mitarbeiter schaut erst mich an, dann auf seinen Zettel - und wieder hoch. Ich will gerade erneut ansetzen, da rennt der Kellner an mir vorbei auf die Straße. Ich hinterher. Der Polizeiwagen ist gerade am Ausparken, der Kellner klopft an die Scheibe, die Tür öffnet sich, und er entwendet den Beamten das Essen. Lachend kommt er zurück und drückt mir die Tüte in die Hand. "So geht’s ja nicht", sagt er und geht wieder in seinen Laden. Das Polizeiauto passiert uns, die Gesichter im Innern sehen hungrig aus.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.03.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kann bassieren

Ein früher Dienstagnachmittag. Das Visum für Russland liegt zwar bereit, erfahre ich am Telefon, aber für heute hat die Pass- und Visastelle in Mitte schon geschlossen. Morgen wieder, werde ich vertröstet. Das Problem: Ich bin viel zu spät dran, wie immer. Und schon morgen geht mein Flug. Nach minutenlangem Bitten und Betteln kommt der kulante Vorschlag: "Na, dann kommen Sie ausnahmsweise heute um 15 Uhr vorbei." Da stehe ich also vor der Glasscheibe und versuche der Dame am Empfang den Sachverhalt zu erklären. "Ich möchte meinen Pass abholen und soll in Zimmer 0.3.05 gehen." "Ich darf Sie nicht alleine durchs Gebäude gehen lassen", lautet die Antwort hinter der Scheibe. "Na, dann stellen Sie mir jemanden zu Seite", schlage ich vor. "Der war gut", sagt die Empfangsmitarbeiterin. Sie lächelt nicht, greift aber zum Telefonhörer. Warten. Nach etwa zwei Minuten eilt eine Frau auf uns zu, den Pass in der Hand. "Was soll das denn? Ich habe für soetwas keine Zeit", ärgert sich die Frau mit meinem Pass an die Scheibe gewandt. "Warum haben Sie den Mann nicht hochgeschickt?" Schulterzucken. Die Frau übergibt mir den Pass und geht ab. Die Dame hinter der Scheibe setzt zur Entschuldigung an. "Das tut mir leid", sagt sie. "Ich habe Bass verstanden. Und mich schon gewundert, wer hier Bass spielt."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 10.02.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kopf in Wand

Samstagnachmittag, vierter Stock in einem Neuköllner Hinterhaus. Die zweite Halbzeit der Bundesligakonferenz läuft im Radio, da klingelt es an der Tür. Mutti hatte sich angekündigt. Aber jetzt schon? Wollte doch noch aufräumen, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen. Schon klingelt es erneut. Tür auf und herein kommt das Chaos im Blaumann. Wasserschaden, bei der Nachbarin im Zweiten. Die Stimme laut, der Ton duldet keinen Widerspruch. Dass die verdammte Heizung dem Klempner den Samstag verhagelt, steht zwei Furchen tief in sein Gesicht geschrieben. Zehn Sekunden später balanciert er auf meinem Badewannenrand, eine Säge in der Hand. "Was machen Sie da?", frage ich. Die dritte Furche meißelt sich in sein Gesicht. "Ein Loch." Sagt er und sägt ein Rechteck in den Rigips. Aber es ist zu klein: Beim Versuch, seinen Kopf in die Wand zu stecken, bleibt er hängen. Sein Gesicht jetzt eine einzige Furche. Fluchen, nachjustieren, Kopf in die Wand. Er redet weiter, doch der Rigips verschluckt seine Worte. Kopf raus, runter in den zweiten Stock, wieder zurück, Kopf in die Wand. So geht das eine ganze Weile. Keine Ahnung, sagt er schließlich und geht. Das Bad ein Schlachtfeld, durch das Loch blickt man auf Mauerwerk. Es klingelt. In der Tür steht Mutti. "Wie sieht’s hier denn aus? Da ist ja ein Loch in der Wand! Junge, muss ich mir Sorgen machen?"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.11.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Haarige Angelegenheit

In der U8 von Osloer Straße bis Hermannplatz. Je südlicher, desto bärtiger, ab Kotti sind die Glattrasierten in der Minderheit. Zwei Jungs, nicht älter als zwölf, unterhalten sich auf Türkisch. Keine Ahnung, worum es geht. Aber dringlich ist es, zumindest für den einen. Dessen Stimme wird lauter, der Freund versucht ihn zu beruhigen und bewirkt doch eher das Gegenteil: Wut spült erste Tränen in die Augen. Der Freund fasst ihm an die Schulter, aber auch diese Berührung hilft nicht. Was hat er bloß? Die beiden diskutieren weiter. Wenn das eskaliert, sage ich zu mir selbst, werde ich dazwischengehen. Und wenn ich dafür bis zur Endhaltestelle Hermannstraße fahren muss. Nächster Halt Schönleinstraße. Vom Türkischen geht es über in eine Melange aus Landes- und Muttersprache. Jetzt hat auch der Besonnene die Schnauze voll: "Was ist denn dein Problem?" Der Freund wischt sich die Tränen aus den Augen, funkelt seinen Kumpel an, kommt ihm näher und näher, deutet dabei immer wieder auf sein Gesicht, als wolle er dem Gegenüber zeigen, wohin er gleich schlagen werde. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der beiden Streitenden. "Oglum", ruft er da, "ich habe den miesesten Bartwuchs meiner Familie." Kurzes Schweigen. "Selbst meine Mutter hat mehr." Der Freund klopft ihm auf die Schulter: "Wird schon."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.10.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Brauchst du, Bruder?

Neukölln, Reuterstraße Ecke Karl-Marx-Straße, ein Sonntagabend. Die Tankstelle, sonntags zuverlässigste Adresse für Getränke-, Tabak- und sonstige Notversorgung, ist frisch renoviert, innen bestens ausgeleuchtet. Vor der Tür, abseits des Lichtkegels, der herausfällt, steht ein Mann, gepflegter Vollbart zu ausrasiertem Nacken, und betankt sein Auto. Aus dem Nichts erscheint ein weiterer, die Jacke flattert ein paar Nummern zu groß um seinen Körper. Er hat einen Karton unterm Arm. "Bruder, brauchst du Messer?" Vielleicht gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem das völlig normal ist, Fremde beim Tanken in einen Messerdeal verwickeln zu wollen. Dieser ist es nicht. "Ich will deine scheiß Messer nicht." Vielleicht ist der Mann aus der Dunkelheit Messerverkäufer, der diese Woche seine Quote nicht erreicht hat. Und jetzt noch diesen einen verdammten Karton verkaufen muss -
Messerset, zwölf Stück. Er zieht eines heraus. "Verpiss dich", sagt der andere und geht bezahlen. Der Verkäufer, das Messer noch in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet, schaut mich an. "Bruder, brauchst du Messer?" Ich muss lachen, fast hysterisch. Das erschreckt ihn so sehr, dass er zurückweicht. Instinktiv gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Lache noch immer. Da dreht sich der Mann um, elf Messer unterm Arm, eins in der Hand, und rennt davon.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.04.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Hund

Samstagabend in einer Neuköllner Eckkneipe. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber einige Gäste sind schon ordentlich angezündet. Im hinteren Teil feiert jemand Geburtstag, unangemeldet, die Kellner sind genervt. Im vorderen Teil tummeln sich ein paar Party-Touristen, die einmal zu oft aufs Klo gehen. Von all dem unbeeindruckt liegt in der Mitte des Raums ein Hund. Es heißt, dass sich Hunde in fremden Umgebungen immer den Platz aussuchen, von dem aus sie den besten Überblick haben. Ein Instinkt, der nicht totzuzüchten ist, offenbar steckt er selbst noch in diesem Exemplar Hund, einem Dackel mit Gewichtsproblemen, der wie eine Wurst aussieht, wenn auch eine sehr unförmige Wurst. Der Hund ruht unbewegt im Epizentrum des samstäglichen Kneipenerdbebens. Teilnahmslos auch dann noch, als ein Gast ihm beim Bierholen auf den Schwanz tritt. Hund zuckt nicht, Herrchen schon. Das ist mein Hund, sagt Herrchen. Der Treter ist perplex, nimmt den Dackel jetzt zum ersten Mal wahr, Ausfallschritt passend zur Ungläubigkeit. Sein Blick löst sich erst nach einigen Sekunden vom Hund, wandert hoch zum Herrchen, ein letztes Konzentrationsaufbegehren gegen das alkoholbedingte Wegdämmern, sein Mund formt Worte: "Was der Mensch aus dem Wolf gemacht hat", lallt er, "ist eine verdammte Tragödie!"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.01.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zigarettenlänge

An einem Freitagvormittag, Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Das Kind auf der anderen Straßenseite, nicht älter als vier, im Schneeanzug, ist gerade in sich zusammengefallen. Es kniet und schreit. Blick gen Himmel, die Nase läuft, Rotze droht an der Lippe festzufrieren. Der ganze Schmerz dieser Welt, vereint auf einem Meter Wohlstandsgör.
Was es hat? Man weiß es nicht. Was es sicher nicht bekommt: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Der sitzt 50 Meter weiter im Tramwartehäuschen und raucht. Typ Waldschrat in Funktionskleidung. Doch es ist das falsche Pflaster für derlei Sorglosigkeiten in der Kindererziehung. Auftritt der Mütter. Erst auf den Jungen eingeredet, dann den Vater ins Verhör genommen. Ist das Ihr Kind? Nicken. Wollen Sie sich nicht um den kümmern? Zug an der Zigarette, Kopfschütteln. Empörung am Retro-Kinderwagen. Jetzt gerät der rauchende Vater ins Rotorblatt der Helikoptererziehung, manikürte Finger fuchteln vor seiner Nase.
Irgendwann ist auch mal gut, und das ist jetzt. Kippe weggeschnippt, aufgestanden, Ansage: "Geht mir nicht auf den Sack. Kümmert euch um euren eigenen Scheiß." Stille, auch das Kind hält inne. Die Mütter sehen so aus, als wollten sie sich irgendwo beschweren. Bloß wo? Bevor das ganze Eskalationspotenzial dieser Szene zum Tragen kommt, schlichtet das Kind: Es ist aufgestanden. Papa, komm, sagt es. Und Papa kommt. Manchmal braucht es nur eine Zigarettenlänge.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 17.09.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Ratte

Ein Dienstag in Kreuzberg. Am Hermannplatz, hinter dem Karstadt, verbindet ein Parkplatz die Urbanstraße mit der Hasenheide. Radfahrer und Fußgänger benutzen ihn als Abkürzung, zum Ärger der Autofahrer. Hinter der Schranke hupt jetzt einer, wie zum Beweis. Vor ihm steht ein Fußgänger, Anfang 20, in der Hand ein Handy, zwischen Opel und Skoda auf der Jagd nach Pikachu. Er spielt Pokémon Go.
Ich verachte sie ja, diese nach dem Mauerfall Geborenen, die als Reminiszenz an ihre Jugend mit dem Handy ihre alten Gameboy-Helden in der realen Welt suchen; dieses Abkulten der eigenen Vergangenheit, obwohl die erst ein paar Jahre zurückliegt. Wie gönne ich es dem Typen, vom Fahrer des Autos angebrüllt zu werden, ehe der wütend weiterrast in Richtung Stellplätze.
Vor der Schranke auf dem Boden ein Gulli. Zwischen den Gitterstäben, durchnässt, die Augen aufgerissen, halb im Schacht, halb an der Oberfläche, eine tote Ratte. Und plötzlich liegt genau da auch eine Kindheitserinnerung für mich. Ich denke an Splinter, die Ratte aus den "Ninja Turtles". Sofort habe ich den Titelsong im Ohr, Frank Zander, die 80er: "Immer auf der Lauer - und immer etwas schlauer."
Ein Hupen reißt mich aus der Sentimentalität. Das Auto kommt auf der Ratte zum Halten. Entgeistert sehe ich den Fahrer an - und merke gar nicht, dass ich im Weg stehe. Vollidiot, sagt er und fährt davon, geradewegs zu auf den Typen, der sein Pokémon sucht.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.07.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Oma-Trick

An einem Samstagmorgen in Neukölln. Es ist kurz vor neun. Eine Frau mit Blumenkohlfrisur zieht ihren Hackenporsche in entgegengesetzter Richtung zu einem Pärchen, das sich wohl in der Nacht gefunden hat. Zumindest in der jungen Frau kommen aber jetzt offenkundig Zweifel auf, ob die Entscheidung im Licht noch standhält. Er sucht Nähe, sie Abstand. Davon unbeeindruckt steht zwischen Lidl und Bankfiliale ein Obdachloser und klirrt mit dem Becher.
Eigentlich ein guter Platz, doch der Mann ist schlecht drauf. Er schaut auf den Wahlkampfstand vor sich. Zwei Omis mit randlosen Brillen, die eine lila Haare, beide AfD. "Scheiße", sagt er, als ich ihm Kleingeld gebe, "was wollen die hier?" Es ist schlecht fürs Geschäft. Dazu noch diese miese Masche, mit freundlichen alten Damen aufzufahren. Da ist man als politischer Gegner gleich gehemmt. Alte Frauen anschreien, wie sieht das denn aus. Der Oma-Trick.
Der Schnorrer jedenfalls ist jetzt auf Betriebstemperatur. Sein Hund steigt mit ein. Ein zweistimmiges Bellen gegen rechts. "Ich werd mit den Linken nach Marzahn gehen und mich schön bei den Faschos vor die Tür setzen." - "Wuff!" Der Mann lacht auf, zwei Reihen reines Zahnfleisch. "Ich mach mit", sage ich, eine Spur zu übermütig. Das findet er so gut, dass er mir was vom Tetra-Wein anbietet. "Ein andermal", sage ich, "lass dir den Tag nicht versauen." Wieder das zahnloses Lächeln, schiefer Blick zum Stand. "Jedenfalls wird mir nicht langweilig."

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.05.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Happy Meal

Im Erdgeschoss der Neukölln Arcaden an einem Samstag. Die Schlangen vor Sparkassenautomaten und Postschalter haben sich ineinander verheddert. Eine 50-Personen-Polonaise mit einem Ursprung und zwei Enden.
Dahinter ein McDonald’s, am Schalter ein Familienverbund, drei Generationen Hunger. Der Junge, vielleicht zehn, im Jogger und grauem Sweatshirt. Darauf steht Bronx, geschrieben: BRNX. Mutti trägt eine dieser Frisuren aus ihrer Jugend, also den Achtzigern, die so aussehen, als hätte jemand den Cesar-Hund aus der Fernsehwerbung blond eingefärbt und ihr auf den Kopf gesetzt. Dazu stilsicher: Leopardenprint- Oberteil, passender Gürtel, weiße Lederhose. Stiefel über der Hose. Oma sitzt auf dem Rollator, regungslos, Honecker-Brille, kein Retromodell.
Mutti kommt vom Fast-Food-Schalter. Auf den Tüten in der Hand steht Happy Meal, in ihrem Gesicht das Gegenteil. Oma wollte nur Pommes, keine Bulette. Ihr Blick sagt: Was habe ich bloß falsch gemacht? Mutti lädt den Weltfrust generationsübergreifend auf den Jungen ab: Finger weg, gegessen wird zu Hause. Und da geht’s jetzt hin.
Mutti bodychecked eine Schneise in die Polonaise. Oma hinterher: Sehen Sie nicht, dass ich behindert bin? Der Bronx-Junge fingert am Happy Meal. Und Mutti hat die Schnauze voll. "Schluss jetzt. Sonst war’s das mit Happy Meal." Die Drohung wirkt. Der Junge schmollt. Und die Polonaise sortiert sich neu.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.04.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Rausschmeißer

Samstagabend im Sandmann, Reuterkiez. Vom Tisch rechts neben der Tür hat man den besten Blick auf diese Weltklassekneipe. Ein schöner Dreischritt: Vorne am Tresen das menschliche Thekeninventar über 60 neben ein paar normalen Stammgästen unter 60. Im Zwischenraum die Hipster. Und im Billard raum das in sich geschlossene Biotop aus Kiffern und Kneipensportlern.
Nur einer schwebt an diesem Abend durch die Zonen. Sein Auftreten: eine Mischung aus Jimmy Page und Jerry García mit einer Prise Rainer Langhans. Graue Mähne, Bart, viel zu weit aufgeknöpftes Hemd, Hippie- Amulett um den Hals. Er geistert durch die Räume, sucht Blickkontakt. Wer den zu lange erwidert, bekommt Lebensweisheiten.
Er wirkt selbst hier, wo die Zeit, so gut es geht, angehalten wird, wie aus ihr herausgefallen. Ein Guru ohne Gläubige. Ein Mann ohne Mission. Bis irgendeiner ausfällig wird. Die Bardame zetert, der Guru kommt ungefragt zur Hilfe. Besänftigt, streicht mit seinen Gitarristenhänden dem Aufgebrachten über die Schulter. Er nimmt den Mann, der ihn um ein paar Köpfe überragt, an die Hand und führt in aus der Kneipe. Ein paar Minuten später kommt er wieder rein, blickt sich um, sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat seine Bestimmung gefunden. Mit dem Belohnungs- Weizen mäandert er wieder im Raum zwischen Theke und Tischen. Der Guru hat seinen Platz gefunden. Er ist jetzt Rausschmeißer.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.03.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Finger in die Wunde

Freitagabend in den Sophiensälen. Im ersten Stock laufen auf Flatscreens Erfahrungsberichte von Menschen, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Es geht um Sex, Vitrinen, Blut. Eine ganz normale Kunstausstellung an einem beliebigen Freitag. So ganz habe ich den Sinn noch nicht erfasst, da finde ich mich schon auf einer Liege wieder. Die brüchige Decke anstarren, während mir eine Wunde an den Hals geschminkt wird und sich Performer mit grünen Haaren und John-Lennon-Gedächtnisbrillen über mich beugen. Eine Art Vorspiel zum Aliensex?
Was in den Wänden der Sophiensäle normal erscheint, ist ein paar Stunden später in der U 8 ab Weinmeisterstraße eine Attraktion. Nur habe ich durch den ganzen Kunstkram und anschließenden Biergenuss völlig verdrängt, dass ich den Hals offen habe. Der Platz neben mir bleibt frei. Besorgte Blicke, Getuschel. Hä, warum eigentlich? Unangenehm! Ausstieg am Hermannplatz. Vor mir teilt sich die hineindrängende Menschenmenge. Dann die Spiegelung in der Scheibe des U-Bahn- Bäckers. Verdammt, was ist das denn? Ich fasse in die Wunde, Kunstblut am Finger. Die Leute umkurven mich großräumig. "Guck dir den besoffenen Spasti an", sagt einer. "Das ist Kunst!", rufe ich, Blut an Hals und Finger, und sehe damit ziemlich genau so aus, wie der Typ gesagt hat, völlig am Ende. Kunst, denke ich, du bockiges Pferd der Uneindeutigkeit. Für dich ist kein Raum hier am Hermannplatz.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.09.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Angelo

Freitagabend, kurz nach elf, Neukölln. Vor der Haustür steht ein Pärchen. Ich nicke zum Gruß, schließe die Tür auf, da tritt der Mann an mich heran. "Angelo?" Nö, sage ich, will weiter. Seine Hand an meinem Arm. Wo wohnst du? Hinterhaus. Welcher Stock? Vierter. Kennst du den Mann aus dem dritten Stock? Nein. Das Pärchen schaut mich ungläubig an. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Von einem Rennrad, im Internet gekauft, das sich als Schrott entpuppte. Jetzt wollen sie ihr Geld zurück, die Spur führt in mein Haus, zu Angelo. Das tut mir zwar leid, nur helfen kann ich nicht. Abgang. Im Hinterhof schließe ich mein Rad ab, da steht das Pärchen plötzlich auch dort, hinter mir durch die Haustür geschlüpft. Sie lächeln mich an. Was macht ihr hier? Wir checken nur die Lichter. Welche Lichter? Deine. Ich bin nicht Angelo, verdammt, ich heiße Dominik. Vorbei an den beiden gehe ich ins Haus, hinter mir höre ich Schritte, ich schaue hinunter. Das Paar kommt mir nach. Ich bin nicht Angelo, rufe ich. Gehe schneller, nehme jetzt zwei Stufen auf einmal. Keine Antwort. Ich schwitze. Stoisch stampfen sie auf den Stufen unter mir. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Panik kommt mir lächerlich vor. Aus dem Fenster der Blick in den Innenhof. Das Pärchen geht, na endlich. Da kommt jemand. "Angelo?", höre ich die beiden fragen. "Ihr schon wieder", sagt der Nachbar, "verpisst euch endlich." Dann geht er ins Haus. Unter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Huphass

Dienstagmittag, Hermannstraße, Ecke Flughafenstraße. Mit dem Fahrtwind auf dem Rad ging es gerade noch, jetzt aber, an der Kreuzung stehend, sengt die Sonne das Hirn zu Brei. Es wird grün. Und es hupt. Quäkend, nervig, aggressiv. Je wärmer es wird, desto häufiger hupt es auf Berlins Straßen. Der Freundin neben mir schwillt die Ader, 47 Kilo Wut klingt nicht nach viel, kann sich aber zu einem Tsunami der Verachtung hochschaukeln. Die Welle rollt, ich surfe mit auf dem Hasskamm. Also los, in die Pedale treten, dem hupenden Rollerfahrer nach. An der nächsten Kreuzung Dampf ablassen. Die Freundin: "Ey, hup mich nicht an, klar?" Der Rollerfahrer: "Ihr könnt mich mal!" Ich: "Du kannst uns mal!" Es wird grün, der Roller ab, hupend. Eine Schweißperle rinnt durch die Hassstirnfalten der Freundin. Nächste Ampel, nächste Konfrontation. "Das ist so asozial, was du da machst!" Es wird grün. Zum Abschied Stinkefinger aller Beteiligten. Wir biegen links ab in die Reuterstraße, der Roller ebenfalls. Vor meinem Haus halten wir, alle drei. Der Rollerfahrer steigt ab, guckt. Lacht. Und kommt auf uns zu. "Hallo Nachbarn! Tschuldigung, bin eigentlich nicht so aggressiv. Und selbst auch Radfahrer." Die Anonymität der Großstadt, in der Nachbarschaft nur die unmittelbarste Möglichkeit der Ignoranz bedeutet, sie löst sich gerade in Wohlwollen auf. Händeschütteln statt Stinkefinger. Grinsen statt Fluchen. Die Schweißperle auf der Stirn meiner Freundin rollt von der Hassfalte in die Lachfalte.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Durst

Samstagmittag, Wannsee, heißester Tag seit immer. Vorbei am Stadtbad zum richtigen See, Natur, unberührt. Denkste! Überall Badetücher, auf den meisten Menschen mit Bier. Sonnenbrandmotive zum Tribal auf dem Arm. Nicht mal ins Wasser kann ich flüchten, habe meine Badehose vergessen, und FKK ist nichts für meine Mutti ihren Jungen. Spaziergang also, die Gegend erkunden. Jede Einbuchtung besetzt, Handtücher als Grenze. Nach einer halben Stunde merke ich: Ich habe meine Wasserflasche vergessen. Der Wannsee ist an diesem Tag dicht wie Berufstrinker am Tresen, ein Geschäft hat aber noch niemand daraus gemacht. Kein Verkaufsstand weit und breit. Dafür ein kleines Häuschen am Wald, DLRG-Headquarter, auf der Terrasse Menschen beim Grillen. Habt ihr vielleicht ein wenig Wasser für mich? Nö, sagt einer und trinkt einen Schluck. Aber am Segelklub gibt’s was. Ab zu den Booten, durch ein Eisentor mit der Aufschrift "Nur für Mitglieder" zu einem Hausboot. Der Mann hinterm Tresen ist überrascht, jemanden zu sehen, im Kühlschrank Getränke satt. Drei Flaschen unterm Arm durch die Bucht zurück, vorbei an tausenden Sonnenanbetern. Jeder zweite fragt, woher ich die Getränke habe. Ich deute aufs Hausboot. Am Ende der Bucht drehe ich mich um. Der Steg zum Tor bevölkert von einer Horde Durstiger. Eben noch wie tot auf dem Badetuch, bewegt sich die träge Masse jetzt auf das Hausboot zu. Die Zombies vom Wannsee.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.07.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
B-U-L-L-E

Donnerstagabend, Karl-Marx-Straße, vor dem Spätkauf "Night Shop 44". Zwei Polizisten in Hundertschaft-Montur, Feierabend, endlich. Die Haare verschwitzt, den Helm in der linken Hand, rechts eine Zigarette. Neben den Neuköllner Nachtaktiven in zu kurzen Hosen sehen die beiden aus wie Robocops. Sehr müde Robocops. Hundertschaft, Scheißjob, einer muss ihn ja machen. Auftritt schwarzer Benz, schönes Auto, will gehört und gesehen werden. Vor dem Späti alle Parkplätze besetzt. Zweite Reihe parken ist Berliner Gesetz. Warnblinker an, Beifahrer springt raus, an den Polizisten vorbei. Die Miene unter den verschwitzten Haaren des einen Polizisten verfinstert sich. Er beugt sich runter, schaut durchs Seitenfenster den Fahrer an: "Du kannst hier nicht parken." "Komm schon, Bruder, ich bin gleich wieder weg." Der Polizist türkischstämmig, der Zweite- Reihe-Parker ebenfalls. Tiefer Zug an der Zigarette, funkelnde Augen: "Verdammt, ich bin nicht dein Bruder, nur weil ich ein Schwarzkopf bin. Ich bin ein Bulle, checkst du das? B-U-L-L-E!" Der Fahrer duckt sich weg, der rauchende Robocop sieht ihm fest in die Augen. Zwei stumme Sekunden vergehen, dann hebt der Fahrer die Hand: "Entschuldige, kommt nicht wieder vor." Er legt den Gang ein und ab. Der Beifahrer kommt mit Cola und Kippen aus dem Späti, sucht das Auto, sein Blick bleibt an dem Polizisten hängen. "Ich bin Bulle, verdammt." Das musste raus. Feierabend, jetzt aber, endlich.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.06.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kaboom

Samstagabend, Schöneberg, auf ein Bier in die Möwe. Einmetersechzig holzvertäfelte Heimeligkeit. Drucke vom Hamburger Hafen. Eine Möwe, überlebensgroß, hängt von der Decke. Zum Bier gibt es den passenden Bierdeckel. Ein Platz zum Verweilen. Nur zum Rauchen muss man raus. Ich schlängele ich mich am Treseninventar vorbei in Richtung Ausgang. Schon leicht angezündet kann ich mein Feuer nicht finden. Vor der Tür eine kleine Menschentraube, da wird schon einer dabei sein. Der da mit dem Hut vielleicht. Wer Hut trägt, der raucht auch. Entschuldigung, hast du Feuer? Der Hut dreht sich um. Zuckt mit der Nase, sein ganzes Gesicht runzelt. Oh Gott! Helge Schneider! Jugendheld und Quatschvorbild. Neben ihm Sergej Gleithmann, der Pina Bausch des deutschen Jazztanzes, Riesenbart zur Halbglatze. Ich merke, wie sich mein Gesicht zu einer grenzdebilen Maske verzieht. Feu-er? Ich stottere. Helge greift in die Hosentasche, zieht seine Hand hervor und lässt den Daumen hochschnellen. "Kaboom", sagt er. Vor mir sein Finger, nur sein Finger. Tu es nicht, denke ich noch, als ich mich, Kippe im Mund, zu Helges imaginärem Feuerzeug hinabbeuge und an meiner Zigarette sauge. Es dauert ein paar Sekunden, bis Helge den Daumen zurückzieht. Bitte schön. Danke, Helge. Und dann verschwinden sie in die Nacht, er und Sergej. Ich schaue ihnen nach, dem Hut und dem Bart, die Zigarette unangezündet zwischen den Lippen. Jemand tippt mich an: Hast du mal Feuer?
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.03.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Laus Kinskis Katze

Freitagabend, 19 Uhr, Karl-Marx-Straße. Feierabendverkehr trifft auf Biervorratskäufer, Vorglüher auf Kleinfamiliengroßeinkäufer. Ein Pulverfass. Ich ziehe einen Koffer mit kaputten Rollen über das Kopfsteinpflaster, sehe also aus wie der Neu-Berliner/Tourist, der den Kiez kaputtmachen will. Die Neuköllner danken es mir mit Verachtung. Ganz anders die Reaktion auf meine Begleitung, Künstlername Laus Kinski, die mich davon überzeugt hat, ihr beim Umzug in ihr neues Atelier zu helfen. Mit der Bahn am Freitagabend. Ihre Katze Motte trägt sie wie ein Baby vor die Brust geschnallt. Alter, wie süß!
Mit der U7 runter zum Ring. Beim Ausstieg trifft der Rollkoffer versehentlich das Schienbein eines Schlechtgelaunten. Seine Fratze der rechtmäßigen Empörung verwandelt sich sofort in ein grenzdebiles Grinsen, als er Laus Kinski und Motte erblickt. Innehalten, Katze streicheln, Babylaute imitieren. Alles vergeben und vergessen. Mit der S46 nach Schöneweide. Jugendliche mit Ghettoblastern und Wodka- Energy-Mischungen. Hasserfüllte Blicke auf den Rollkoffer, früh gelernt. Dann miaut Motte. "Alter, wie süß!"
Diese Katze, da bin ich mir sicher, sollte bei den nächsten Verhandlungen im Ukraine-Konflikt um den Tisch streunen. Eine Schale Milch auf den Boden, schnurren lassen, fertig. Wer den Rollkoffer- Konflikt auf Berliner Straßen befrieden kann, der schafft alles.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 03.01.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
"Och ..."

Niemetzstraße Ecke Saalestraße, Neuköllner Diaspora nahe dem S- Bahnhof Sonnenallee. Die Kneipe an der Ecke mit Leuchtschriftzug: Tiefpunkt. Ein Schnaps: ein Euro. Davor auf der Straße eine Couch. Durchgesessen und durchnässt. Die Trostlosigkeit des Berliner Winters als Stillleben. Doch was zählt, sind die inneren Werte. Rein in die Kneipe gegenüber vom Tiefpunkt. Um die Theke herum eine Traube Ganztagstrinker mit Raucherfahrung. Prösterken, auf uns.
Die Kälte da draußen und die Angezündeten im Innern, getrennt nur durch eine Scheibe. Doch dann, für einen Moment, berühren sich beide Welten. Torsten, Schnitzelhände zur Nassrasur, regt sich auf. Urplötzlich, keiner weiß, warum. Er zetert, dann ein schlimmes F-Wort. Stille. Gaby, gerade noch Herzbardame, findet das nicht gut. Raus, brüllt sie. Torstens leerer Blick füllt sich mit Unverständnis. Das darf man doch wohl noch sagen. Der Unsatz des Jahres 2014. Es hilft nichts. Torsten muss weg, da sind sich alle einig. Er tritt vor den Stehtisch - ein Baum von einem Mann kurz vor der Rodung. Die Schnitzelhände jetzt vor dem Körper, zur Ruhe mahnend. Ein Geistesblitz durchzuckt den glasigen Blick. Okay, sagt Thorsten, dann sag ich eben Fötzchen. Stille, Blick auf Gaby. Die kippt Klares. Lacht. Och, sagt sie, das find ich jut. Prösterken, auf uns, diesen Moment. Mach ruhig noch einen Kurzen zum Bier. Gegen die Welt da draußen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 04.10.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
100 000 nackte Jungs

Sonntagvormittag, Neukölln, Reuterstraße. Das Grau des Eckhauses geht nahtlos in den Himmel über. Zu viel Beton, zu wenig Liebe. Es gibt Sonntage, an denen man lieber zu Hause bleiben sollte. Jetzt kämpft das verkaterte Gemüt gegen die Realität. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht eine Frau, Mitte 40 vielleicht, die kurzen Haare liegen schlaff auf dem Schädel. Sie steht an der Fußgängerampel, wartet wohl, dass es grün wird. Sie zieht ihren rechten Schuh aus, dann den Socken, steht da mit einem beschuhten Fuß und einem nackten. Die Ampel springt auf grün, doch die Frau geht nicht, sondern vollendet ihr Werk. Linken Schuh ausziehen, Socken hineinstecken. Es wird rot, es wird grün. Ich stehe einfach nur da, die Frau kommt auf mich zu, visiert mich an. Dann sagt sie: "Ich habe schon 100 000 Jungs nackt gesehen. Herzlichen Glückwunsch." Sie geht, nackte Füße auf nacktem Asphalt, an mir vorbei und weiter den Gehsteig entlang. Dabei habe ich noch so viele Fragen. Alles an diesen beiden Sätzen fasziniert mich. Allein die Zahl. 100 000! Wie viele Jungs sind das wohl pro Jahr? Rechnet man es aus, kommt man auf 2222. Sechs pro Tag, wenn man die Dame mit den nackten Füßen auf 45 Jahre schätzt. Was aber sollte das mit dem Glückwunsch? Bin ich einer von ihnen? Eine junge Frau kommt auf mich zu, schaut mich an - und lacht. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, dass mein Hosenstall offen steht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.08.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Capri-Sonne

Samstagabend in einem Späti auf der Karl-Marx-Straße. Der Laden stinkt, gestern Nacht hat einer vor die Theke gekotzt. "Hab schon gewischt", sagt der Besitzer, dauert jetzt ein paar Tage, war ziemlich viel, kann man nichts machen. Ein junger Mann kommt herein, barfuß, Wuschelkopf zum Flaumbart, er kauft Zigaretten und Bier. Sein Blick fällt auf die Capri-Sonne neben der Theke. Orange, der Klassiker. Er greift zu, der Verkäufer lacht. Was denn so witzig sei, fragt der Wuschelkopf. Nichts, sagt der Spätiverkäufer und schüttelt den Kopf. Als der Kunde gegangen ist, nimmt der Verkäufer eine Capri-Sonne in die Hand. "Früher haben die sich hier wahnsinnig gut verkauft. Das war das Einzige, mit dem man Tili runterspülen konnte." Tili, kurz für Tilidin, ist ein Schmerzmittel, das bei vielen jungen Türken in Neukölln sehr beliebt war. Es hieß, dass man davon aggressiv würde. Stimmt nicht, sagt der Verkäufer. Es war beliebt, weil es wenig kostete und man in Prügeleien keine Schmerzen mehr spürte, wenn einen die Faust des Gegners traf. Das einzige Problem war der Geschmack. Tilidin ist extrem bitter, wirklich widerlich. Aber in einem Päckchen Capri-Sonne sind sechseinhalb Stücke Würfelzucker enthalten, mehr als in Fanta. Genug, um den Geschmack von Tilidin zu mildern. Seit Anfang 2013 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz, der Straßenpreis ist in die Höhe geschossen. Und der Verkauf von Capri-Sonne abgesackt.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 31.05.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Landeier unter sich

U-Bahnhof Alexanderplatz, Mittwochabend, Warten auf die U5 Richtung Hönow. Auf dem Gleis gegenüber hält ein offener Wagen, Menschen mit gelben Helmen applaudieren. Endstation der Tour im U-Bahn-Cabrio durch Berlins Unterwelt.
Eine Gruppe Touristen jenseits der sechzig steigt aus, Helme ab. Drei Frauen in Steppjacke und kleinem Lederrucksack, die Männer passend in beige-grauem Altherren-Understatement. Die Frauen fragen: "Ist das hier richtig, Richtung Hönow?" Die abgeklärten Großstadtzwanziger am Gleis nicken. Die alten Herren sagen: "Hab ich doch gesagt." Szenen dreier Ehen. Alles klar also? Mitnichten. Eine will nicht. "Das ist falsch hier, das weiß ich, ich war mal hier." "Wenn du nicht mitkommst, Petra, dann bleibst du hier." Die Bahn fährt ein, Petra immer noch in Opposition: Nee, ist falsch. Drei Herren und zwei Damen in der Bahn, Petra davor, standhaft. Nein, nein, nein.
Die Gruppe wird nervös. Die Frage ans Abteil: "Ist das richtig hier, Richtung Hönow?" Gelächter, Überheblichkeit. Petra steigt ein, unter Protest. Die Stimme aus dem Off: "Richtung Hönow, bitte einsteigen." Erleichterung. Dann Petra an alle: "Entschuldigung, so ist das, wenn Landeier in der Großstadt sind." Das sitzt. Kein Gelächter mehr, die Köpfe werden eingezogen, ein paar sogar rot. Ein Abteil voller zugezogener Landeier aus Bottrop und Bielefeld, gerade noch so cool, schämt sich jetzt. Nur Petra lacht. Sehr laut.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.03.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Tok, tok, tok

Kottbusser Damm, an einem Sonntagvormittag. Erste Radtour nach dem Winter, der keiner war. Ein Krankenwagen drängt sich vorbei, reiht sich ein in eine Blaulichtkolonne, die am Kottbusser Tor unter einer Ampel endet. Fünf Meter darüber, auf einem Vorfahrtsschild, steht eine Frau, etwa dreißig, recht schlank und sehr nackt. Bekleidet nur mit einem Hammer in der Rechten. Ein Polizist, Kopf nach oben gereckt, in der Nackenfalte reflektiert der Schweißfilm. "Kommen Sie runter?", fragt er. Die Antwort von oben: Tok, tok, tok.
Mit dem Hammer schlägt sie auf die Ampel. Die Menschentraube hat die Smartphones justiert. Und wieder: Tok, tok, tok. Als wolle sie sagen: Die Ampel muss weg! Zwei Berufstrinker nicken anerkennend: "Nicht schlecht." Darauf ein Sterni.
Es kracht, ein Wohnmobil, Kennzeichen HSK, ist in einen Berliner Twingo gefahren. Die Beifahrerin, Mitte 60, schimpft mit dem Gatten. "Wo du wieder deine Augen hast." Von oben strahlt weiterhin der weiße Protest-Po. Wofür oder wogegen sich der Protest - um einen solchen handelt es sich doch wohl - richtet, bleibt unklar. Aber solange sie da oben steht, im Kreisverkehr, hat sie nicht verloren. Eine Art Viktoria, die Goldelse in Weiß, eine Kreuzberger Variante der Siegessäule. Die Nackte hämmert weiter auf die Ampel ein, dem Polizisten rinnt der Schweiß ins Hemd. Alle Fotos sind gemacht, das Bier ausgetrunken. Ein Sonntagvormittag am Kotti, der nackte Wahnsinn.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.02.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Sei Wedding!

Café Barrikade, Ecke Pankstraße. Aus den Boxen plärrt Punk, die Scheiben beschlagen. Trinker am Tresen, Studenten hinter der Süddeutschen. Im Hinterzimmer Kicker und Billard. Das Schild mit der durchgestrichenen Marihuanapflanze verschwindet im Kiffer-Qualm. Auf dem einzigen Stuhl sitzt einer, der mit Härterem zu kämpfen hat. Zittert, schwitzt und friert. Daneben steht sein Kollege mit Riesenjoint, erzählt, was falsch läuft in der Welt. Das Zittern des anderen scheint Bestätigung genug.
Am Kicker lehnt mein Freund, nennen wir ihn L. Er ist Weddinger und macht das öfter: lädt mich ein, um mir seine Welt zu erklären. Seine Welt: Wedding. Der Wedding bleibt hart, der Wedding bleibt rot. So geht das immer. Gerade hat L. Fahrt aufgenommen, da platzt der Riesenjoint in den Monolog. "Wollt ihr ein Handy kaufen? Hab’ ich über." Er zieht ein altes Sony Ericsson aus seiner Brusttasche. Wir verneinen. "Gebt ihr mir ein Bier aus?" Ich halte ihm meins hin, hoffe, dass er ablehnt. Er greift zu. Ob wir auch eine Zigarette hätten, fragt er. L. hält ihm den Tabak hin. Der Typ schaut auf das Bier in der einen Hand, den Joint in der anderen. L. dreht ihm eine. Das eben angebotene Handy klingelt. Der Typ geht ran, nimmt die Zigarette und geht ab. "Sorry Jungs." Am Tresen trinkt er mein Bier aus, raucht die Kippe von L. und brüllt Beleidigungen gegen Hertha und die Welt ins Handy. Wedding bleibt Wedding.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.12.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Endlich zuhause

Aus dem Hamburger Exil zurück in Berlin. Heimatgefühle, endlich wieder offene Pöbeleien statt hanseatischer Ignoranz. Ankunft am Südkreuz. Die Ringbahn natürlich verspätet, ich beschwere mich am Schalter. Auch noch am falschen, dem von der Deutschen Bahn. Sichere Nummer, bestimmt werde ich angeschnauzt, wie sonst im Bus, wenn ich eine Einzelfahrkarte mit einem Zwanziger bezahlen will. Der Mann am Schalter schaut auf, hebt die Hände und dann - Überraschung! Er entschuldigt sich. Was ist hier los? Soll ich ihn für das schlechte Wetter verantwortlich machen? Die Bahn kommt, ich lasse die anderen Fahrgäste nicht aussteigen, drängle mich als Erster hinein. Jetzt aber, denke ich, volle Berliner Breitseite, ich bin bereit. Doch nichts geschieht. Die Bahn ist voll, kaum ein Platz frei. Trotzdem stelle ich meine Tasche auf den Nachbarsitz. Ein Arbeiter steigt zu, sieht den fast freien Platz neben mir. Er bleibt stehen, kein Wort. Verdammt, denke ich, was soll ich denn noch machen? Einfahrt S-Bahnhof Sonnenallee. Aus dem Fenster sehe ich den Dönerladen, die S-Bahn-Klause. Die Türen gehen auf. Direkt vor mir ein schon ordentlich angezündeter Obdachloser. Als ich aussteige, glotzt er mich an, wie den Typen, der ihm das letzte Sterni vor der Nase weggekauft hat. Er holt tief Luft und brüllt los: "Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mir gerade noch gefehlt. Wichser!" Endlich, denke ich, endlich zuhause.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 12.10.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ungleicher Kampf

Alt-Neukölln gegen Neu-Neukölln vor den Arcaden an der Karl-Marx- Straße. Ein junger Mann, knapp zwei Meter lang - mit Hipster-Insignien: Tight-Jeans zu zu tief Ausgeschnittenem, Bart und Jutebeutel - steht an der Ampel. Ein Mann, etwa 40, Typ Malocher, verschwitzt, Filterlose im Mundwinkel, rennt auf ihn zu: "Verdammt, du Hurensohn, ich hab gesagt, geh da weg!" Der Akzent: osteuropäisch. Der Auslöser für den Streit: ungewiss. Gewiss nur, dass es hier gleich knallt, und zwar richtig. Der Alt-Neuköllner packt den Neu-Neuköllner am Kragen. Er muss hochschauen, zwei Kopflängen trennen die beiden Männer. Der Alte schlägt aufwärts, dem Jungen mit offener Hand ins Gesicht. Der Junge, perplex, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Nichts in seinem Leben in, sagen wir, der ostwestfälischen Provinz scheint ihn darauf vorbereitet zu haben, hier am helllichten Tag auf die Schnauze zu kriegen. Das hier ist keine Klopperei mit dem Jan-Lennart, damals, im Herforder Kindergarten, Ende der 80er. Keine Gewalt, das merkt er jetzt, während die Schellen auf ihn einprasseln, ist auch keine Lösung, zumindest nicht sofort. Aber er steht es durch, stoisch, bis der Alte von ihm ablässt. Der Neu-Neuköllner geht weg. Schaut sich noch einmal um. Ein paar Jahre noch, scheint sein Blick zu sagen, dann sind hier die letzten Wohnungen kernsaniert. Alt-Neukölln wird es dann nicht mehr geben.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.05.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zurückgeschissen

Mittwochabend, Neukölln, Rixdorf. "VoKü" steht mit Kreide auf der Tafel vor der linksalternativen Sperrmüllmöbelkneipe. Zwei Euro für eine warme Mahlzeit. Kartoffeln an Karotten-Paprika-Pampe. Die Bierbänke ächzen unter der Last der studentisch-alternativen Hinterteile. Platz findet lang nicht jeder. Die mampfende Masse säumt den Gehweg bis zur Galerie, die vor einiger Zeit zwei Häuser weiter aufgemacht hat. Im Fenster der Kneipe hängen Poster: "Homophobia kills", "Kein Ort für Nazis".
Gegenüber ein Seniorenheim. Rentner schauen durch gehäkelte Gardinen auf das junge Treiben. Eine alte Frau tritt heraus, den Dackel im Anschlag hinter sich herziehend. "Verdammt noch mal", brüllt sie, als sie sich an den Billig-Essern vorbeiquetscht, "wir müssen hier durch!"
Niemand rührt sich. Der Gesichtsausdruck der Frau rangiert irgendwo zwischen Verachtung und Hass, der Dackel schnappt nach einer Kartoffel. Sie gehen um die Ecke, ein paar Leute holen sich Nachschlag. Nach einigen Minuten kommt Frauchen samt Dackel zurück, gelassener jetzt, erleichtert, als sei ihr Plan aufgegangen. Ein Blick in die Straße, aus der sie kamen, und die Vorahnung wird Gewissheit: Ein frischer Haufen Hundescheiße thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Bürgersteig. Seit Mittwochabend, 21.30 Uhr, wird zurückgeschissen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.04.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Fenster zum Hof

Neukölln, vierter Stock, Vorderhaus, Blick nach hinten raus. Zwischen vier Häuserwänden - zu viel Beton, zu wenig drüber - erwacht das, was man nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Frühling. Ein Blick aufs Thermometer, neun Grad. Alles über null Grad ist Frühling. Berlin war lange eine geteilte Stadt, ist es noch heute. Nicht mehr durch eine Mauer, doch durch die Jahreszeiten. Im Winter ist alles DDR, Plattenbau und grau. Im Sommer supergeil, Party und Spree.
Also, Fenster auf, Frühling rein, Winterdepression raus. Die von gegenüber hatten die gleiche Idee. Musik ertönt. Bonnie Tylers "Total Eclipse of the Heart". Die aus dem zweiten Stockwerk schießen zurück. Drum and Bass. Zwischen zwei wummernden Basssalven schmalzt Bonnie Tyler: "And I need you now tonight / And I need you more than ever!" Irgendwo brüllt ein Kind. Im Hinterhof verliert eine Bierflasche den Kampf gegen die Betonwand.
"Schnauze", brüllt einer in den Soundteppich. Der Bonnie-Tyler-Fan schreit zurück. "Halt’s Maul!" Jetzt kommt mir allmählich die Erinnerung. Frühling in Berlin, das bedeutet Kampf. Kampf um den öffentlichen Raum. Kampf um die Musikhoheit im Hinterhof. Bonnie Tyler bäumt sich ein letztes Mal auf: "But now there’s only love in the dark / nothing I can say / a total eclipse of the heart." Ich schließe das Fenster, ziehe die Vorhänge zu. In sechs Monaten, denke ich, ist der Spuk wieder vorbei.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 23.02.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Total ausgerastet

Donnerstagmorgen, 9 Uhr, krachendes Erwachen. Trillerpfeife, Megafon, Sirene. Ein Blick aus dem Fenster - Kreuzberg: Lausitzer, Ecke Wiener Straße - und die Gewissheit: Demo. Auf beiden Seiten der Absperrung die Krieger für die Schlacht gerüstet. Und ich will nur nach Hause, nach Neukölln, Rixdorf. Vom Kottbusser Tor mit der U8 zum Hermannplatz, dann den 41er. Jetzt aber: Rein ins Getümmel.
Aus dem schwarzen Block hört man etwas von Scheiß-Gentrifizierung, Steine fliegen nicht, nur eine kleine Wodkaflasche. Angeheitert schmeißt sich’s besser. Die Passanten retten sich mit mir in die U-Bahn. Hermannplatz, Umsteigen. Zwei junge Studentinnen haben den gleichen Weg. Die eine zückt ihr Handy. "Ja, war krass", sagt sie ins Telefon. "Die Bullen sind total ausgerastet, ohne Grund, Tränengas und alles." Die Freundin nickt stumm. Bestätigung. Dass die Demo da gerade wirklich krass war. Und sie mittendrin.
"Hast du mich im Fernsehen gesehen?", fragt sie ins Handy. "Ich habe mich extra auf eine Säule gestellt." Nee? Na ja, schade. Themawechsel, irgendwie. Sie, die Freundin am Telefon, müsse unbedingt mal die neue Wohnung anschauen. Ein Zimmer, Nähe Weserstraße, nicht ganz billig, 400 Euro, aber "so, so schön". Mit abgezogenen Dielen. Total toll.
Schade eigentlich, denke ich, dass ich die Wodkaflasche nicht aufgehoben habe. Ich hätte jetzt so gerne etwas, um es zu schmeißen.

Dominik Drutschmann

Erschienen am: 14.12.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
KEIN DÖNER LAND IN DIESER ZEIT

Neukölln an einem Donnerstagvormittag. Der Lidl an der Ecke Flughafenstraße hat sich hübsch gemacht. Wiedereröffnung. Sogar der Security-Typ strahlt. Einkaufen war dort auch früher ein Erlebnis. Vielleicht wird es jetzt ein erfreuliches. Also rein und staunen. Gut ausgeleuchtete Discounter-Südfrüchte, dazu vegetarische Burger-Pattys aus Eigenproduktion, hinten links die Deluxe-Produkte-Ecke. Von dort droht jetzt Ärger im neuen Einzelhandelsparadies. Eine Mutter, Hidschab und Hackenporsche, zerrt ihre Tochter, vielleicht zwölf Jahre alt, in Richtung Ausgang. Die aber stockt in ihrer Empörung. Sie packt den angefangenen Döner in die Alufolie, als ob sie versuchen würde, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Mutter zerrt, die Tochter klagt: „Seit wann darf man in Lidl kein Döner essen?“ Und dann: „Ist Lidl jetzt High Society oder was?“ Die Umstehenden: vereint im Lachen über die rechtschaffene Empörung, über die Absurdität des schönen Schein. Komik war immer schon das schärfste Schwert der Unterdrückten. Und auch im neuen Glanz des Lidl funktioniert es. „Ach komm“, sagt die Verkäuferin zum Mädchen, „iss deinen Döner“.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.09.2019 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Erde so frisch

Dienstagnacht im Sandmann in Neukölln. Hinten ist schon das Licht aus. Das ist jetzt wirklich das letzte Glas. Zum Abschied holt die Bardame einen Flyer hervor, darauf der Hund, der immer im Eingangsbereich lag. Eine Traueranzeige. Der Hund ist tot. Vor der Kneipe, am Stamm der Weide, zwei in Plastikhüllen verpackte Fotos. Wieder der Hund, die Augen rot von Herrchens Fotoblitz.Irgendwer hat Blumen gepflanzt, die Erde ist noch frisch. Plötzlich steht eine Frau neben mir, Ende 50, lange Zigarette, Hund an der kurzen Leine. Bestürzung im faltigen Gesicht. „Das war doch der Spock“, sagt sie. „Wie bitte?“ „Das war der Hund von dem Mann, der da immer am Tresen saß. Und jetzt tot.“ Sie beginnt zu schluchzen, „schlimm ist das“. „Aber der Mann lebt noch“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ja“, sagt sie, die Tränen laufen, „aber das ist immer so: Erst Hund, dann Herrchen. Das dauert nicht mehr lange. Und dann ist der auch tot – schlimm ist das.“ Wie verweilen einen Augenblick, schauen stumm auf die Weide, auf die Fotos in den Plastikhüllen, die frischen Blumen. „Aber Ihrem Hund geht's gut?“, frage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und sagt nur ein Wort: „Krebs.“
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ordnungshüter

Ein Montagmittag an der Kreuzung Hermannplatz. Die Linksabbieger sind durch, die Autos auf der Hermannstraße stehen noch wenige Sekunden. Ein Mann um die vierzig, offener Mantel, fettiges Haar, überquert die Straße bei Rot. Was er nicht gesehen hat: dass hinter ihm ein Polizist in Hundertschaft-Kampfmontur steht. Dieser ruft ihm hinterher: Hallo! Keine Reaktion. Da überquert der Beamte nun ebenfalls die Straße, was er nicht gesehen hat: dass die Autos von der Hermannstraße jetzt Grün haben. Vollbremsung, Hupkonzert. Der Polizist hebt die Arme, als wolle er sagen: "Verdammt, ich mach hier nur meinen Job." Auf der anderen Straßenseite empfängt ihn eine junge Mutter mit Kinderwagen und Vorwürfen. "Sie sind ja ein tolles Vorbild." Ignorieren, weiter dem Rotgänger nach. Auf Höhe McDonald’s kann der Hüter der Ordnung ihn stellen. Er redet auf ihn ein, der ungewaschene Schopf nickt verständig. Was der Polizist dabei nicht sieht: dass er auf dem Radweg steht. Zwei Radfahrer halten auf ihn zu, klingeln und pöbeln. Der Polizist will hinterher, hat zu Fuß aber keine Chance, bricht nach wenigen Metern ab. Der Rotsünder hat sich indessen entfernt. Die Grünphase ist wieder vorbei, die Straße noch frei. Für einen Moment überlege ich, hinüberzugehen. Aber das will ich dem armen Mann nun wirklich nicht antun.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 14.04.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Imbisspolizei

Ein Mittwochnachmittag um halb fünf an der Hasenheide. Der verdammte Job hat länger gedauert, der Kollege und ich müssen jetzt dringend zu Mittag essen. Sonst ist die Laune im Keller. Bei Hamy, dem Vietnamesen, ist es übervoll, also zum Mitnehmen. "Können Sie bitte draußen warten?", fragt der Kellner. Eigentlich ungern, aber gut, jetzt nicht auch noch Streit anfangen. Stattdessen vor der Tür eine rauchen. Zwei Polizisten gehen an uns vorbei, direkt in den Imbiss. Die Zigarette ist noch nicht aufgeraucht, da kommen die beiden wieder heraus, in der Hand eine Plastiktüte mit Essen. "Entschuldigung", rufe ich ihnen hinterher, "aber haben Sie vorbestellt?" Nein, sagen sie, hätten sie nicht, das sei ganz schnell gegangen. Kippe aus und rein in den Laden. "Werden Bullen hier bevorzugt oder was?" Der Mitarbeiter schaut erst mich an, dann auf seinen Zettel - und wieder hoch. Ich will gerade erneut ansetzen, da rennt der Kellner an mir vorbei auf die Straße. Ich hinterher. Der Polizeiwagen ist gerade am Ausparken, der Kellner klopft an die Scheibe, die Tür öffnet sich, und er entwendet den Beamten das Essen. Lachend kommt er zurück und drückt mir die Tüte in die Hand. "So geht’s ja nicht", sagt er und geht wieder in seinen Laden. Das Polizeiauto passiert uns, die Gesichter im Innern sehen hungrig aus.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 24.03.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kann bassieren

Ein früher Dienstagnachmittag. Das Visum für Russland liegt zwar bereit, erfahre ich am Telefon, aber für heute hat die Pass- und Visastelle in Mitte schon geschlossen. Morgen wieder, werde ich vertröstet. Das Problem: Ich bin viel zu spät dran, wie immer. Und schon morgen geht mein Flug. Nach minutenlangem Bitten und Betteln kommt der kulante Vorschlag: "Na, dann kommen Sie ausnahmsweise heute um 15 Uhr vorbei." Da stehe ich also vor der Glasscheibe und versuche der Dame am Empfang den Sachverhalt zu erklären. "Ich möchte meinen Pass abholen und soll in Zimmer 0.3.05 gehen." "Ich darf Sie nicht alleine durchs Gebäude gehen lassen", lautet die Antwort hinter der Scheibe. "Na, dann stellen Sie mir jemanden zu Seite", schlage ich vor. "Der war gut", sagt die Empfangsmitarbeiterin. Sie lächelt nicht, greift aber zum Telefonhörer. Warten. Nach etwa zwei Minuten eilt eine Frau auf uns zu, den Pass in der Hand. "Was soll das denn? Ich habe für soetwas keine Zeit", ärgert sich die Frau mit meinem Pass an die Scheibe gewandt. "Warum haben Sie den Mann nicht hochgeschickt?" Schulterzucken. Die Frau übergibt mir den Pass und geht ab. Die Dame hinter der Scheibe setzt zur Entschuldigung an. "Das tut mir leid", sagt sie. "Ich habe Bass verstanden. Und mich schon gewundert, wer hier Bass spielt."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 10.02.2018 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kopf in Wand

Samstagnachmittag, vierter Stock in einem Neuköllner Hinterhaus. Die zweite Halbzeit der Bundesligakonferenz läuft im Radio, da klingelt es an der Tür. Mutti hatte sich angekündigt. Aber jetzt schon? Wollte doch noch aufräumen, sonst macht sie sich nur wieder Sorgen. Schon klingelt es erneut. Tür auf und herein kommt das Chaos im Blaumann. Wasserschaden, bei der Nachbarin im Zweiten. Die Stimme laut, der Ton duldet keinen Widerspruch. Dass die verdammte Heizung dem Klempner den Samstag verhagelt, steht zwei Furchen tief in sein Gesicht geschrieben. Zehn Sekunden später balanciert er auf meinem Badewannenrand, eine Säge in der Hand. "Was machen Sie da?", frage ich. Die dritte Furche meißelt sich in sein Gesicht. "Ein Loch." Sagt er und sägt ein Rechteck in den Rigips. Aber es ist zu klein: Beim Versuch, seinen Kopf in die Wand zu stecken, bleibt er hängen. Sein Gesicht jetzt eine einzige Furche. Fluchen, nachjustieren, Kopf in die Wand. Er redet weiter, doch der Rigips verschluckt seine Worte. Kopf raus, runter in den zweiten Stock, wieder zurück, Kopf in die Wand. So geht das eine ganze Weile. Keine Ahnung, sagt er schließlich und geht. Das Bad ein Schlachtfeld, durch das Loch blickt man auf Mauerwerk. Es klingelt. In der Tür steht Mutti. "Wie sieht’s hier denn aus? Da ist ja ein Loch in der Wand! Junge, muss ich mir Sorgen machen?"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.11.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Haarige Angelegenheit

In der U8 von Osloer Straße bis Hermannplatz. Je südlicher, desto bärtiger, ab Kotti sind die Glattrasierten in der Minderheit. Zwei Jungs, nicht älter als zwölf, unterhalten sich auf Türkisch. Keine Ahnung, worum es geht. Aber dringlich ist es, zumindest für den einen. Dessen Stimme wird lauter, der Freund versucht ihn zu beruhigen und bewirkt doch eher das Gegenteil: Wut spült erste Tränen in die Augen. Der Freund fasst ihm an die Schulter, aber auch diese Berührung hilft nicht. Was hat er bloß? Die beiden diskutieren weiter. Wenn das eskaliert, sage ich zu mir selbst, werde ich dazwischengehen. Und wenn ich dafür bis zur Endhaltestelle Hermannstraße fahren muss. Nächster Halt Schönleinstraße. Vom Türkischen geht es über in eine Melange aus Landes- und Muttersprache. Jetzt hat auch der Besonnene die Schnauze voll: "Was ist denn dein Problem?" Der Freund wischt sich die Tränen aus den Augen, funkelt seinen Kumpel an, kommt ihm näher und näher, deutet dabei immer wieder auf sein Gesicht, als wolle er dem Gegenüber zeigen, wohin er gleich schlagen werde. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der beiden Streitenden. "Oglum", ruft er da, "ich habe den miesesten Bartwuchs meiner Familie." Kurzes Schweigen. "Selbst meine Mutter hat mehr." Der Freund klopft ihm auf die Schulter: "Wird schon."
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.10.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Brauchst du, Bruder?

Neukölln, Reuterstraße Ecke Karl-Marx-Straße, ein Sonntagabend. Die Tankstelle, sonntags zuverlässigste Adresse für Getränke-, Tabak- und sonstige Notversorgung, ist frisch renoviert, innen bestens ausgeleuchtet. Vor der Tür, abseits des Lichtkegels, der herausfällt, steht ein Mann, gepflegter Vollbart zu ausrasiertem Nacken, und betankt sein Auto. Aus dem Nichts erscheint ein weiterer, die Jacke flattert ein paar Nummern zu groß um seinen Körper. Er hat einen Karton unterm Arm. "Bruder, brauchst du Messer?" Vielleicht gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem das völlig normal ist, Fremde beim Tanken in einen Messerdeal verwickeln zu wollen. Dieser ist es nicht. "Ich will deine scheiß Messer nicht." Vielleicht ist der Mann aus der Dunkelheit Messerverkäufer, der diese Woche seine Quote nicht erreicht hat. Und jetzt noch diesen einen verdammten Karton verkaufen muss -
Messerset, zwölf Stück. Er zieht eines heraus. "Verpiss dich", sagt der andere und geht bezahlen. Der Verkäufer, das Messer noch in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet, schaut mich an. "Bruder, brauchst du Messer?" Ich muss lachen, fast hysterisch. Das erschreckt ihn so sehr, dass er zurückweicht. Instinktiv gehe ich einen Schritt auf ihn zu. Lache noch immer. Da dreht sich der Mann um, elf Messer unterm Arm, eins in der Hand, und rennt davon.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.04.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Hund

Samstagabend in einer Neuköllner Eckkneipe. Es ist noch nicht mal zehn Uhr, aber einige Gäste sind schon ordentlich angezündet. Im hinteren Teil feiert jemand Geburtstag, unangemeldet, die Kellner sind genervt. Im vorderen Teil tummeln sich ein paar Party-Touristen, die einmal zu oft aufs Klo gehen. Von all dem unbeeindruckt liegt in der Mitte des Raums ein Hund. Es heißt, dass sich Hunde in fremden Umgebungen immer den Platz aussuchen, von dem aus sie den besten Überblick haben. Ein Instinkt, der nicht totzuzüchten ist, offenbar steckt er selbst noch in diesem Exemplar Hund, einem Dackel mit Gewichtsproblemen, der wie eine Wurst aussieht, wenn auch eine sehr unförmige Wurst. Der Hund ruht unbewegt im Epizentrum des samstäglichen Kneipenerdbebens. Teilnahmslos auch dann noch, als ein Gast ihm beim Bierholen auf den Schwanz tritt. Hund zuckt nicht, Herrchen schon. Das ist mein Hund, sagt Herrchen. Der Treter ist perplex, nimmt den Dackel jetzt zum ersten Mal wahr, Ausfallschritt passend zur Ungläubigkeit. Sein Blick löst sich erst nach einigen Sekunden vom Hund, wandert hoch zum Herrchen, ein letztes Konzentrationsaufbegehren gegen das alkoholbedingte Wegdämmern, sein Mund formt Worte: "Was der Mensch aus dem Wolf gemacht hat", lallt er, "ist eine verdammte Tragödie!"
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.01.2017 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zigarettenlänge

An einem Freitagvormittag, Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Das Kind auf der anderen Straßenseite, nicht älter als vier, im Schneeanzug, ist gerade in sich zusammengefallen. Es kniet und schreit. Blick gen Himmel, die Nase läuft, Rotze droht an der Lippe festzufrieren. Der ganze Schmerz dieser Welt, vereint auf einem Meter Wohlstandsgör.
Was es hat? Man weiß es nicht. Was es sicher nicht bekommt: die Aufmerksamkeit seines Vaters. Der sitzt 50 Meter weiter im Tramwartehäuschen und raucht. Typ Waldschrat in Funktionskleidung. Doch es ist das falsche Pflaster für derlei Sorglosigkeiten in der Kindererziehung. Auftritt der Mütter. Erst auf den Jungen eingeredet, dann den Vater ins Verhör genommen. Ist das Ihr Kind? Nicken. Wollen Sie sich nicht um den kümmern? Zug an der Zigarette, Kopfschütteln. Empörung am Retro-Kinderwagen. Jetzt gerät der rauchende Vater ins Rotorblatt der Helikoptererziehung, manikürte Finger fuchteln vor seiner Nase.
Irgendwann ist auch mal gut, und das ist jetzt. Kippe weggeschnippt, aufgestanden, Ansage: "Geht mir nicht auf den Sack. Kümmert euch um euren eigenen Scheiß." Stille, auch das Kind hält inne. Die Mütter sehen so aus, als wollten sie sich irgendwo beschweren. Bloß wo? Bevor das ganze Eskalationspotenzial dieser Szene zum Tragen kommt, schlichtet das Kind: Es ist aufgestanden. Papa, komm, sagt es. Und Papa kommt. Manchmal braucht es nur eine Zigarettenlänge.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 17.09.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Die Ratte

Ein Dienstag in Kreuzberg. Am Hermannplatz, hinter dem Karstadt, verbindet ein Parkplatz die Urbanstraße mit der Hasenheide. Radfahrer und Fußgänger benutzen ihn als Abkürzung, zum Ärger der Autofahrer. Hinter der Schranke hupt jetzt einer, wie zum Beweis. Vor ihm steht ein Fußgänger, Anfang 20, in der Hand ein Handy, zwischen Opel und Skoda auf der Jagd nach Pikachu. Er spielt Pokémon Go.
Ich verachte sie ja, diese nach dem Mauerfall Geborenen, die als Reminiszenz an ihre Jugend mit dem Handy ihre alten Gameboy-Helden in der realen Welt suchen; dieses Abkulten der eigenen Vergangenheit, obwohl die erst ein paar Jahre zurückliegt. Wie gönne ich es dem Typen, vom Fahrer des Autos angebrüllt zu werden, ehe der wütend weiterrast in Richtung Stellplätze.
Vor der Schranke auf dem Boden ein Gulli. Zwischen den Gitterstäben, durchnässt, die Augen aufgerissen, halb im Schacht, halb an der Oberfläche, eine tote Ratte. Und plötzlich liegt genau da auch eine Kindheitserinnerung für mich. Ich denke an Splinter, die Ratte aus den "Ninja Turtles". Sofort habe ich den Titelsong im Ohr, Frank Zander, die 80er: "Immer auf der Lauer - und immer etwas schlauer."
Ein Hupen reißt mich aus der Sentimentalität. Das Auto kommt auf der Ratte zum Halten. Entgeistert sehe ich den Fahrer an - und merke gar nicht, dass ich im Weg stehe. Vollidiot, sagt er und fährt davon, geradewegs zu auf den Typen, der sein Pokémon sucht.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.07.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Der Oma-Trick

An einem Samstagmorgen in Neukölln. Es ist kurz vor neun. Eine Frau mit Blumenkohlfrisur zieht ihren Hackenporsche in entgegengesetzter Richtung zu einem Pärchen, das sich wohl in der Nacht gefunden hat. Zumindest in der jungen Frau kommen aber jetzt offenkundig Zweifel auf, ob die Entscheidung im Licht noch standhält. Er sucht Nähe, sie Abstand. Davon unbeeindruckt steht zwischen Lidl und Bankfiliale ein Obdachloser und klirrt mit dem Becher.
Eigentlich ein guter Platz, doch der Mann ist schlecht drauf. Er schaut auf den Wahlkampfstand vor sich. Zwei Omis mit randlosen Brillen, die eine lila Haare, beide AfD. "Scheiße", sagt er, als ich ihm Kleingeld gebe, "was wollen die hier?" Es ist schlecht fürs Geschäft. Dazu noch diese miese Masche, mit freundlichen alten Damen aufzufahren. Da ist man als politischer Gegner gleich gehemmt. Alte Frauen anschreien, wie sieht das denn aus. Der Oma-Trick.
Der Schnorrer jedenfalls ist jetzt auf Betriebstemperatur. Sein Hund steigt mit ein. Ein zweistimmiges Bellen gegen rechts. "Ich werd mit den Linken nach Marzahn gehen und mich schön bei den Faschos vor die Tür setzen." - "Wuff!" Der Mann lacht auf, zwei Reihen reines Zahnfleisch. "Ich mach mit", sage ich, eine Spur zu übermütig. Das findet er so gut, dass er mir was vom Tetra-Wein anbietet. "Ein andermal", sage ich, "lass dir den Tag nicht versauen." Wieder das zahnloses Lächeln, schiefer Blick zum Stand. "Jedenfalls wird mir nicht langweilig."

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 21.05.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Happy Meal

Im Erdgeschoss der Neukölln Arcaden an einem Samstag. Die Schlangen vor Sparkassenautomaten und Postschalter haben sich ineinander verheddert. Eine 50-Personen-Polonaise mit einem Ursprung und zwei Enden.
Dahinter ein McDonald’s, am Schalter ein Familienverbund, drei Generationen Hunger. Der Junge, vielleicht zehn, im Jogger und grauem Sweatshirt. Darauf steht Bronx, geschrieben: BRNX. Mutti trägt eine dieser Frisuren aus ihrer Jugend, also den Achtzigern, die so aussehen, als hätte jemand den Cesar-Hund aus der Fernsehwerbung blond eingefärbt und ihr auf den Kopf gesetzt. Dazu stilsicher: Leopardenprint- Oberteil, passender Gürtel, weiße Lederhose. Stiefel über der Hose. Oma sitzt auf dem Rollator, regungslos, Honecker-Brille, kein Retromodell.
Mutti kommt vom Fast-Food-Schalter. Auf den Tüten in der Hand steht Happy Meal, in ihrem Gesicht das Gegenteil. Oma wollte nur Pommes, keine Bulette. Ihr Blick sagt: Was habe ich bloß falsch gemacht? Mutti lädt den Weltfrust generationsübergreifend auf den Jungen ab: Finger weg, gegessen wird zu Hause. Und da geht’s jetzt hin.
Mutti bodychecked eine Schneise in die Polonaise. Oma hinterher: Sehen Sie nicht, dass ich behindert bin? Der Bronx-Junge fingert am Happy Meal. Und Mutti hat die Schnauze voll. "Schluss jetzt. Sonst war’s das mit Happy Meal." Die Drohung wirkt. Der Junge schmollt. Und die Polonaise sortiert sich neu.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 16.04.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Rausschmeißer

Samstagabend im Sandmann, Reuterkiez. Vom Tisch rechts neben der Tür hat man den besten Blick auf diese Weltklassekneipe. Ein schöner Dreischritt: Vorne am Tresen das menschliche Thekeninventar über 60 neben ein paar normalen Stammgästen unter 60. Im Zwischenraum die Hipster. Und im Billard raum das in sich geschlossene Biotop aus Kiffern und Kneipensportlern.
Nur einer schwebt an diesem Abend durch die Zonen. Sein Auftreten: eine Mischung aus Jimmy Page und Jerry García mit einer Prise Rainer Langhans. Graue Mähne, Bart, viel zu weit aufgeknöpftes Hemd, Hippie- Amulett um den Hals. Er geistert durch die Räume, sucht Blickkontakt. Wer den zu lange erwidert, bekommt Lebensweisheiten.
Er wirkt selbst hier, wo die Zeit, so gut es geht, angehalten wird, wie aus ihr herausgefallen. Ein Guru ohne Gläubige. Ein Mann ohne Mission. Bis irgendeiner ausfällig wird. Die Bardame zetert, der Guru kommt ungefragt zur Hilfe. Besänftigt, streicht mit seinen Gitarristenhänden dem Aufgebrachten über die Schulter. Er nimmt den Mann, der ihn um ein paar Köpfe überragt, an die Hand und führt in aus der Kneipe. Ein paar Minuten später kommt er wieder rein, blickt sich um, sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat seine Bestimmung gefunden. Mit dem Belohnungs- Weizen mäandert er wieder im Raum zwischen Theke und Tischen. Der Guru hat seinen Platz gefunden. Er ist jetzt Rausschmeißer.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.03.2016 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Finger in die Wunde

Freitagabend in den Sophiensälen. Im ersten Stock laufen auf Flatscreens Erfahrungsberichte von Menschen, die glauben, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Es geht um Sex, Vitrinen, Blut. Eine ganz normale Kunstausstellung an einem beliebigen Freitag. So ganz habe ich den Sinn noch nicht erfasst, da finde ich mich schon auf einer Liege wieder. Die brüchige Decke anstarren, während mir eine Wunde an den Hals geschminkt wird und sich Performer mit grünen Haaren und John-Lennon-Gedächtnisbrillen über mich beugen. Eine Art Vorspiel zum Aliensex?
Was in den Wänden der Sophiensäle normal erscheint, ist ein paar Stunden später in der U 8 ab Weinmeisterstraße eine Attraktion. Nur habe ich durch den ganzen Kunstkram und anschließenden Biergenuss völlig verdrängt, dass ich den Hals offen habe. Der Platz neben mir bleibt frei. Besorgte Blicke, Getuschel. Hä, warum eigentlich? Unangenehm! Ausstieg am Hermannplatz. Vor mir teilt sich die hineindrängende Menschenmenge. Dann die Spiegelung in der Scheibe des U-Bahn- Bäckers. Verdammt, was ist das denn? Ich fasse in die Wunde, Kunstblut am Finger. Die Leute umkurven mich großräumig. "Guck dir den besoffenen Spasti an", sagt einer. "Das ist Kunst!", rufe ich, Blut an Hals und Finger, und sehe damit ziemlich genau so aus, wie der Typ gesagt hat, völlig am Ende. Kunst, denke ich, du bockiges Pferd der Uneindeutigkeit. Für dich ist kein Raum hier am Hermannplatz.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 05.09.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Angelo

Freitagabend, kurz nach elf, Neukölln. Vor der Haustür steht ein Pärchen. Ich nicke zum Gruß, schließe die Tür auf, da tritt der Mann an mich heran. "Angelo?" Nö, sage ich, will weiter. Seine Hand an meinem Arm. Wo wohnst du? Hinterhaus. Welcher Stock? Vierter. Kennst du den Mann aus dem dritten Stock? Nein. Das Pärchen schaut mich ungläubig an. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Von einem Rennrad, im Internet gekauft, das sich als Schrott entpuppte. Jetzt wollen sie ihr Geld zurück, die Spur führt in mein Haus, zu Angelo. Das tut mir zwar leid, nur helfen kann ich nicht. Abgang. Im Hinterhof schließe ich mein Rad ab, da steht das Pärchen plötzlich auch dort, hinter mir durch die Haustür geschlüpft. Sie lächeln mich an. Was macht ihr hier? Wir checken nur die Lichter. Welche Lichter? Deine. Ich bin nicht Angelo, verdammt, ich heiße Dominik. Vorbei an den beiden gehe ich ins Haus, hinter mir höre ich Schritte, ich schaue hinunter. Das Paar kommt mir nach. Ich bin nicht Angelo, rufe ich. Gehe schneller, nehme jetzt zwei Stufen auf einmal. Keine Antwort. Ich schwitze. Stoisch stampfen sie auf den Stufen unter mir. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Panik kommt mir lächerlich vor. Aus dem Fenster der Blick in den Innenhof. Das Pärchen geht, na endlich. Da kommt jemand. "Angelo?", höre ich die beiden fragen. "Ihr schon wieder", sagt der Nachbar, "verpisst euch endlich." Dann geht er ins Haus. Unter mir höre ich die Tür ins Schloss fallen.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Huphass

Dienstagmittag, Hermannstraße, Ecke Flughafenstraße. Mit dem Fahrtwind auf dem Rad ging es gerade noch, jetzt aber, an der Kreuzung stehend, sengt die Sonne das Hirn zu Brei. Es wird grün. Und es hupt. Quäkend, nervig, aggressiv. Je wärmer es wird, desto häufiger hupt es auf Berlins Straßen. Der Freundin neben mir schwillt die Ader, 47 Kilo Wut klingt nicht nach viel, kann sich aber zu einem Tsunami der Verachtung hochschaukeln. Die Welle rollt, ich surfe mit auf dem Hasskamm. Also los, in die Pedale treten, dem hupenden Rollerfahrer nach. An der nächsten Kreuzung Dampf ablassen. Die Freundin: "Ey, hup mich nicht an, klar?" Der Rollerfahrer: "Ihr könnt mich mal!" Ich: "Du kannst uns mal!" Es wird grün, der Roller ab, hupend. Eine Schweißperle rinnt durch die Hassstirnfalten der Freundin. Nächste Ampel, nächste Konfrontation. "Das ist so asozial, was du da machst!" Es wird grün. Zum Abschied Stinkefinger aller Beteiligten. Wir biegen links ab in die Reuterstraße, der Roller ebenfalls. Vor meinem Haus halten wir, alle drei. Der Rollerfahrer steigt ab, guckt. Lacht. Und kommt auf uns zu. "Hallo Nachbarn! Tschuldigung, bin eigentlich nicht so aggressiv. Und selbst auch Radfahrer." Die Anonymität der Großstadt, in der Nachbarschaft nur die unmittelbarste Möglichkeit der Ignoranz bedeutet, sie löst sich gerade in Wohlwollen auf. Händeschütteln statt Stinkefinger. Grinsen statt Fluchen. Die Schweißperle auf der Stirn meiner Freundin rollt von der Hassfalte in die Lachfalte.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 15.08.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Durst

Samstagmittag, Wannsee, heißester Tag seit immer. Vorbei am Stadtbad zum richtigen See, Natur, unberührt. Denkste! Überall Badetücher, auf den meisten Menschen mit Bier. Sonnenbrandmotive zum Tribal auf dem Arm. Nicht mal ins Wasser kann ich flüchten, habe meine Badehose vergessen, und FKK ist nichts für meine Mutti ihren Jungen. Spaziergang also, die Gegend erkunden. Jede Einbuchtung besetzt, Handtücher als Grenze. Nach einer halben Stunde merke ich: Ich habe meine Wasserflasche vergessen. Der Wannsee ist an diesem Tag dicht wie Berufstrinker am Tresen, ein Geschäft hat aber noch niemand daraus gemacht. Kein Verkaufsstand weit und breit. Dafür ein kleines Häuschen am Wald, DLRG-Headquarter, auf der Terrasse Menschen beim Grillen. Habt ihr vielleicht ein wenig Wasser für mich? Nö, sagt einer und trinkt einen Schluck. Aber am Segelklub gibt’s was. Ab zu den Booten, durch ein Eisentor mit der Aufschrift "Nur für Mitglieder" zu einem Hausboot. Der Mann hinterm Tresen ist überrascht, jemanden zu sehen, im Kühlschrank Getränke satt. Drei Flaschen unterm Arm durch die Bucht zurück, vorbei an tausenden Sonnenanbetern. Jeder zweite fragt, woher ich die Getränke habe. Ich deute aufs Hausboot. Am Ende der Bucht drehe ich mich um. Der Steg zum Tor bevölkert von einer Horde Durstiger. Eben noch wie tot auf dem Badetuch, bewegt sich die träge Masse jetzt auf das Hausboot zu. Die Zombies vom Wannsee.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 11.07.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
B-U-L-L-E

Donnerstagabend, Karl-Marx-Straße, vor dem Spätkauf "Night Shop 44". Zwei Polizisten in Hundertschaft-Montur, Feierabend, endlich. Die Haare verschwitzt, den Helm in der linken Hand, rechts eine Zigarette. Neben den Neuköllner Nachtaktiven in zu kurzen Hosen sehen die beiden aus wie Robocops. Sehr müde Robocops. Hundertschaft, Scheißjob, einer muss ihn ja machen. Auftritt schwarzer Benz, schönes Auto, will gehört und gesehen werden. Vor dem Späti alle Parkplätze besetzt. Zweite Reihe parken ist Berliner Gesetz. Warnblinker an, Beifahrer springt raus, an den Polizisten vorbei. Die Miene unter den verschwitzten Haaren des einen Polizisten verfinstert sich. Er beugt sich runter, schaut durchs Seitenfenster den Fahrer an: "Du kannst hier nicht parken." "Komm schon, Bruder, ich bin gleich wieder weg." Der Polizist türkischstämmig, der Zweite- Reihe-Parker ebenfalls. Tiefer Zug an der Zigarette, funkelnde Augen: "Verdammt, ich bin nicht dein Bruder, nur weil ich ein Schwarzkopf bin. Ich bin ein Bulle, checkst du das? B-U-L-L-E!" Der Fahrer duckt sich weg, der rauchende Robocop sieht ihm fest in die Augen. Zwei stumme Sekunden vergehen, dann hebt der Fahrer die Hand: "Entschuldige, kommt nicht wieder vor." Er legt den Gang ein und ab. Der Beifahrer kommt mit Cola und Kippen aus dem Späti, sucht das Auto, sein Blick bleibt an dem Polizisten hängen. "Ich bin Bulle, verdammt." Das musste raus. Feierabend, jetzt aber, endlich.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.06.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Kaboom

Samstagabend, Schöneberg, auf ein Bier in die Möwe. Einmetersechzig holzvertäfelte Heimeligkeit. Drucke vom Hamburger Hafen. Eine Möwe, überlebensgroß, hängt von der Decke. Zum Bier gibt es den passenden Bierdeckel. Ein Platz zum Verweilen. Nur zum Rauchen muss man raus. Ich schlängele ich mich am Treseninventar vorbei in Richtung Ausgang. Schon leicht angezündet kann ich mein Feuer nicht finden. Vor der Tür eine kleine Menschentraube, da wird schon einer dabei sein. Der da mit dem Hut vielleicht. Wer Hut trägt, der raucht auch. Entschuldigung, hast du Feuer? Der Hut dreht sich um. Zuckt mit der Nase, sein ganzes Gesicht runzelt. Oh Gott! Helge Schneider! Jugendheld und Quatschvorbild. Neben ihm Sergej Gleithmann, der Pina Bausch des deutschen Jazztanzes, Riesenbart zur Halbglatze. Ich merke, wie sich mein Gesicht zu einer grenzdebilen Maske verzieht. Feu-er? Ich stottere. Helge greift in die Hosentasche, zieht seine Hand hervor und lässt den Daumen hochschnellen. "Kaboom", sagt er. Vor mir sein Finger, nur sein Finger. Tu es nicht, denke ich noch, als ich mich, Kippe im Mund, zu Helges imaginärem Feuerzeug hinabbeuge und an meiner Zigarette sauge. Es dauert ein paar Sekunden, bis Helge den Daumen zurückzieht. Bitte schön. Danke, Helge. Und dann verschwinden sie in die Nacht, er und Sergej. Ich schaue ihnen nach, dem Hut und dem Bart, die Zigarette unangezündet zwischen den Lippen. Jemand tippt mich an: Hast du mal Feuer?
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.03.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Laus Kinskis Katze

Freitagabend, 19 Uhr, Karl-Marx-Straße. Feierabendverkehr trifft auf Biervorratskäufer, Vorglüher auf Kleinfamiliengroßeinkäufer. Ein Pulverfass. Ich ziehe einen Koffer mit kaputten Rollen über das Kopfsteinpflaster, sehe also aus wie der Neu-Berliner/Tourist, der den Kiez kaputtmachen will. Die Neuköllner danken es mir mit Verachtung. Ganz anders die Reaktion auf meine Begleitung, Künstlername Laus Kinski, die mich davon überzeugt hat, ihr beim Umzug in ihr neues Atelier zu helfen. Mit der Bahn am Freitagabend. Ihre Katze Motte trägt sie wie ein Baby vor die Brust geschnallt. Alter, wie süß!
Mit der U7 runter zum Ring. Beim Ausstieg trifft der Rollkoffer versehentlich das Schienbein eines Schlechtgelaunten. Seine Fratze der rechtmäßigen Empörung verwandelt sich sofort in ein grenzdebiles Grinsen, als er Laus Kinski und Motte erblickt. Innehalten, Katze streicheln, Babylaute imitieren. Alles vergeben und vergessen. Mit der S46 nach Schöneweide. Jugendliche mit Ghettoblastern und Wodka- Energy-Mischungen. Hasserfüllte Blicke auf den Rollkoffer, früh gelernt. Dann miaut Motte. "Alter, wie süß!"
Diese Katze, da bin ich mir sicher, sollte bei den nächsten Verhandlungen im Ukraine-Konflikt um den Tisch streunen. Eine Schale Milch auf den Boden, schnurren lassen, fertig. Wer den Rollkoffer- Konflikt auf Berliner Straßen befrieden kann, der schafft alles.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 03.01.2015 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
"Och ..."

Niemetzstraße Ecke Saalestraße, Neuköllner Diaspora nahe dem S- Bahnhof Sonnenallee. Die Kneipe an der Ecke mit Leuchtschriftzug: Tiefpunkt. Ein Schnaps: ein Euro. Davor auf der Straße eine Couch. Durchgesessen und durchnässt. Die Trostlosigkeit des Berliner Winters als Stillleben. Doch was zählt, sind die inneren Werte. Rein in die Kneipe gegenüber vom Tiefpunkt. Um die Theke herum eine Traube Ganztagstrinker mit Raucherfahrung. Prösterken, auf uns.
Die Kälte da draußen und die Angezündeten im Innern, getrennt nur durch eine Scheibe. Doch dann, für einen Moment, berühren sich beide Welten. Torsten, Schnitzelhände zur Nassrasur, regt sich auf. Urplötzlich, keiner weiß, warum. Er zetert, dann ein schlimmes F-Wort. Stille. Gaby, gerade noch Herzbardame, findet das nicht gut. Raus, brüllt sie. Torstens leerer Blick füllt sich mit Unverständnis. Das darf man doch wohl noch sagen. Der Unsatz des Jahres 2014. Es hilft nichts. Torsten muss weg, da sind sich alle einig. Er tritt vor den Stehtisch - ein Baum von einem Mann kurz vor der Rodung. Die Schnitzelhände jetzt vor dem Körper, zur Ruhe mahnend. Ein Geistesblitz durchzuckt den glasigen Blick. Okay, sagt Thorsten, dann sag ich eben Fötzchen. Stille, Blick auf Gaby. Die kippt Klares. Lacht. Och, sagt sie, das find ich jut. Prösterken, auf uns, diesen Moment. Mach ruhig noch einen Kurzen zum Bier. Gegen die Welt da draußen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 04.10.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
100 000 nackte Jungs

Sonntagvormittag, Neukölln, Reuterstraße. Das Grau des Eckhauses geht nahtlos in den Himmel über. Zu viel Beton, zu wenig Liebe. Es gibt Sonntage, an denen man lieber zu Hause bleiben sollte. Jetzt kämpft das verkaterte Gemüt gegen die Realität. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht eine Frau, Mitte 40 vielleicht, die kurzen Haare liegen schlaff auf dem Schädel. Sie steht an der Fußgängerampel, wartet wohl, dass es grün wird. Sie zieht ihren rechten Schuh aus, dann den Socken, steht da mit einem beschuhten Fuß und einem nackten. Die Ampel springt auf grün, doch die Frau geht nicht, sondern vollendet ihr Werk. Linken Schuh ausziehen, Socken hineinstecken. Es wird rot, es wird grün. Ich stehe einfach nur da, die Frau kommt auf mich zu, visiert mich an. Dann sagt sie: "Ich habe schon 100 000 Jungs nackt gesehen. Herzlichen Glückwunsch." Sie geht, nackte Füße auf nacktem Asphalt, an mir vorbei und weiter den Gehsteig entlang. Dabei habe ich noch so viele Fragen. Alles an diesen beiden Sätzen fasziniert mich. Allein die Zahl. 100 000! Wie viele Jungs sind das wohl pro Jahr? Rechnet man es aus, kommt man auf 2222. Sechs pro Tag, wenn man die Dame mit den nackten Füßen auf 45 Jahre schätzt. Was aber sollte das mit dem Glückwunsch? Bin ich einer von ihnen? Eine junge Frau kommt auf mich zu, schaut mich an - und lacht. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich, dass mein Hosenstall offen steht.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 30.08.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Capri-Sonne

Samstagabend in einem Späti auf der Karl-Marx-Straße. Der Laden stinkt, gestern Nacht hat einer vor die Theke gekotzt. "Hab schon gewischt", sagt der Besitzer, dauert jetzt ein paar Tage, war ziemlich viel, kann man nichts machen. Ein junger Mann kommt herein, barfuß, Wuschelkopf zum Flaumbart, er kauft Zigaretten und Bier. Sein Blick fällt auf die Capri-Sonne neben der Theke. Orange, der Klassiker. Er greift zu, der Verkäufer lacht. Was denn so witzig sei, fragt der Wuschelkopf. Nichts, sagt der Spätiverkäufer und schüttelt den Kopf. Als der Kunde gegangen ist, nimmt der Verkäufer eine Capri-Sonne in die Hand. "Früher haben die sich hier wahnsinnig gut verkauft. Das war das Einzige, mit dem man Tili runterspülen konnte." Tili, kurz für Tilidin, ist ein Schmerzmittel, das bei vielen jungen Türken in Neukölln sehr beliebt war. Es hieß, dass man davon aggressiv würde. Stimmt nicht, sagt der Verkäufer. Es war beliebt, weil es wenig kostete und man in Prügeleien keine Schmerzen mehr spürte, wenn einen die Faust des Gegners traf. Das einzige Problem war der Geschmack. Tilidin ist extrem bitter, wirklich widerlich. Aber in einem Päckchen Capri-Sonne sind sechseinhalb Stücke Würfelzucker enthalten, mehr als in Fanta. Genug, um den Geschmack von Tilidin zu mildern. Seit Anfang 2013 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz, der Straßenpreis ist in die Höhe geschossen. Und der Verkauf von Capri-Sonne abgesackt.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 31.05.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Landeier unter sich

U-Bahnhof Alexanderplatz, Mittwochabend, Warten auf die U5 Richtung Hönow. Auf dem Gleis gegenüber hält ein offener Wagen, Menschen mit gelben Helmen applaudieren. Endstation der Tour im U-Bahn-Cabrio durch Berlins Unterwelt.
Eine Gruppe Touristen jenseits der sechzig steigt aus, Helme ab. Drei Frauen in Steppjacke und kleinem Lederrucksack, die Männer passend in beige-grauem Altherren-Understatement. Die Frauen fragen: "Ist das hier richtig, Richtung Hönow?" Die abgeklärten Großstadtzwanziger am Gleis nicken. Die alten Herren sagen: "Hab ich doch gesagt." Szenen dreier Ehen. Alles klar also? Mitnichten. Eine will nicht. "Das ist falsch hier, das weiß ich, ich war mal hier." "Wenn du nicht mitkommst, Petra, dann bleibst du hier." Die Bahn fährt ein, Petra immer noch in Opposition: Nee, ist falsch. Drei Herren und zwei Damen in der Bahn, Petra davor, standhaft. Nein, nein, nein.
Die Gruppe wird nervös. Die Frage ans Abteil: "Ist das richtig hier, Richtung Hönow?" Gelächter, Überheblichkeit. Petra steigt ein, unter Protest. Die Stimme aus dem Off: "Richtung Hönow, bitte einsteigen." Erleichterung. Dann Petra an alle: "Entschuldigung, so ist das, wenn Landeier in der Großstadt sind." Das sitzt. Kein Gelächter mehr, die Köpfe werden eingezogen, ein paar sogar rot. Ein Abteil voller zugezogener Landeier aus Bottrop und Bielefeld, gerade noch so cool, schämt sich jetzt. Nur Petra lacht. Sehr laut.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.03.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Tok, tok, tok

Kottbusser Damm, an einem Sonntagvormittag. Erste Radtour nach dem Winter, der keiner war. Ein Krankenwagen drängt sich vorbei, reiht sich ein in eine Blaulichtkolonne, die am Kottbusser Tor unter einer Ampel endet. Fünf Meter darüber, auf einem Vorfahrtsschild, steht eine Frau, etwa dreißig, recht schlank und sehr nackt. Bekleidet nur mit einem Hammer in der Rechten. Ein Polizist, Kopf nach oben gereckt, in der Nackenfalte reflektiert der Schweißfilm. "Kommen Sie runter?", fragt er. Die Antwort von oben: Tok, tok, tok.
Mit dem Hammer schlägt sie auf die Ampel. Die Menschentraube hat die Smartphones justiert. Und wieder: Tok, tok, tok. Als wolle sie sagen: Die Ampel muss weg! Zwei Berufstrinker nicken anerkennend: "Nicht schlecht." Darauf ein Sterni.
Es kracht, ein Wohnmobil, Kennzeichen HSK, ist in einen Berliner Twingo gefahren. Die Beifahrerin, Mitte 60, schimpft mit dem Gatten. "Wo du wieder deine Augen hast." Von oben strahlt weiterhin der weiße Protest-Po. Wofür oder wogegen sich der Protest - um einen solchen handelt es sich doch wohl - richtet, bleibt unklar. Aber solange sie da oben steht, im Kreisverkehr, hat sie nicht verloren. Eine Art Viktoria, die Goldelse in Weiß, eine Kreuzberger Variante der Siegessäule. Die Nackte hämmert weiter auf die Ampel ein, dem Polizisten rinnt der Schweiß ins Hemd. Alle Fotos sind gemacht, das Bier ausgetrunken. Ein Sonntagvormittag am Kotti, der nackte Wahnsinn.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 01.02.2014 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Sei Wedding!

Café Barrikade, Ecke Pankstraße. Aus den Boxen plärrt Punk, die Scheiben beschlagen. Trinker am Tresen, Studenten hinter der Süddeutschen. Im Hinterzimmer Kicker und Billard. Das Schild mit der durchgestrichenen Marihuanapflanze verschwindet im Kiffer-Qualm. Auf dem einzigen Stuhl sitzt einer, der mit Härterem zu kämpfen hat. Zittert, schwitzt und friert. Daneben steht sein Kollege mit Riesenjoint, erzählt, was falsch läuft in der Welt. Das Zittern des anderen scheint Bestätigung genug.
Am Kicker lehnt mein Freund, nennen wir ihn L. Er ist Weddinger und macht das öfter: lädt mich ein, um mir seine Welt zu erklären. Seine Welt: Wedding. Der Wedding bleibt hart, der Wedding bleibt rot. So geht das immer. Gerade hat L. Fahrt aufgenommen, da platzt der Riesenjoint in den Monolog. "Wollt ihr ein Handy kaufen? Hab’ ich über." Er zieht ein altes Sony Ericsson aus seiner Brusttasche. Wir verneinen. "Gebt ihr mir ein Bier aus?" Ich halte ihm meins hin, hoffe, dass er ablehnt. Er greift zu. Ob wir auch eine Zigarette hätten, fragt er. L. hält ihm den Tabak hin. Der Typ schaut auf das Bier in der einen Hand, den Joint in der anderen. L. dreht ihm eine. Das eben angebotene Handy klingelt. Der Typ geht ran, nimmt die Zigarette und geht ab. "Sorry Jungs." Am Tresen trinkt er mein Bier aus, raucht die Kippe von L. und brüllt Beleidigungen gegen Hertha und die Welt ins Handy. Wedding bleibt Wedding.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 07.12.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Endlich zuhause

Aus dem Hamburger Exil zurück in Berlin. Heimatgefühle, endlich wieder offene Pöbeleien statt hanseatischer Ignoranz. Ankunft am Südkreuz. Die Ringbahn natürlich verspätet, ich beschwere mich am Schalter. Auch noch am falschen, dem von der Deutschen Bahn. Sichere Nummer, bestimmt werde ich angeschnauzt, wie sonst im Bus, wenn ich eine Einzelfahrkarte mit einem Zwanziger bezahlen will. Der Mann am Schalter schaut auf, hebt die Hände und dann - Überraschung! Er entschuldigt sich. Was ist hier los? Soll ich ihn für das schlechte Wetter verantwortlich machen? Die Bahn kommt, ich lasse die anderen Fahrgäste nicht aussteigen, drängle mich als Erster hinein. Jetzt aber, denke ich, volle Berliner Breitseite, ich bin bereit. Doch nichts geschieht. Die Bahn ist voll, kaum ein Platz frei. Trotzdem stelle ich meine Tasche auf den Nachbarsitz. Ein Arbeiter steigt zu, sieht den fast freien Platz neben mir. Er bleibt stehen, kein Wort. Verdammt, denke ich, was soll ich denn noch machen? Einfahrt S-Bahnhof Sonnenallee. Aus dem Fenster sehe ich den Dönerladen, die S-Bahn-Klause. Die Türen gehen auf. Direkt vor mir ein schon ordentlich angezündeter Obdachloser. Als ich aussteige, glotzt er mich an, wie den Typen, der ihm das letzte Sterni vor der Nase weggekauft hat. Er holt tief Luft und brüllt los: "Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mir gerade noch gefehlt. Wichser!" Endlich, denke ich, endlich zuhause.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 12.10.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Ungleicher Kampf

Alt-Neukölln gegen Neu-Neukölln vor den Arcaden an der Karl-Marx- Straße. Ein junger Mann, knapp zwei Meter lang - mit Hipster-Insignien: Tight-Jeans zu zu tief Ausgeschnittenem, Bart und Jutebeutel - steht an der Ampel. Ein Mann, etwa 40, Typ Malocher, verschwitzt, Filterlose im Mundwinkel, rennt auf ihn zu: "Verdammt, du Hurensohn, ich hab gesagt, geh da weg!" Der Akzent: osteuropäisch. Der Auslöser für den Streit: ungewiss. Gewiss nur, dass es hier gleich knallt, und zwar richtig. Der Alt-Neuköllner packt den Neu-Neuköllner am Kragen. Er muss hochschauen, zwei Kopflängen trennen die beiden Männer. Der Alte schlägt aufwärts, dem Jungen mit offener Hand ins Gesicht. Der Junge, perplex, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Nichts in seinem Leben in, sagen wir, der ostwestfälischen Provinz scheint ihn darauf vorbereitet zu haben, hier am helllichten Tag auf die Schnauze zu kriegen. Das hier ist keine Klopperei mit dem Jan-Lennart, damals, im Herforder Kindergarten, Ende der 80er. Keine Gewalt, das merkt er jetzt, während die Schellen auf ihn einprasseln, ist auch keine Lösung, zumindest nicht sofort. Aber er steht es durch, stoisch, bis der Alte von ihm ablässt. Der Neu-Neuköllner geht weg. Schaut sich noch einmal um. Ein paar Jahre noch, scheint sein Blick zu sagen, dann sind hier die letzten Wohnungen kernsaniert. Alt-Neukölln wird es dann nicht mehr geben.
Dominik Drutschmann


Erschienen am: 25.05.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Zurückgeschissen

Mittwochabend, Neukölln, Rixdorf. "VoKü" steht mit Kreide auf der Tafel vor der linksalternativen Sperrmüllmöbelkneipe. Zwei Euro für eine warme Mahlzeit. Kartoffeln an Karotten-Paprika-Pampe. Die Bierbänke ächzen unter der Last der studentisch-alternativen Hinterteile. Platz findet lang nicht jeder. Die mampfende Masse säumt den Gehweg bis zur Galerie, die vor einiger Zeit zwei Häuser weiter aufgemacht hat. Im Fenster der Kneipe hängen Poster: "Homophobia kills", "Kein Ort für Nazis".
Gegenüber ein Seniorenheim. Rentner schauen durch gehäkelte Gardinen auf das junge Treiben. Eine alte Frau tritt heraus, den Dackel im Anschlag hinter sich herziehend. "Verdammt noch mal", brüllt sie, als sie sich an den Billig-Essern vorbeiquetscht, "wir müssen hier durch!"
Niemand rührt sich. Der Gesichtsausdruck der Frau rangiert irgendwo zwischen Verachtung und Hass, der Dackel schnappt nach einer Kartoffel. Sie gehen um die Ecke, ein paar Leute holen sich Nachschlag. Nach einigen Minuten kommt Frauchen samt Dackel zurück, gelassener jetzt, erleichtert, als sei ihr Plan aufgegangen. Ein Blick in die Straße, aus der sie kamen, und die Vorahnung wird Gewissheit: Ein frischer Haufen Hundescheiße thront wie ein Mahnmal mitten auf dem Bürgersteig. Seit Mittwochabend, 21.30 Uhr, wird zurückgeschissen.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 13.04.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Fenster zum Hof

Neukölln, vierter Stock, Vorderhaus, Blick nach hinten raus. Zwischen vier Häuserwänden - zu viel Beton, zu wenig drüber - erwacht das, was man nicht mehr für möglich gehalten hat. Der Frühling. Ein Blick aufs Thermometer, neun Grad. Alles über null Grad ist Frühling. Berlin war lange eine geteilte Stadt, ist es noch heute. Nicht mehr durch eine Mauer, doch durch die Jahreszeiten. Im Winter ist alles DDR, Plattenbau und grau. Im Sommer supergeil, Party und Spree.
Also, Fenster auf, Frühling rein, Winterdepression raus. Die von gegenüber hatten die gleiche Idee. Musik ertönt. Bonnie Tylers "Total Eclipse of the Heart". Die aus dem zweiten Stockwerk schießen zurück. Drum and Bass. Zwischen zwei wummernden Basssalven schmalzt Bonnie Tyler: "And I need you now tonight / And I need you more than ever!" Irgendwo brüllt ein Kind. Im Hinterhof verliert eine Bierflasche den Kampf gegen die Betonwand.
"Schnauze", brüllt einer in den Soundteppich. Der Bonnie-Tyler-Fan schreit zurück. "Halt’s Maul!" Jetzt kommt mir allmählich die Erinnerung. Frühling in Berlin, das bedeutet Kampf. Kampf um den öffentlichen Raum. Kampf um die Musikhoheit im Hinterhof. Bonnie Tyler bäumt sich ein letztes Mal auf: "But now there’s only love in the dark / nothing I can say / a total eclipse of the heart." Ich schließe das Fenster, ziehe die Vorhänge zu. In sechs Monaten, denke ich, ist der Spuk wieder vorbei.

Dominik Drutschmann


Erschienen am: 23.02.2013 ; Rubrik: FÜNF MINUTEN STADT
Total ausgerastet

Donnerstagmorgen, 9 Uhr, krachendes Erwachen. Trillerpfeife, Megafon, Sirene. Ein Blick aus dem Fenster - Kreuzberg: Lausitzer, Ecke Wiener Straße - und die Gewissheit: Demo. Auf beiden Seiten der Absperrung die Krieger für die Schlacht gerüstet. Und ich will nur nach Hause, nach Neukölln, Rixdorf. Vom Kottbusser Tor mit der U8 zum Hermannplatz, dann den 41er. Jetzt aber: Rein ins Getümmel.
Aus dem schwarzen Block hört man etwas von Scheiß-Gentrifizierung, Steine fliegen nicht, nur eine kleine Wodkaflasche. Angeheitert schmeißt sich’s besser. Die Passanten retten sich mit mir in die U-Bahn. Hermannplatz, Umsteigen. Zwei junge Studentinnen haben den gleichen Weg. Die eine zückt ihr Handy. "Ja, war krass", sagt sie ins Telefon. "Die Bullen sind total ausgerastet, ohne Grund, Tränengas und alles." Die Freundin nickt stumm. Bestätigung. Dass die Demo da gerade wirklich krass war. Und sie mittendrin.
"Hast du mich im Fernsehen gesehen?", fragt sie ins Handy. "Ich habe mich extra auf eine Säule gestellt." Nee? Na ja, schade. Themawechsel, irgendwie. Sie, die Freundin am Telefon, müsse unbedingt mal die neue Wohnung anschauen. Ein Zimmer, Nähe Weserstraße, nicht ganz billig, 400 Euro, aber "so, so schön". Mit abgezogenen Dielen. Total toll.
Schade eigentlich, denke ich, dass ich die Wodkaflasche nicht aufgehoben habe. Ich hätte jetzt so gerne etwas, um es zu schmeißen.

Dominik Drutschmann